BLOG vom: 11.09.2012
Zu früh gestorben. Der letzte Sonnenaufgang in Haffkrug
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
Das Telefon klingelte morgens, es war Samstag, gerade 4 Uhr vorbei. Er nahm unwillig ab.
„Ich bin’s. Ich weiss, wie spät es ist. Mutter ist gestorben. Du musst kommen. Sofort.“
„Sofort?“
„Ja, ich brauche dich.“
„Ich komme.“
„Komm’ mit dem Transit.“
„Warum?“
„Frag’ nicht, komm.“
„Ich komme.“
Der Sohn stand auf.
„Wer war das, um diese Zeit?“ fragte seine Frau, schlaftrunken.
„Es war Vater, Mutter ist heute Nacht gestorben. Ich soll sofort kommen.“
„Dann fahr’ mal hin.“
Er ging ins Bad, zog sich an. In der Küche machte er sich schnell 2 Brote und trank ein Glas Orangensaft. Dann braute er sich einen Kaffee.
Er holte den Ford Transit aus der Garage. Er hatte ihn vor ein paar Jahren günstig gekauft und gedacht, damit könnte man Camping machen, Umzüge für die Kinder, Kinderwagen unterbringen, usw. Als Mutter nicht mehr laufen konnte, war es schön, sie einfach mit dem Rollstuhl in das Auto zu schieben, zu fixieren und sie überall hin bringen zu können.
Warum er ihn heute Morgen mitbringen sollte, fragte er sich. Normalerweise wäre er mit dem Kleinwagen gefahren. Der Alte wird seine Gründe dafür haben.
Das Ehepaar, Sohn und Schwiegertochter, wohnten in Lübeck D. Beide waren Lehrer, er inzwischen pensioniert, sie arbeitete noch ein paar Stunden im Monat. Die Kinder waren erwachsen und hatten ihre eigene Familie. Sie wohnten in anderen Gegenden Deutschlands, bis zu 600 km weit weg. Es gab 3 Enkelkinder.
Seine Eltern hatten sich in Haffkrug eine altengerechte Wohnung gekauft, Erdgeschoss mit kleiner Terrasse und kleinem Garten, in dem seine Mutter immer Blumen angepflanzt hatte.
Noch vor einigen Monaten hatten sie ihr 65. Hochzeitsjubiläum gefeiert. Alle waren dagewesen. Die Eltern hatten es genossen, die Gedichte, die kleine Diashow, das Ständchen. Mutter war schnell müde geworden. Aber es war schön.
Haffkrug liegt 30 km weg von Lübeck, ist über die Autobahn schnell zu erreichen. Der Sohn war gegen halb 6 Uhr dort und klingelte an. Er hatte zwar einen Schlüssel, für alle Fälle, aber wegen des schnellen Aufbruchs hatte er ihn nicht dabei. Der Vater öffnete.
„Komm’ rein.“
„Mein Beileid. Wie ist sie denn…?“
„Ein kurzes Aufbäumen, dann war es schon vorbei.“
„Hast Du schon den Arzt?“
„Noch nicht. Es war zu früh. Sie ist zu früh gestorben.“
„Zu früh?“
„Ja, zu früh, ich hatte ihr gestern versprochen, heute Morgen den Sonnenaufgang zu sehen.“
„Heute Morgen muss er schön sein, wann ist er denn?“
„So gegen 6.“
„Hilf’ mir, sie anzuziehen!“
Friedlich lag sie auf ihrem Kissen im Bett. Die Augen geschlossen, als ob sie schliefe.
„Bist du sicher, dass sie…“
„Siehst du doch.“
Gemeinsam richteten sie sie auf, zogen ihr Nachthemd über den Kopf. Der Vater reichte dem Sohn ihre Bluse, die sie ihr anzogen, dann die schwarze Hose, mit der sie immer gern herumgelaufen war.
„Was hast du vor?“
„Wart’s ab!“
Gemeinsam zogen sie ihr Socken und Schuhe an.
„Jetzt noch ihre dicke Jacke!“
Der Sohn gehorchte. Langsam begriff er, was der Alte vor hatte. Sie war jetzt angezogen.
„Hilf’ mir, sie in den Rollstuhl zu hieven.“
Es ging erstaunlich gut, die Totenstarre war noch nicht richtig eingetreten. Ihr Kopf wackelte ein wenig. Der Vater lehnte sie hinten an. Sie sah aus, als ob sie gerade eingeschlafen sei.
„Bringen wir sie in den Wagen.“
Der Sohn öffnete die hintere Tür, legte die Schienen bereit, auf den sie den Rollstuhl in den Wagen hinein schoben. Im Wagen fixierte er den Rollstuhl.
„Fahr’zur Seebrücke.“
Es war nicht weit, aber zu Fuss hätte es zu sehr auffallen können. Es war früh, so konnten sie direkt an der Seestrasse, nicht weit von der Seebrücke entfernt, parken.
Der Sohn holte den Rollstuhl mit der Mutter aus dem Wagen, und gemeinsam gingen sie auf die Brücke. Ein einzelner Passant und ein Pärchen waren da, aber sie beachteten die 3 nicht. Sie gingen bis ganz nach vorn. Sie blickten auf die Ostsee, bis zum Horizont.
Es war kurz vor 6, es dämmerte. Nach einigen Minuten, die sie schweigend gestanden hatten, der Sohn an der einen, der Vater an der anderen Seite des Rollstuhls, erschien das erste Stück der glutroten Sonne. Langsam wurde sie grösser, immer mehr tauchte sie aus der Ostsee auf.
„Wie hat sie das geliebt.“, sagte der Vater. „Sie konnte sich nie daran satt sehen. Immer wenn das Wetter eine gute Sicht versprach, hat sie mich früh morgens geweckt, und dann mussten wir auf die Brücke.“
„Ich hatte es ihr gestern versprochen,“ ergänzte er noch. Er hatte Tränen in den Augen.
Die Sonne löste sich vom Meer und stieg weiter auf in den hellblauen strahlenden Himmel. Es würde ein schöner Tag werden.
„Gehen wir zurück!“ befahl der Vater. Langsam schoben sie den Rollstuhl zurück zum Auto. Das Einladen ging schnell, der Sohn hatte viele Jahre Routine darin.
Sie fuhren zurück zum Haus der Eltern. In der Wohnung zogen sie der Mutter die Jacke und die Schuhe aus und legten den Körper wieder ins Bett.
„Sie soll nicht in eine Leichenhalle,“ sagte der Vater und ergänzte: „Mach’ Du Frühstück. Ich bleibe noch bei ihr.“
Der Sohn ging in die Küche, stellte den Wasserkessel an und schmierte Brote mit Marmelade und Käse. Er holte Tassen und Teller aus dem Schrank und stellte alles auf den Tisch.
Er ging ins Schlafzimmer. Der Vater lag neben der Mutter auf dem Bett, die Augen geschlossen. Der Sohn rüttelte ihn, „Frühstück ist fertig!“ sagte er leise.
Dann merkte er, dass auch der Vater nicht mehr lebte. Er betrachtete die beiden. Beide sahen friedlich aus, der Vater hatte seinen Gesichtsausdruck, als würde er verschmitzt lächeln.
Der Sohn ging zum Telefon.
„Schicken Sie mir einen Arzt. Meine Eltern sind heute Nacht verstorben.“
„Beide?“
„Beide,“ bestätigte er.
Er schluchzte, Tränen liefen über sein Gesicht.
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