Hunter S. Thompson und die fiktive Wirklichkeit
Autor: Walter Hess
Manchmal erhält man von der Existenz irgendeiner Geistesgrösse erst dann Kenntnis, wenn sie gestorben ist. Das ist eine traurige Sache für alle Lebenden beziehungsweise Überlebenden.
Mir erging es mit dem amerikanischen Autor und Journalisten Hunter S. Thompson so, der sich am 20. Februar 2005 in seinem Wohnort Woody Creek bei Aspen im US-Bundesstaat Colorado im Alter von 67 Jahren erschossen hat. Er galt als „Kultschreiber der Hippie-Bewegung“, der mit einer besonderen Form des fiktiven Journalismus bekannt geworden ist, dem so genannten „Gonzo-Journalismus“, einer exzentrischen, anderen Art von Journalismus, gemischt mit Schimpfwörtern und Polemik. Der 1. Gonzo-Artikel im Sportmagazin „Scanlan’s Monthly“ bestand aus unbearbeiteten Notizen, weil Thompson es nicht geschafft hatte, den verarbeiteten Text rechtzeitig abzuliefern. Er und seine Anhänger gingen bei ihrem Schreiben davon aus, dass die echte Wahrheit im Bereich zwischen Fakten und Fiktion zu finden sei.
Ich habe mir nach dem Studium der verschiedenen Lebensläufe, welche in den letzten Tagen in den Medien aufgetaucht sind, sein Buch „The Rum Diary“ beschafft und inzwischen auch gelesen, eine sauber editierte Ausgabe aus dem Blumenbar Verlag, München, welcher zur Verlagsgruppe Random House gehört. Das Buch ist 2004 erschienen.
Der Roman spielt in der Karibik, in Puerto Rico; die beschreibenden Geschichten mit persönlichem Ansatz um Tagediebe und Investoren, Korruption, Tourismus usf. sind eigentlich belanglos. Das mit jahrzehntelanger Verspätung herausgegebene Buch lebt davon, dass darin das Milieu auf dem Inselparadies im Winter 1958 gnadenlos subjektiv und nuanciert geschildert ist, ein Qualitätsmerkmal. Es ist ein gepflegtes Werk, in der Ich-Form (Blog vom 6. Februar 2005) geschrieben: „Ich ging ein Stück zum Strand vor und schaute mich um. Plötzlich verspürte ich den Drang, mich nackt auszuziehen und ins Wasser zu laufen.“
Vielleicht war Thompson, der gern Whisky in grösseren Mengen und angeblich auch Marihuana konsumierte, einfach ein sprachbegabter Tagebuchschreiber, ein Blogger, wie man heute sagen würde. Auch wenn einiges im benebelten Zustand geschrieben worden sein sollte, wie man annehmen muss, als besonders fiktiv oder beduselt erscheint mir das erwähnte Buch mitnichten. Natürlich gibt es in jeder Erzählung oder jedem Roman Fiktionen, das heisst, persönliche Erlebnisse werden in Form gebracht und mit frei Erfundenem oder Angepasstem aufgemöbelt, so dass sich ein rundes Ganzes ergibt, das man gern liest. Der Autor setzt die Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken, malt die Farben, wie es ihm gerade gefällt.
Das ist zweifellos auch bei Thompson der Fall. Eine gepflegte Ausdrucksweise ist bei ihm überall im Buch anzutreffen, auch wenn der Verfasser gelegentlich fürchterliche Kater gehabt haben muss, wie anzunehmen ist. Wieviel vom literarischen Glanz auf Übersetzer (Wolfgang Farka), Lektoren und Korrektoren zurückgeht, ist in solchen Fällen nicht auszumachen.
Das Leben ist oft nicht reichhaltig und farbig genug, um Stoff für einen Roman zu liefern, bei dem die Leser bei der Stange bleiben. Aber wenn einer Journalist ist und sich wie Thompson (1966) mit „Hell's Angels" (Romantitel) oder Begebenheiten wie „Fear and Loathing in Las Vegas“ (Angst und Schrecken in Las Vegas, 1972, ebenfalls ein Romantitel) herumschlägt, ist ausreichend Stoff garantiert.. Der so genannte „King of Gonzo“ − in den USA ist man bald einmal ein Held oder ein König – beschrieb nicht nur, er kritisierte in seinen Romanen als teilnehmender Beobachter auch die amerikanische Gesellschaft, unter anderem durch seine drastischen Schilderungen der eigenen Drogentrips und Grenzerfahrungen. Damit schuf er ein Stück Realität. Sie wird der Gegenkultur zugeordnet, weil sie der Wahrheit verpflichtet ist, sich also nahe bei der Wirklichkeit befindet, so wie sie ein Individuum sieht und erlebt, wenn es ausgeflippt ist. Ohne die Wirklichkeit gehts nirgends, auch in der Normalkultur nicht, zumal in den kühnsten Phantasien oft nicht auszumalen ist, was diese Realität zustande bringt.
Wahrscheinlich kam sein anarchischer Gonzo-Stil erst später, nach dem Rum-Tagebuch, zum Tragen, etwa in seinen Kolumnen, welche er für die Website des Sportsenders ESPN verfasste. Darin wütete er gegen Baseball und gestörte Rennfahrer mit ihren Nascar-Rennen ebenso wie gegen die Bush-Doktrin und die damit verbundene Verdummung Amerikas.
Damit hat Thompson, der immer mit Fliegerbrille und Zigarettenspitz als Markenzeichen auftrat, bereits eine Art Bloggen betrieben, das Schreiben in vollkommener Unabhängigkeit aus persönlicher Anschauung von innen heraus. Er nahm kein Blatt vor den Mund und nannte etwa den früheren republikanischen US-Präsidenten Richard Nixon einen „Lügner, Feigling und Bastard. Ein mieser Ganove und ein gnadenloser Kriegsverbrecher“, wahrscheinlich, weil Nixon die Bombardierung des schon weitgehend zerstörten Vietnam fortgesetzt und 1970 noch Truppen nach Kambodscha gesandt hatte. Thompson verunglimpfte Nixon noch zu einer Zeit, als die meisten Kommentatoren dessen politisches Erbe in einem wesentlich milderen Licht erstrahlen liessen.
Auch dies hat wenig mit Fiktion zu tun. Manchmal aber, so scheint es, ist das Aussprechen des eigenen Empfindens oder Schreiben im Klartext tatsächlich die Gegenkultur zum üblichen beschönigenden Verhalten im normalen, von Anpassungen und Unterwerfung geprägten Alltag.
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