Textatelier
BLOG vom: 08.09.2012

Zürcher Knabenschiessen: Einst das Fest der Stadtheiligen

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
In seiner Eigenart ist das Knabenschiessen das grösste Volksfest von Zürich. Bis zur Reformation feierte man jeweils am 11. September die Stadtheiligen Felix und Regula festlich religiös und selbstverständlich auch ausgelassen fröhlich. Überlebt hat vor allem diese zweite Seite. Die religiöse wurde durch einen Schiesswettkampf für Knaben ersetzt. Seit 1991 sind auch Mädchen zum Wettschiessen mit einem modernen Gewehr zugelassen, und letztes Jahr wurde eines von ihnen Schützenkönigin.
 
Das Festgelände befindet sich am Fuss des Uetlibergs. Über die Strecke einer Tramstation hinweg ist die Strasse jeweils beidseitig mit Marktständen gesäumt, und oben im Albisgüetli breitet sich ein gigantischer Rummelplatz aus. Jedes Jahr erscheinen mir die Vergnügungsbahnen raffinierter, verrückter. Letztes Jahr besuchten über 850 000 Personen dieses beliebte Volksfest. In diesem Jahr 2012 findet das Knabenschiessen vom 8. bis 10. September statt.
 
Das Riesenrad im Albisgüetli mag ich noch zu verkraften. Die Ruhe der Drehungen sind angenehm und bei entsprechendem Wetter ist die Rundsicht über den See und zu Alpen hin einmalig.
 
Primo liebt diese Jahrmarktatmosphäre ganz besonders, und er hat meist einen Grund, dass wir uns diesem Rummel aussetzen. Es sind die Angebote an den Marktständen, die ihn interessieren, und er hört den Marktschreiern extrem gern zu. Und wenn ich mitgehe, bin ich ebenfalls neugierig und lasse mich vom Sog dieses Festes treiben. Die Gemüseraffel stammt beispielsweise immer vom Knabenschiessen, auch wenn wir eine solche ebenso gut in einem Warenhaus kaufen könnten. Dann finden wir dort wackere Taschentücher aus Textilien, die andernorts schon längst verschwunden sind.
 
Die allgemeinen Warenmarktangebote empfinde ich heute nicht mehr so individuell wie einst. Als unsere Kinder klein waren, besuchten wir jeweils einen bestimmten Stand, an dem von Hand gefertigte, auch gestrickte Puppenkleider angeboten wurden. Ein Eldorado für unsere Mädchen. Einmal konnte ich an einem Stand eine rein wollene Stoffjacke aus Katmandu kaufen, wie ich solche danach nie mehr gesehen habe. Die modernen, synthetisierten Materialien haben die Stoffe aus Naturfasern verdrängt. Auf allen Warenmärkten finden wir heute billige Massenware, wie sie über Kontinente hinweg verstreut wird. Eine der Ausnahmen ist im Albisgüetli zu finden: Die Hemden aus dem Märithüsli von Ballenberg.
 
Zu diesem Fest gehören traditionell die Zuckerwatte, der türkische Honig, das Magenbrot und die Bratwurst. In neuerer Zeit werden auch Pouletschenkel angeboten und vom Wallis wurde das Raclette (geschmolzener Käse) übernommen. Aus dem Tessin oder von Italien inspiriert, wird Risotto angepriesen. Frisch gepresstem Süssmost aus Äpfeln und Birnen wird gern zugesprochen. Früher schauten wir immer nach den ersten Trauben aus Italien aus. Wir mögen die markanten Zeichen zu den Jahreszeiten. Diese sind heute aber mehrheitlich verwischt.
 
Für unsere Familie war auch das gelbe Postauto ein Magnet, das abseits des Schützenhauses seinen festen Platz hatte. Alle Briefe und Postkarten, die dort aufgegeben wurden, bekamen den Knabenschiessen-Sonderstempel. Die schnelle E-Post hat diesen schönen Brauch leider sterben lassen.
 
Primo erinnert sich immer auch noch an menschliche Raritäten, wie er sagt. Extrem kleinwüchsige oder extrem dicke Personen fanden ihr Auskommen, indem sie sich ausstellten. Man konnte sie im Zelt besuchen, sie ansehen, sogar berühren. Die dicke Berta etwa war vor 65 Jahren ein Begriff. Ich habe sie nie gesehen.
 
Letztes Jahr schlenderte Primo mit Letizia ausschliesslich in dieser Gauklerwelt umher. Sie erzählte mir später, dass er unerwartet auf eine Schiessbude zuging. Er wolle mir eine Rose heimbringen. Sie schilderte mir, was dann abgelaufen sei. „Er setzte die Brille auf, nahm das Gewehr in die Hand. Die Dame, die es ihm überreicht hatte, schaute ihn eher mitleidig an. Der alte Mann da? Ein Schuss. Die Manschette war durchbrochen, die Rose gewonnen. Für nur Fr. 1.–. Er verblüffte alle.“ Und heute wundert er sich immer noch, wie ihm das gelang.
 
Rückschau in die Geschichte von Felix und Regula
Im Albisgüetli-Rummel denkt wohl niemand mehr an die Stadtheiligen. Ihre Geschichte ist von diesem Fest abgetrennt, aber immer noch auffindbar, z. B. in der Wasserkirche und in vielen Texten und Büchern.
 
Das Geschwisterpaar Felix und Regula erlitt in Turicum, dem heutigen Zürich, das Martyrium. Nach der Überlieferung waren die beiden Angehörige einer römischen Militäreinheit aus dem ägyptischen Theben, der im Wallis stationierten Thebäischen Legion. Wegen ihres christlichen Glaubens erlitten auf Befehl von Kaiser Maximilian in Verolliez im Kanton Wallis 6600 Soldaten den Märtyrertod. Sie hatten sich geweigert, an Christenverfolgungen teilzunehmen. Ihr Anführer Mauritius soll Felix und Regula und einigen Gefährten zur Flucht verholfen haben. Sie flohen über die Furka, durch das Urnerland nach Glarus und erreichten schliesslich Turicum, wurden aber von Häschern eingeholt und ebenfalls enthauptet. Nach der Legende sollen die Getöteten ihre abgeschlagenen Häupter an sich genommen und bergan an den Ort ihrer Grabstätten getragen haben. Dort wurde später das Grossmünster erbaut.
 
Im 13. Jahrhundert wurde diese Legende noch mit einem dritten Märtyrer, dem „Diener“ Exuperantius, ergänzt. – Im Siegel der Stadt Zürich sind die 3 Geköpften als Stadtheilige von Zürich verewigt.
 
Die damalige Stadträtin Ursula Koch schrieb 1988 im Vorwort zum Buch „Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula“*, dass die Reformation mit den Zeugen der Zürcher Stadtheiligen unerbittlich aufgeräumt habe, aber:
 
"Die Legende schaffte sie allerdings nicht aus der Welt. Würden die Häupter noch in der Pfarrkirche Andermatt aufbewahrt, wohin sie ein frommer Auswärtiger in aller Heimlichkeit hingebracht haben soll? Die Vergangenheit wird man nicht einfach los, dies belegt auch das Zürcher Staatssiegel, auf welchem noch heute die kopftragenden Märtyrer abgebildet sind."
 
Ihre Reliquien müssen nun nicht mehr versteckt werden. Wir haben sie bei einem Besuch im Sommer 2011 in Andermatt in der Pfarrkirche Sankt Peter und Paul je auf dem linken und rechten Seitenaltar sofort erkannt.
 
Und im Wallis, in der Abtei von Saint Maurice, haben wir erfahren, dass jedes Jahr hunderte von Afrikanern, die in der Schweiz leben, hierher reisen, um ihren Mauritius zu feiern. Er sei der erste schwarze Heilige. Auch er starb den Märtyrertod und wird seither als Heiliger verehrt. Die Abtei und der ihn umgebende Ort tragen seinen Namen in französischer Sprache: Saint Maurice.
 
In Zürich kann in der Wasserkirche die Krypta besucht werden. Es ist der Ort, wo im Mittelalter die Hinrichtungsstätte der Stadtheiligen Felix und Regula verehrt wurde. 1940/41 fanden hier umfassende archäologische Ausgrabungen statt, die besichtigt werden können. Es lohnt sich, hier vor den aufgebrochenen Mauern und dem Märtyrerstein zu verweilen und über die Texte, die in diesem Raum zu lesen sind, etwas zu sinnieren.
 
Speziell angesprochen hat mich der folgende:
 
"Hat es Felix und Regula gegeben?"
Die Wissenschaft stellt diese Frage schon lange. Man sieht heute eher eine religiöse oder „fromme“ Dichtung aus der Zeit ihrer Niederschrift. Dennoch ist nie auszuschliessen, dass sich nicht doch eine historische Wahrheit dahinter verbirgt."
*
* Das Buch „Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula“ wurde 1988 vom Hochbauamt der Stadt Zürich/Büro für Archäologie, herausgegeben. Zeitgleich fand im Landesmuseum Zürich eine Ausstellung über die Stadtheiligen statt. Es wurden Erinnerungsstücke, die vor der Reformation zum Kirchenschatz verschiedener Gotteshäuser gehört haben, ausgestellt.
 
 
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