BLOG vom: 19.08.2012
2. Einladung zu Dickens: Besänftigende Menschenliebe
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Diese Einladung richte ich zum 2. Mal ganz besonders an die jüngeren Generationen, abgestützt auf einen Text, den ich am 01.06.1970 verfasst habe. Warum nochmals? Die Welt hat sich seit Charles Dickens Zeit gewaltig verändert. Seine Werke mögen heute als altmodisch anmuten, im Gegensatz zu jenen der klassischen Dichter und Denker wie etwa William Shakespeare oder Johann Wolfgang von Goethe. Dickens war vor allem ein Erzähler mit sozialen Anliegen. Seine Werke sind immer wieder mit unterhaltsamen Einschüben durchflochten.
Heute haben sich die Klassenunterschiede beachtlich verflacht. Jungen Menschen ist der Weg zur Ausbildung erschlossen. Am 16. August 2012 öffneten viele A-Level-Prüflinge bang und erwartungsvoll die Umschläge mit ihren Examenresultaten. Dickens war ein wichtiger Schrittmacher des Fortschritts. Wo sind seine Nachfolger in unserer heutigen durcheinander gewirbelten Welt?
So mögen mir gewisse Wiederholungen aus meiner 1. Einladung nachgesehen werden (siehe im Anhang erwähntes Blog vom 02.07.2005).
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Dickens las man, nein, verschlang man als Kind. Ich habe viele seiner Werke zuerst auf Deutsch gelesen. Jetzt im gereifteren Alter lese ich sie wieder schmunzelnd, gerührt und hingerissen wie damals, doch in der Originalsprache. Im Jahr 1912 wurde in aller Welt sein 100. Geburtstag gefeiert. Weitere 100 Jahre sind seither vergangen. Ist Dickens in Vergessenheit geraten? Dem soll hier entgegengesteuert werden. Wenige Erzähler haben sich einen derart weiten Leserkreis erschlossen.
Der äusseren Armut, in die er hineingeboren wurde, entwand sich Dickens schon als 20-Jähriger. Unter dem Decknamen Boz erschienen seine ersten, dem Alltag abgeguckten Skizzen in der „Literary Gazette“ und begründeten seinen Ruhm als Schriftsteller.
Als Etikettenkleber in der Arbeitsmühle einer Londoner Schuhwichsefabrik eingespannt, wurde er durch eigene Kraft und Geschick zum geschätzten Berichterstatter aus dem Gericht und Parlament. Als flinker Stenograf schrieb er für den „Chronicle“, berichtete u. a. über die Debatten zum Armenrecht und die juristischen Winkelzüge in den Prozessen. Seine Erfahrungen aus jenen Tagen finden sich in seinen Werken, weniger polemisch-angriffig, mehr mitfühlend geschildert. Er war dem aufkeimenden Sozialismus ein gemütvoller Wegbereiter: Der Mensch, das Einzelschicksal, galt ihm mehr als das soziale Manifest. Der Politik blieb er zeitlebens abhold. Er war in diesem Sinne kein Emile Zola. Eben weil er kein militanter Vorkämpfer war, öffneten sich dem vielversprechenden Jüngling die allerfeinsten Salons. Seine braunen Locken, zusammen mit seinem Witz und Sinn für Possen, nahmen jedermann für ihn ein.
Zu seinem 24. Geburtstag erschienen seine Skizzen (Sketches) in einem Sammelband – eine seiner ersten Buchpublikationen. Diesem folgte als Fortsetzungsroman „The Pickwick Papers“. Als er den Diener Sam Weller, eine der ergötzlichsten Romangestalten seit Sancho Pancho (siehe „Don Quijote“ von Cervantes), in den Handlungsverlauf einflocht und diesen dem Mr. Pickwick als Leibdiener und Reisebegleiter beigab, schnellte die Auflage des Blatts in die Höhe. Dickens konnte fortan von der Arbeit, von seiner Feder, leben. Stracks ehelichte er Catherine Hogarth und gründete das traute Heim, eine feste Bleibe, die er als Kind vermisst hatte.
Die äusseren Begleitumstände seines Lebens befrachteten sein Wesen. 25 Jahre lang trug Dickens seine Kindheit tief in sich verkapselt, ehe er sich von ihr im „David Copperfield“ freischrieb. In „Mr. Micawber“, der heiter-unbeschwert vom Borg lebte, porträtierte er seinen Vater. Mr. Micawbers gute Laune blieb selbst im Schuldgefängnis, wohin er mit den Seinen einzog, erhalten. Die Haft schottete ihn vor den Gläubigern ab, ohne dass er von seiner Gewohnheit lassen musste und diese – als sei nichts vorgefallen – unter den Mitgefangenen weiter praktizierte. Dickens hat ihn weitaus liebevoller gezeichnet als seine stets besorgte Mutter, Mrs. Micawber, das Vexierbild seiner Mutter. Er konnte ihr nie verzeihen, dass sie ihn um einen Schundlohn an den Schuhwichsefabrikanten verschachert hatte. Dieser vorzeitige Sturzflug aus der Schule ins jämmerliche Erwerbsleben hatte in seinem Herzen eine tiefe Kerbe hinterlassen.
2 Wochen erst war Dickens verdingt, als sein Vater wegen einer Schuld von 40 Pfund mitsamt Familie ins Schuldgefängnis Marshalsea eingewiesen wurde. Einzig Charles lebte als Externer, in der Mansarde einer Familie untergebracht. Seine Mahlzeiten nahm er jedoch im Marshalsea ein. So kannte er die wirren Zustände in diesem Gefängnis aus eigenem Erleben. Seine Eltern wechselten ständig den Wohnort, ein weiterer Umstand, der Dickens bedrückte.
Wie weit haben diese frühen Intermezzi den Erzähler geprägt? Viele Erzähler werden aus Erlebnissen geboren, und sie entfachten Dickens Fabulierlust, auch vom Lesestoff angeschürt. Dickens selbst gestand, dass er das Lesen dem Spiel und der Sonne vorzog, sofern ihm die Lektüre behagte. Siegreich brach seine Vitalität durch, vom Tatendrang getrieben. Dickens war weitgehend ein Autodiktat. 2 weitere Jahre diente Dickens als Laufbursche, ehe er eine Stelle als Reporter in der Doctors’ Commons annahm, im sonderbaren Gebäudekomplex, worin sich das Rechtsgetümmel seiner Zeit abspielte. Die dazu benötigte Stenografie hatte er sich aus eigenem Antrieb angeeignet.
Angesichts der Werkfülle, die er uns hinterlassen hat, fahndet die Neugier nach seinen Schöpferimpulsen. Dickens Epik überrascht in Umfang, Dichte und Fülle. Da wird ein Einfallsreichtum in die Seiten geschüttet, so trefflich das Lichtenberg-Zitat bezeugend: „Der Schriftsteller, der nicht zuweilen einen Gedanken, worüber ein anderer Dissertationen geschrieben hätte, hinwerfen kann, unbekümmert, ob ihn der Leser findet oder nicht, wird nie ein grosser Schriftsteller werden“.
Wie vereinbarte dieser Erzählgigant seine Arbeit mit allen zeitaufwendigen Banketten, dem gesellschaftlichen Reigen, an denen er teilnahm? Verlässlichen Quellen zufolge stand Dickens mit dem Tag auf und werkte bis zur Nachmittagshälfte. Wer ihn dabei störte, dem zeigte er ein barsches Gesicht, dem war er nicht mehr der lustige Kumpan vom Vorabend! Dickens konnte abwechselnd an 2 Werken schreiben. Dieser Pendelverkehr erquickte ihn und verhinderte, dass er seine Einfälle auslaugte. So blieben des Verfassers Lust und Frische durch die 350 000 Wörter eines Bandes erhalten – die in den meisten Fällen eingehaltene Romanlänge. Ein äusserer Zwang war gewiss mitbeteiligt. Dickens schlug Vorschüsse der Verleger ungern aus und verpflichtete sich folglich bis zur äussersten Leistungsgrenze.
Die Schaffensanstösse sammelte Dickens wie die Biene den Honig. Gesichter, Physiognomien waren seine Blüten, getragen von Gebärden. Dem Widerspiel der Mienen galt sein Scharfblick. Weit über 600 Personen hat er zum Beispiel in „The Pickwick Papers“ eingeschleust. Sein Hang für Komik steigerte sich bis zur Burleske, ohne jedoch den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren. Was ihm das Leben vorspielte, verwandelte er gern zur Parodie, in seine Kulisse eingebettet. An den Käuzen bleiben stets liebenswerte Züge haften, den Schelmen und Spitzbuben in gleicher Weise. Es scheint, als nickte Dickens verständnisvoll zwinkernd über ihre Köpfe hinweg in den Zuschauerraum. Dickens ist nicht der Tiefenlotse zu den Abgründen der Menschen; er hascht die Schaumflocken von der Oberfläche des weiten Ozeans vordergründiger, jedermann zugänglicher – und deshalb unterhaltsamen und allgemein verständlichen Gefühlsäusserungen.
Entzündete er sich an einem Stoff, scheute Dickens keine Mühe, ihn sich selbst authentisch zu erschliessen, und er wappnete sich mit Einzelheiten, von einer Wahrheitsliebe beseelt, die nichts unbesehen übernahm. Ehe er „Nicolas Nickleby“ in Angriff nahm, suchte er die Bowes Academy auf, eine Schule für Halbwaisen. Sie wurde von einem Mr. Shaw geführt, dessen Profitgier nichts für die Zöglinge übrig liess, ausser ein kümmerliches Anstaltsleben bei magerer Kost. Diese von Dickens geschaffenen Einzelschicksale haben mehr wider diese Missstände vermocht als es gehässige Polemiken zuwege gebracht hätten. Eigens reiste Dickens in den industrialisierten Norden, zu den Hochöfen und Dampfmaschinen, wo, schlimmer noch als er es selbst erfahren hatte, erbarmenswerte Kinder, in Fabriken eingelocht, für einen Hungerlohn schufteten, bar jeder Kinderfreude, vielfach krank und ausgemergelt. Er wurde zu ihrem beredten Anwalt, der ihre Not in die Herzen seiner Leser brachte.
„Hard Times“ ist ein Roman aus jener Zeit, dessen Stil straffer und kantiger geworden ist. Zuletzt aber bekannte er sich in seinem Alterswerk „Great Expectations“ wieder ganz zum Dickens-Naturell, liess nochmals alle Stimmungen aufleuchten, die uns sein erzählerisches Werk so nahe bringen: seine Liebe zum Menschen, die wunderlich verklärt und besänftigt, selbst dort, wo ein weniger seherisch begabtes Auge nur tristes Elend wahrgenommen hätte.
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16. August 2012 (aus dem überarbeiteten Text vom 1. Juni 1970)
Hinweis auf die vorangegangene Einladung zu Charles Dickens von Emil Baschnonga
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