Wie steht es um die Naturnähe von naturnahen Gärten?
Autor: Walter Hess
Genau dort, wo die Natur anfängt, in Küttigen AG am Jurasüdfuss unterhalb der Staffelegg (Bezirk Aarau) nämlich, erklärte am Freitagabend der Aargauer Ökologe Heiner Keller, was das denn sein könnte: Ein naturnaher Garten.
Die Küttiger Natur, wenn man sie gewähren liesse, wäre dort schlicht und ergreifend ein Wald, wie es ihn gewissermassen als Kopfbedeckung des Küttiger Hausbergs, der Achenberg heisst, noch gibt. Die naturbelassenen Wälder wären Urwälder. Sie brauchen keine Forstwirtschaft. Das wäre unseren Breitengraden überall so. Der Umkehrschluss des studierten Biologen und Zoologen Keller: Wo nicht mehr Wald ist, muss man immer „nosche“ (tätig sein, etwas machen, roden), damit nicht wieder Wald entsteht.
Im oberen Teil des Achenbergs wurde dieses „Nosche“ unterlassen, dort gibt es noch Natur. Um unteren Teil des Achenberg-Südhangs werden seit dem Jahr 1560 Reben angepflanzt und betreut, und demnächst soll dort noch eine landwirtschaftliche Aussiedlung entstehen. Der Achenberg sei biologisch wesentlich interessanter als das Matterhorn, sagte der Referent zum Küttiger Publikum, das sich in aller Bescheidenheit darüber gefreut haben mag, das Ansehen von Zermatt in den Achenberg-Schatten gestellt zu haben.
Der Wald wird oft von der Natur selber umgelegt: Wie am 2. Weihnachtsfeiertag 1999, als der „Lothar“ kam, so brechen immer wieder Stürme herein, die für eine Neubelebung sorgen. Die wissenschaftliche Forschung habe 5 Jahre gebraucht, um endlich, endlich festzustellen, dass die Natur mit solchen Ereignissen, die Keller nicht als „Katastrophe“ zu bezeichnen wagte, selber fertig werde – Keller hat entsprechende Publikationen schon Anfang 2000 verfasst, unter anderem in der damals von mir geleiteten Zeitschrift „Natürlich“. Wir haben anschliessend immer wieder dazu aufgerufen, nicht unnötig in der Natur herumzupfuschen, zumal das mit hohen Kosten (manchmal mit Helikoptern) abtransportierte Holz ohnehin kaum gebraucht wurde.
Unablässig trifft die Natur unter der Überfülle an selber produzierten Samen-Individuen eine unerbittliche Auslese, und dabei entstehen neue gesunde Wälder. Wenn aber Baumschulen und Förster höchstpersönlich selektionieren, dann erhalten schnellwüchsige und gerade wachsende Bäume den Vorzug. Die Labilität ist dann vorprogrammiert. Die Natur würde nach intelligenteren, weitsichtigeren Auswahlkriterien vorgehen, versteht sich, da sie nicht ihre vordringliche Aufgabe darin sieht, die Forstkassen im Eiltempo zu füllen.
Ein Hausgarten hat, wie sich aus dem Gesagten ergibt, nicht mehr viel mit Natur zu tun, auch wenn er als „naturnah“ gilt – er ist doch meistens ziemlich weit von einem Wald entfernt. Den Hausgarten-Normalfall beschrieb Keller ebenso reduktionistisch wie einprägsam so: „Die Kartoffelstauden müssen so bald wie möglich hoch ins Kraut geschossen sein. Unkraut wird nicht toleriert. Und im September muss alles zusammengeräumt sein.“ Dazwischen wird noch aus vollen Säcken gedüngt, obschon heute der Dünger vom Regen aus der Luft ausgewaschen wird. Diese natürlich gewordene Form von Überdüngung ist übrigens ein grosses Problem für die Artenvielfalt.
Keller betonte immer wieder, dass die Artenvielfalt auf mageren (stickstoffarmen) Böden am grössten sei – auch diese werden reich bewachsen. Er ist kein Freund des Humusierens, sondern schon eher des Abhumusierens. Der umgekehrte Fall sind die überdüngten Wiesen, auf denen vor allem der Löwenzahn (einheimischer Mundart-Ausdruck: „Säustöcke“) und kaum noch Frühlingsschlüsselblümchen gedeihen. Und bald einmal weiss niemand mehr, was man mit dem Gras machen soll. Die modernen Hochertragskühe brauchen Kraftfutter, um die Milchschwemme aufrechterhalten zu können. Schweine und Menschen fressen auch kein Gras, wenn nicht alles täuscht.
Im naturnahen Garten wünscht man sich vielfältigere Verhältnisse. Und der nach solchen Kriterien gestaltete Erholungsraum sollte eine Beziehung zum Haus, zur Landschaft und zur Geologie haben. Man sollte ausschliesslich mit Material aus der Gegend arbeiten und nicht all den „Normpfupf“ (Keller) einsetzen, wie ihn der Handel anbietet. Auf einem Mergelplatz oder einem anderen „naturbelassenen“ Platz ist die Nutzung die beste Pflege: „Machen Sie eine Party!“, forderte Keller die Zuhörerschaft auf, „falls Sie nicht jäten wollen“. Doch mit Gärten allein sei die Natur nicht zu retten, fügte er noch bei, es brauche auch Wiesen, Sümpfe, Wälder usf. Und wohl auch nicht allein mit den bunten Streifen aus auffallenden Blumen wie Margriten und Karden, welche die Bauern an den Feldrändern anpflanzen, um Umweltbewusstsein augenfällig zu markieren. Insgesamt braucht es die ganze Vielfalt (im Aargau leben noch etwa 1400 einheimische Wildpflanzen). Allerdings schreite das Bauernsterben noch rasanter voran als das Artensterben, was selbst auf die Orchideen zutreffe.
Das explosive Wachstum, wie es gerade im Frühling zu beobachten sei, mache Angst, und viele Menschen fühlen sich bemüssigt, alles drunten zu halten (einzukürzen), ständig gegen die Natur anzukämpfen. Zumindest sollte es wenigstens soweit kommen, dass nur abgeschnitten oder ausgerissen wird, was man kennt – sonst reisst man vielleicht eine seltene Art aus. Das wäre unverzeihlich.
Der Lichtbildervortrag fand im Küttiger Kulturzentrum Spittel auf Einladung des Natur- und Vogelschutzvereins Küttigen-Rombach statt. Der Präsident, Markus Wipf, umrahmte das Programm auf sympathische Art mit ökologischem Weitblick. Der Verein hilft tatkräftig mit, Wildpflanzen zu verbreiten, diesen einen Lebensraum zu verschaffen, und trägt sehr vieles zur ökologischen Weiterbildung der Bevölkerung bei.
Küttigen als Nachbardorf von Aarau darf als umweltbewusste Gemeinde mit ausgesprochenem Sinn für Natur- und Gartentraditionen bezeichnet werden. Dort werden noch heute die berühmten Chüttiger Rüebli (Küttiger Karotten) gepflegt und auf dem Markt in Aarau angeboten, ein schmackhaftes, währschaftes Wurzelgemüse. Dies bewog Heiner Keller zu dieser hypothetischen Feststellung, die für den Verlauf der Weltgeschichte von Bedeutung ist: „Wenn Eva eine Küttigerin gewesen wäre, hätte sie den Apfel nach Aarau gebracht, und wir würden heute noch im Paradies leben.“
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PS. Heiner Keller wird noch im laufenden Jahr 2005 in der „Verlag Textatelier.com GmbH“ sein Buch „Bözberg West. Landleben in der Mitte zwischen Basel und Zürich“ herausgeben. Nach dem Vortrag in „Chüttige“ (Mundartname von Küttigen) weiss man nun ungefähr, was für ein Feuerwerk an Ideen und Kommentaren zur Lage im ländlichen Raum bald einmal 200 Jahre nach Jeremias Gotthelf im Entstehen begriffen ist.
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