Textatelier
BLOG vom: 01.09.2012

Deutsch für Ausländer: der europäische Referenzrahmen

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
In Deutschland ist kaum ein Job zu bekommen, wenn der Bewerber nicht über Deutschkenntnisse verfügt. Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten, die zum Beispiel einen Deutschen oder eine Deutsche heiraten wollen, müssen zumindest das Niveau „A 1“ des „GER“ nachweisen. Wenn man in Deutschland studieren will, sind schon Nachweise wie die „Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH)“ oder die „Test-Daf-Prüfung“ erforderlich.
 
Egal, welche eine Sprache Sie in Deutschland oder in anderen europäischen Staaten lernen wollen, um den „GER“ kommen Sie nicht herum. „GER“ bedeutet „Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen“, auf Englisch lautet er „CEF“, „Certificate European Framework“. Dieser teilt die erreichten Sprachkenntnisse in die Stufen A 1, A 2, B 1, B 2, C 1 und C 2 ein.
 
Sprachkenntnisse werden unterschieden in Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben. Jede Kategorie wird genau definiert.
 
Wohnen Sie in Deutschland und haben Sie zufällig ein Volkshochschulverzeichnis zur Hand? In der Regel kann man darin Informationen für die Kompetenzstufen erhalten, entweder in Kurzform, in etwas ausführlicherer Ausführung oder sehr detailliert. Die Volkshochschulen orientieren sich dabei an den Vorgaben des Goethe Instituts München unter der Website http://goethe.de/z/50/commeuro/303.htm.
 
Die ganz kurze Darstellung sieht so aus:
A 1 Wenn meine Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen, kann ich mich in einfachen Sätzen verständigen.
A 2 Ich kann kurze einfache Texte lesen und mich über vertraute Themen und Tätigkeiten sprachlich austauschen.
B 1 Ich kann die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet. Ich kann meine Meinungen und Pläne erklären und begründen.
B 2 Ich kann längeren Redebeiträgen und komplexer Argumentation folgen, sofern mir die Thematik einigermassen vertraut ist. Ich kann mich spontan und einigermassen fliessend verständigen.
C 1 Ich kann ohne grosse Mühe Fernsehsendungen und Spielfilme verstehen. Meine Ausdrucksweise ist so flüssig, dass ich nur selten nach Worten suche. Auch schriftlich drücke ich mich klar und gut strukturiert aus.
C 2 Ich bin nur schwer von einem Muttersprachler zu unterscheiden.
 
Interessant ist übrigens dies: Wenn man das Abitur in einer Fremdsprache erreichen will, muss man nicht mehr als B 2 nachweisen! Die Stufe 1 des DSH entspricht ebenfalls B 2 und ist ausreichend für den Hochschulzugang; allerdings wird verlangt, während des Studium die Stufe 2 (C 1) zu erreichen.
 
Wollen Sie Ihren ausländischen Partner nach Deutschland nachziehen lassen? Dann benötigt dieser mindestens A 1. Diese werden von den Behörden so beschrieben: „Können Sie vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und anwenden? Können Sie nach dem Weg fragen, sich und andere vorstellen und Fragen zu Ihrer Person stellen und beantworten – zum Beispiel, wo Sie wohnen. Dann verfügen Sie in der Regel über einfache Deutschkenntnisse, die der Kompetenzstufe A 1 des ‚Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen’ des Europarats entsprechen. Keine Angst: Natürlich müssen Ihre Gesprächspartner dabei deutlich sprechen und bereit sein, Ihnen zu helfen. Wichtig ist beispielsweise auch, dass Sie erste Worte auf Deutsch schreiben können, zum Beispiel auf Formularen von Behörden Ihren Namen, Ihre Adresse oder Ihre Nationalität eintragen können.“
 
Der Einwanderungswillige muss also auch Grundkenntnisse der lateinischen Schrift haben und den Namen in dieser schreiben können.
 
Wenn Sie in Indien als weisser Europäer unterwegs sind, bekommen Sie häufig Kontakt mit Kindern. Diese fragen Sie: „What is your name? Where do you come from? How old are you? Are you married? Have you children?“ Damit beweisen diese Kinder, dass sie A 1 in der englischen Sprache erreicht haben. Meistens geht es über diese Gesprächsinhalte nicht hinaus. Englisch als Amtssprache ist in Indien ein Pflichtfach in jeder Schule. Sie sind stolz, wenn sie entsprechende Fragen über sich selbst beantworten können und werden in ihrem Bekanntenkreis und in ihrer Familie berichten, dass sie Kontakt mit einem Ausländer oder einer Ausländerin hatten.
 
In dem weit verbreiteten Lehrwerk „studio d“, Band A 2 (als Zielkompetenz) haben die Lerner zum Ende des Buches folgende Aufgabe zu lesen:
 
„Eine süsse Spezialität aus der Schweiz: Rüblitorte“
 
Ordnen Sie die Arbeitsschritte:
 
Zum Schluss wird die fertige Rüblitorte über Nacht in den Kühlschrank gestellt.
Die Masse wird in einer Tortenform gebacken.
Dann wird die Ei-Zucker-Masse mit Mehl und Backpulver gemischt.
Nach den Möhren und Mandeln wird der Eischnee untergehoben.
Zuerst werden das Eigelb, der Zucker und weitere Zutaten gemischt.
Nach dem Backen wird alles mit Marmelade und Puderzucker überzogen.
Im dritten Schritt werden geriebene Möhren und Mandeln hinzugegeben.
 
Na, wissen Sie schon wie das Rezept ausgeführt wird? Dann dürfen Sie auch noch Teil b) und c) bearbeiten:
 
Unterstreichen Sie in Aufgabe a) die Passivformen. ‒ Machen Sie aus den Passiv-Sätzen aus Aufgabe a) Aktiv-Sätze. (Beisp.: Mischen Sie zuerst ...).
 
Das verlangt schon einige Sprachkenntnisse, nicht wahr?
 
In den ersten Monaten dieses Jahres habe ich im Goethe Institut in Bangalore als Gast-Dozent Deutsch unterrichtet. Neben anderen Kursen bekam ich einen „C 2“-Kurs.
 
Wie Sie oben nachlesen konnten, heisst das Ziel, so gut zu sprechen wie ein Muttersprachler, nicht nur zu sprechen, sondern auch in den anderen Bereichen so zu sein. Der Kurs lief über 5 Monate lang an jedem Samstag und Sonntag jeweils 5 Stunden, also zusammen 200 Unterrichtsstunden.
 
Die Teilnehmerinnen und der Teilnehmer hatten C 1 bereits geschafft. Nur einige Lernende waren bereits in einem deutschsprachigen Land und hatten dort gelebt oder gearbeitet, die meisten aber nicht. Bei einigen von ihnen wusste ich nicht, wie sie bei ihren Kenntnissen überhaupt C 1 geschafft hatten, wogegen ein kleiner Teil wirklich hervorragende Kenntnisse mitbrachte. Die Anforderungen der Prüfung sind höher als das Abiturniveau, wenn man von den Literaturkenntnissen, die dort verlangt werden, absieht.
 
Aber auch Literatur musste gelesen werden, meines Erachtens nicht einfache Werke, wie das Buch von Dagmar Leupold, „Nach den Kriegen – Roman eines Lebens“, in dem die Autorin das Leben ihres Vaters erforscht, auf der Grundlage ihrer Kindheit und der Vergangenheit des Vaters im Umkreis des Kriegsverbrechers Frank im besetzten Polen.
 
Ehrlich – was wissen Sie z. B. über die Geschichte von Indien? Hier sollen ausländische Lerner verstehen, warum es deutsche Enklaven in Polen gab, wie der Zweite Weltkrieg dort ablief, was der Holocaust war und vieles mehr. Neben den erforderlichen Deutschkenntnissen zum Verständnis des Buches waren also auch historische und geografische Kenntnisse vonnöten.
 
Noch schwieriger war die Alternative von Heinrich Steinfest „Nervöse Fische“, eine skurrile Geschichte von einem durch einen Hai einer seltenen Art getöteten Mann in einem Hochhaus mitten in Wien und einem kauzigen Chefinspektor, der sich mehr für Philosophen wie Wittgenstein interessiert als für die Aufklärung des Falls.
 
Wenn der Prüfling nicht zu einem Literaturthema schreiben wollte, konnte er auch ein Sachthema nehmen, hier ein Beispiel aus den Vorbereitungsmaterialien:
 
„Sie haben in der ,Süddeutschen Zeitung’ eine Artikelserie zum Thema ,Mobilität in der modernen Arbeitswelt’ gelesen. Schreiben Sie einen ausführlichen Leserbrief (…), beziehen Sie sich auf folgende Aussagen:
 
„Rund zwei Drittel der Berufstätigen klagen über die Belastungen durch tägliches oder wöchentliches Pendeln zum Arbeitsplatz.
Mobilität ist von Vorteil, da sie im positiven Sinn den Menschen dazu zwingt, Althergebrachtes kritisch zu hinterfragen.
Wer in der modernen Arbeitswelt nicht auf der Strecke bleiben will, muss beweglich sein.“
 
Wohlgemerkt: Die Aufgabe ist, sich auf alle 3 Aussagen zu beziehen!
 
Die Hörverständnisaufgaben waren so schwierig, dass sie durch einmaliges Anhören – öfter war in der Prüfung nicht erlaubt – und kompliziert gestellten Lösungstexten kaum zu bewältigen waren, jedenfalls nicht in der Zeitvorgabe.
 
Und so ging das weiter. Das Goethe Institut verlangte schier Unmögliches. Ich erkannte im Laufe des Kurses, dass es nur wenige meiner Lernenden schaffen könnten und bereitete sie vorsichtig darauf vor, das Nichtbestehen nicht als persönliche Niederlage zu begreifen.
 
Von den 17 Lernenden haben es am Ende 2 geschafft, die meisten anderen in einem der 4 Module nicht. Schon das ist eine enorme Leistung. Ich bin der festen Überzeugung, dass sehr viele Muttersprachler, die in Deutschland aufgewachsen sind, diese Prüfung auch nicht schaffen würden.
 
Hinweise
studio d A 2, Kurs- und Übungsbuch, S. 204, Cornelsen Verlag Berlin, 2006.
Internet: www.vhs-mg.de (Herbst 2012).
 
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