Textatelier
BLOG vom: 30.09.2012

Aus dem Nichts: Schöpfungsmythen, Hawking und das Ei

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Ob wir es wollen oder nicht, wir alle leben unseren Mythos. Die meisten von uns fragen sich nicht, warum wir leben, wie unsere Wirklichkeit beschaffen ist. Warum auch? Wir leben in der Wirklichkeit, die wir nicht ändern können, am Tag, in der Nacht, in der Zeit, in den Jahren; wir leben unsere geistige und körperliche Entwicklung. Wir leben mit und in den Naturgesetzen, die uns häufig gar nicht bewusst werden. Dennoch stellen wir uns Fragen, die sich die Menschen aller Zeiten gefragt haben. „Wie ist das alles entstanden?“ ist so eine Frage. Immer haben die Menschen die Antwort in Mythen gesucht. Auch heute noch, wo wir doch immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse haben? Auch heute noch: nicht nur, weil ein Grossteil der Menschen Glaubensinhalte aus Religionen für wahr hält, die ihnen die Entstehung des Universum erklären, sondern auch, wenn Stephen Hawking eine wissenschaftliche Erklärung liefert:
 
Das frühe Universum, bevor es zum „big bang“ kam, war dermassen verdichtet, dass sein gesamter Inhalt, die Geometrie des Raums eingeschlossen, sich in der verschwommenen, schwer festzumachenden Art und Weise subatomarer Teilchen verhielt.
 
Berechnet hat dies Hawking mit der Quantenmechanik und der Anwendung dieser Methode auf die Gravitation mittels der Quantengravitation. Er berechnete eine Formel, die besagt, dass es möglich ist, dass das gesamte Universum aus dem Nichts entstanden sein könnte.
 
Die Naturgesetze verhalten sich so konstant, dass sie sich mathematisch erklären lassen. So haben sich die mathematischen Formeln der Wissenschaftler, wie z. B. die von Albert Einsteins E = mc2 wissenschaftlich beweisen lassen. Hawkings Formel wird eines Tages entweder wissenschaftlich bewiesen oder als falsch befunden werden.
 
Die Physiker diskutieren seit einiger Zeit, was direkt nach dem „big bang“ passiert ist, wie sich daraus das Universum gebildet hat, die Galaxien, die Sterne, die Planeten und was passiert, wenn es immer heisser wird und alles wieder in sich zusammenfällt.
 
Die Formeln und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, die über den sogenannten vernünftigen Menschenverstand von uns Nicht-Wissenschaftlern nicht versteh- und erklärbar sind, als wahr anzusehen, ist für uns nichts anderes als ein Mythos. Das fällt bei Hawkings Theorie besonders schwer, denn „aus Nichts kommt Nichts“ war bisher immer unsere Überzeugung, die jetzt auf einmal nicht mehr stimmen soll.
 
So muss es allen Menschen ergangen sein, welche die Lebenswelt aus ihrem Erleben heraus interpretiert haben und davon ausgegangen sind, dass die Erde eine Scheibe ist und sich um die Sonne dreht oder dass der Mensch eine eigene Spezies ist, die nicht vom Affen abstammt, oder dass die Zeit unveränderbar ist.
 
Um die Fragen, die sich die Menschen nicht beantworten konnten, entstanden Mythen, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden, die sich immer wieder veränderten und erweiterten, bis sie irgendwann einmal niedergeschrieben, abgeschrieben, in andere Sprachen übersetzt wurden. Das geschah bei allen Völkern der Erde. Alle Phänomene der Natur lassen sich so erklären, dass Götter oder götterähnliche Gestalten dafür verantwortlich sind, also das Entstehen des Universums, Sonne, Mond und Sterne, Geburt und Tod, das Wetter usw.
 
Es ist interessant, sich besonders die Schöpfungsmythen anzusehen und sie mit den heutigen Erkenntnissen zu vergleichen.
 
BRAHMA, neben Vishnu und Shiva einer der Hauptgötter im Hinduismus, soll einem goldenen Ei entsprungen sein, das im Urmeer trieb. Seine Schöpfung als erster Gott wird als Aufwallen des Bewusstseins und des Grundes allen Seins, der ewig neutralen Substanz (Brahman) erklärt.
 
Auf der Osterinsel soll ein Vogelgott (MAKE-MAKE) das Weltei gelegt haben, das hier auf der Insel von heimischen Vogelmenschen hochgehalten wird.
 
AWONAWILONA ist der grosse Vater und Schöpfergott der Zuni-Indianer. Durch seine Gedanken schuf er die Nebel, aus denen sich das Wachstum entwickelte. Seine Wärme liess die Nebel zum Urmeer werden. Dann erschuf er allmählich die Erde aus den grünen Schaumkronen des Wassers.
 
CHUKU (auch Chineke = Schöpfer) ist die oberste Gottheit der Ibo in Ostnigeria. Die Ibo glauben, Chuku habe ein irdisches Paradies erschaffen, in dem weder das Böse noch der Tod den Menschen etwas anhaben konnten.
 
ADAPA ist in der babylonischen Mythologie der erste Mensch auf Erden; er war ein Priester von Ea, dem Gott des Wassers, der Weisheit und der Magie. Er erfand die Schrift.
 
IZANAGI und IZANAMI waren im japanischen Shintoismus die ersten Ahnen und das erste Ehepaar. Ihnen wird sowohl die ganze Schöpfung als auch die Erschaffung des Todes zugeschrieben, denn am Anfang gab es nur das Meer des Chaos. Aus dieser kochenden, brodelnden Brühe entstanden allmählich ein Gras, Kunitokotachi (= ewiger Beherrscher des Landes). Das Ehepaar wurde vom Himmel gesandt, stand auf der Himmelsbrücke und rührte die Masse mit einer Lanze der Götter um, aus einem Wassertropfen entstand eine Insel.
 
KAAN ist in der hawaiischen Mythologie der Schöpfergott, der zusammen mit KU, dem Gott der Ahnen aus drei Welten, den oberen und unteren Himmel und die Erde geschaffen hat, danach aus der Dunkelheit Licht und danach mit dem Gott des Himmels, Lono, das erste Menschenpaar. Kaan brachte ihnen den Tod, da sie sich bald als allzu unabhängig erwiesen.
 
LOA, der Schöpfergott der Marshallinseln im Nordpazifik, lebte zuerst im Urmeer und erschuf aus Einsamkeit und Langeweile Riffe, Sandbänke, Pflanzen und Vögel und dann den ersten Mann und die erste Frau.
 
MARDUK (= Jungrind des Sonnengottes) errichtete aus dem Chaos des Anfangs im Himmel den Wohnsitz der Götter, brachte die Sterne an, schickte die Planeten auf die Bahn, schuf den Mond, die Jahreszeiten und aus dem Blut des feindlichen Gottes Kingu und aus Lehm die Menschen.
 
MITHRA, der persische Gott des Lichts und der Gerechtigkeit, war das Licht, das der Sonne vorausging und der Gott, der die Dunkelheit zerstreute. Er und der Gott AHURA-MAZDA fungierten als Schöpfer und Bewahrer der Weltordnung.
 
NUN ist in der ägyptischen Mythologie die Personifikation des Urmeers. Daraus entstand aus dem Chaos in der Dunkelheit das Universum. Aus einem Ei entstand ein Licht- oder Luftvogel.
 
PAN-KU ist das Urwesen der chinesischen Mythologie, aus dessen Leib die Welt entstand. Am Anfang gab es nichts als Dunkelheit. Die Welt war ein riesiges Ei, das das Chaos, aber auch den Giganten Pan-ku enthielt. Er öffnete das Ei. Der leichtere Teil des Eies wurde zum Himmel, der schwere Teil bildete die Erde. Pan-ku verbrachte dann Tausende von Jahren damit, Himmel und Erde auseinanderzuhalten, sterbend entstanden aus seinem Atem die Winde und Wolken, seine Stimme wurde zum Donner, sein linkes Auge zur Sonne und sein rechtes zum Mond, aus seinen Gliedmassen die Berge und so weiter. Vergleichbar ist dieses Mythos mit TA’AROA aus Tahiti, der in einem Weltei schlief und die Eierschale sprengte.
 
Interessant ist auch WELE, die oberste Gottheit der Abaluyia, einer in Kenya Bantu sprechenden Gruppe, der zuerst den Himmel schuf und den auf Pfeilern stützte. Danach erschuf er 2 Brüder, Sonne und Mond. Der Mond stiess die Sonne vom Himmel, sie revanchierte sich, warf den Mond auf die Erde, bewarf ihn mit Schlamm, damit er nicht mehr so intensiv leuchten konnte. Wele verfügte, dass beide wieder gemeinsam am Himmel stehen, am Tag und in der Nacht. Dann schuf Wele die Wolken, den Blitz, die Sterne, den Regen, den Regenbogen, den Hagel und die Luft, die ersten Menschen, Tiere und Pflanzen.
 
Die Schöpfungsmythen sind inhaltlich gar nicht so weit auseinander. Ähnlichkeiten mit der Schöpfungsgeschichte der Juden und Christen, der Genesis, sind oft erkennbar.
 
Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern ...“
 
Durchaus wissenschaftlich sind nach heutigen Erkenntnissen das Chaos, eine Art Nebel, die Dunkelheit und, nach der Entstehung der Erde, das Urmeer.
 
Und: Die Frage, wer zuerst da war, die Henne oder das Ei, wird durch die Mythen auch gelöst!
 
Quellen
Lightman, Alan : „Zeit für die Sterne“, München, 2005.
Cotterell, Arthur: „Die Welt der Mythen und Legenden“, München 1990.
 
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