Textatelier
BLOG vom: 08.10.2012

„Händer no Hunger?“ – Mittagessen bei und mit Toni Brunner

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Beim Rindvieh und anderen Tieren, die wir nutzen und deshalb als Nutztiere bezeichnen, verhält es sich genau gleich wie bei uns Menschen: Wir alle haben gern etwas Auslauf. Dieser ist ein Stück begrenzte Freiheit – ein privilegierter Ort des Freiseins. Freiheit bedeutet überdies, anerkannt und akzeptiert zu werden. Und wenn wir, gemeint ist ein gutes halbes Dutzend älterer aktiver Pensionisten, jeweils im Herbst des Jahres das mehrtägige traditionelle Männerreisli unter der Leitung des Organisationstalents Magnus Würth aus Gränichen AG, ehemaliger Jowa-Geschäftsleiter, unter die Räder nehmen, fühlen sich unsere Ehefrauen von der Last ihrer angetrauten Ehehälften befreit – und umgekehrt.
 
Auf diese Freiheit war ein Programmpunkt der Reise 2012 abgestimmt: „5. Oktober Mittagessen im Haus der Freiheit (eventuell Begrüssung durch Toni Brunner)“ las man in der Einladung. Dieser Toni Brunner ist als Nationalrat und Präsident der Schweizerischen Volkspartei (SVP) national bekannt. Seit 2008 ist er zudem Miteigentümer des Landgasthofs „Sonne“, den er sozusagen im Untertitel „Haus der Freiheit“ nennt (www.hausderfreiheit.ch). Dieses „SVP-Epizentrum“ (Insider-Umschreibung) liegt oberhalb des Dorfs CH-9642 Ebnat-Kappel im Toggenburg – an der Strecke Wattwil‒Wildhaus. Der Streuweiler nennt sich Wintersberg.
 
Wir fragten uns bei der Auffahrt am Hang zum Wintersberg bei einer spazierenden, am Stock gehenden, betagten Frau, die ihre Beinbeschwerden etwas abzutrainieren suchte, nach der „Sonne“ durch: „Weiterfahren bis zum Haus mit den grünen Fensterläden. Ihr seht das schon.“
 
Die schmale Strasse führt zwischen den fürs Obertoggenburg typischen verstreuten Häusern durch. Man sitzt da nicht aufeinander wie in Kaninchenkäfig-Stapeln, sondern will sein eigenes Refugium und etwas Freiraum um sich haben. Die einfachen, alten Häuser haben oft einen kleinen Anbau – ehemalige Web- und Sticklokale. Noch eine scharfe Linkskurve und dann glitzerte das goldene Sonnen-Wirtshausschild neben den grünen Fensterläden. Am Strassenrand stand ein Klapp-Plakat: „Sie haben Ihr Ziel erreicht. Willkommen.“
 
Freiheitsgefühle
Das dreistöckige Hauptgebäude des Gasthofs mit seinem Anbau und seiner Terrasse mit exzellentem Blick zu den Churfirsten und zum Speer wurde im schlichten Toggenburgerstil erbaut. Wenn die Fensterläden offen sind, bilden die Fenster durchgehende Zeilen. Die unteren sind mit roten Geranien unterfangen. Das unspektakuläre Haus ist mit einer Zwerchdach-Abwandlung versehen: einem quer zum Hauptdach verlaufenden Giebel, der den First leicht überragt. An der Grundmauer ist ein gelber Postkasten angeschraubt. Es würde mich nicht wundern, wenn in Wintersberg noch papierene Briefe geschrieben würden.
 
Im Eingangsbereich lagen verschiedene Schriften auf, so etwa die „Weltwoche“ und die Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer. Falls sie zustande kommen und vom Volk gebilligt werden wird, muss man wohl eine Durchsetzungsinitiative zur Durchsetzung der Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer anfügen, damit das seit Eveline Widmer-Schlumpf bestehende Tohuwabohu im Asylbereich endlich in geordnete Bahnen gelenkt werden kann. Doch soll man sich die Stimmung nicht verdriessen lassen; das Toggenburg ist seine eigene Kleinwelt, Provinz im schönsten Sinne des Worts.
 
Die Gaststube in der „Sonne“ ist genau das, was man sich unter einer gemütlichen Landbeiz vorstellt: Einfache Holztische, bequeme Holzstühle mit gerundeter Rückenlehne, durchgehende Bänke, eine kleine Spirituosenbar, Sauser-Plakate, in der Ecke ein Hirschgeweih mit einer dazwischen geklemmten alten, bemalten Uhr sowie 2 romantisierende, vergilbende Bilder mit Waldszenen. Design aus dem ländlichen Alltag, wie gewohnt. Auf der aufliegenden Speisekarte steht: FÜHLET SI SICH WIE DEHEI. DA I DE SUNNE TÖRF MER SICH NO FREI UND WOHL FÜHLE. (Fühlen Sie sich wie zuhause. Hier in der Sonne darf man sich noch frei und wohl fühlen.)
 
Das musste man nicht einmal lesen, denn das Wohlgefühl stellte sich ohnehin ein. Dazu trug auch der Wirt und Koch Lukas Hoffmann bei, ein leutseliger Naturbursche mit krausem Haar: „Der Toni kommt gerade“, sagte er. Er weiss, warum man auch noch hierher kommt. Inzwischen nahm er die grosse Schiefertafel aus der Wandverankerung, auf der unter dem Titel „Esse“ (Essen) aufgelistet war, was man bestellten konnte, so etwa Bratwurst mit Zwiebelsauce (17.50 CHF), Siedwurst mit Käsehörnli (17.50), Tonis Chäs-Wurschtsalot mit Pommes (17.50), Rindsfilet vom heissen Stein mit Pommes (250 g, 44.50 CHF). Da dieses Filet so berühmt war, entschlossen wir uns für dieses Angebot. Wir könnten auch ganz Verschiedenes bestellten, sagte der quirlige Koch Hoffmann, dem kein Aufwand zu gross war. Wir hielten am heissen Stein fest.
 
Berühmte Toggenburger
Und während in der Küche die rechteckigen Specksteine auf etwa 300 °C erwärmt wurden, kam der Toni Brunner durch die Tür herein, begleitet von ein paar Fliegen, letztere von den Wohlgerüchen in der bekochten Wirtschaft angelockt, wie immer, wenn die Tür kurz offenstand. Der berühmte Politiker zeigte keine Starallüren, sondern kam fast in einer Demutshaltung in die Gaststube, begrüsste die Gäste der Sitzreihe nach, strahlte, spasste, lachte über seine eigenen Spässe sein erfrischendes, gewinnendes Lachen.
 
„Aaaahhh, Ihr sind d’Aargauer“, freute er sich, als unser Tisch beim fortgesetzten Händeschütteln an der Reihe war, und der Bauer und Politiker setzte sich zu uns. Er trug ein gross kariertes, kurzärmeliges Hemd, das die Sicht auf kräftige Arme freigab, Blue Jeans, und nur die schwarzen Halbschuhe liessen darauf schliessen, dass das bäuerische Element nur eines unter seinen vielen Betätigungsfelder ist. Er habe keine Krawatte angezogen, sagte Brunner, und offenbar habe er es damit wieder einmal getroffen. Wir wüssten den Verzicht auf den Krawattenzwang zu schätzen, warf ich ein. „Wer hier eine Krawatte trägt, wird mit einer Strafgebühr belegt“, sagte der Herr des Hauses, gewisse Freiheiten relativierend. Und als er zusammen mit dem neben ihm sitzenden Hanspeter Setz, dem ehemaligen bekannten Fuhrhalter mit einem riesigen Lastwagenpark, fotografiert wurde, freute er sich: „Schön, einmal mit einem erfolgreichen Unternehmer aufs gleiche Bild zu kommen.“
 
Wir unterhielten uns angeregt, und weil das Thema Berühmtheiten schon im Raum stand, kamen berühmte Toggenburger aufs Tapet: der „arme Mann“ Ulrich Bräker, Garnhändler und Schriftsteller, der einen wichtigen Beitrag zur Kulturgeschichte leistete, der Reformator Ulrich Zwingli und die Bauernmalerin Babeli Giezendanner, oder, wie sie im Toggenburg Eingeborene nennen, „s'Giezedanners Babeli“.
 
Das umfangreiche Werk Bräkers hat Brunner mit Begeisterung gelesen, und die Bauernmalerei schätze er auch, betonte er. In dieser Volkskunst sind die Proportionen meistens verzerrt, und das macht einen Teil ihres Reizes aus. In Politik und Medien ist diese Verzerrung weniger attraktiv. Und umso erfreulicher ist es, dass der zupackende SVP-Präsident die Verhältnismässigkeiten jeweils wieder herstellt, mediale Skandalisierungen beim Namen nennt und zurückbindet. Er schätze Auftritte in Live-Sendungen, sagte er, weil es nur hier die Möglichkeit gebe, hie und das „einen“ zu platzieren. Ja, sonst wird herausgeschnitten, sodass der Interviewte seine eigenen Aussagen oft nicht wiedererkennt.
 
Zunehmender Leidensdruck
Wir sprachen dann über die momentanen, obzwar aufgebauschten Rückschläge der SVP, und dabei erwies sich der Politiker Brunner einmal mehr als langfristig orientierter Politik-Stratege. Er versteht den Kampf der Linken und der weitgehend zu diesen abgedrifteten Mitteparteien gegen die wohlverstandenen Interessen der Schweiz natürlich auch nicht. Man dürfe es zwar fast nicht sagen, warf er ein, aber wahrscheinlich und leider gebe es erst dann eine Änderung, wenn der Leidensdruck im Volk grösser sei.
 
Vielleicht merken es dann sogar auch die Medien, dachte ich. Niemand, der sich für die Volksinteressen einsetzt, möchte einen grösseren Leidensdruck, aber er kann nicht ausbleiben, wenn die nationalen Interessen ununterbrochen selbst von der höchsten politischen Landesbehörde mit Füssen getreten werden. Ich dachte an die momentan desolaten Zustände im Bankenwesen mit den vielen Entlassungen nach der weitgehenden Abschaffung des Bankgeheimnisses, das desorientierte BundesrätInnen (hier kommt man nicht um die Innenform herum) weiterhin aufweichen möchten, selbst im Inland, anpasserisch gegenüber fremden Mächten und in Kauf nehmend, dass Schweizer sogar wegen Bagatellvergehen kriminalisiert werden. So intensiviert man den besagten, unvermeidlichen Leidensdruck Schritt für Schritt.
 
Und dann kam ein Ehepaar in den Raum – Toni Brunner erwies sich als der perfekte Wirt: „Grüezi, händer no Hunger?“ fragte er, das Wesentliche punktgenau ansprechend. Man nennt das auch Populismus ... Mir gegenüber hatte noch Kaspar Menzi, ehemaliger Materialchef der FIS (International Ski Federation) Platz genommen.
 
Mich erstaunte, wie Brunners Toni, der auch ein gelernter und leidenschaftlicher Bauer ist, alles unter einen Hut bringt, am Freitag bis Sonntag zu allem anderen noch seinen Landwirtschaftsbetrieb besorgen muss, einen Grünland-Betrieb mit 12 Stück Braunvieh, letzteres zuständig für die Milchwirtschaft, 8 Rindern und Kälbern. Er muss in die Zwilchhosen, weil seine Helfer, die zu den übrigen Zeiten den Hof besorgen, auch einmal Auslauf brauchen.
 
Auf dem heissen Stein
Das Rindsfilet auf dem heissen Stein, auf dem jeder Safttropfen zischte, wurde aufgetragen, so dick wie 2 aufeinandergestellte Schuhwichsebüchsen. Der heisse Stein war von einem feuerfesten Plättchen umgeben. So viel Fleisch hatte ich bisher noch nie auf dem Teller. Das Filet war oben und unten kräftig angebraten, innen beinahe roh. Mit dem Fortgang des Essens wechselte der Zustand von cru (roh) über saignant (nur roher Kern) bis zu bien cuit (durchgebraten). Man konnte die Garstufen also selber steuern, was Diskussionen über persönliche Vorlieben erübrigte. Und zu einer Kräuterbutter und einigen Pommes-Stäbchen war das ein feines Essen, Event-Gastronomie der währschafteren Art.
 
Als Dessert gab es warme Apfelwähe und Schlorzifladen (ein Kuchen mit einer Füllung aus getrockneten Birnen) mit Glacé und Schlagrahm dazwischen, ein weiterer Höhepunkt, schmackhaft, reell. Nach alledem erübrigte sich ein Abendessen.
 
Die Natur rund um die Frohnatur
Auf der Terrasse liessen wir uns noch die Landschaft erklären, wobei Toni Brunner an der milden Herbstsonne alle seine Register als Frohnatur zog. Wir schauten auf das Obertoggenburg hinab, also auf das oberste Thurtal. Genau von hier kämen die stärksten Männer und die schönsten Frauen, schwärmte der Referent. Er zählte unzählige Namen von Schwingern, Skikanonen und dergleichen auf: Jörg Abderhalden, Arnold Forrer, Willy Forrer, Karl Alpiger, Simon Ammann, Maria Walliser, Walter Steiner und viele andere. Dann zeigte er auf die silhouettenartig markant hervortretenden 7 Churfirsten und spulte im Rekordtempo deren Namen herunter: Chäserrugg, Hinterrugg, Schibenschtoll, Zueschtoll, Brisi, Frümsel, Selun, und er prüfte, ob wir genau aufgepasst hätten. Zum Glück waren mir diese Namen schon in der Sekundarschule St. Peterzell eingetrichtert worden. Brunner: Er habe fast jeden Tag diese 7 Aufrechten vor sich ... und dann müsse er wieder nach Bern ... Sein Gesicht nahm für Sekunden einen leidenden Ausdruck an, wurde aber vom Schalk sogleich zurechtgewiesen.
 
Unten auf der Strasse fuhr ein alter Mann mit Dächlikappe auf einem leichten Motorrad bergan. Der habe eben einen Test gemacht, erläuterte Brunner: Der Töfffahrer habe von einer hohen Brücke einen Helm und eine Dächlikappe ins Tobel geworfen – und dabei sei bloss die Dächlikappe unbeschädigt geblieben.
 
Im Toggenburg pflegen die Leute ihren eigenen Stil; sogar Toni Brunners braun-blondes Kopfhaar lässt sich nicht in eine bestimmte Richtung kämmen – es macht, was es will.
 
Toni Brunner (38) wohnt 2 km weiter oben, auf dem Hundsrücken, in einem schönen, alten, ganz mit verwittertem Holz verpackten Bauernhaus mit blumengeschmückten Fenstern. Ein langgestreckter Garten reicht bis an die Strasse, die nach Hemberg führt. Wahrscheinlich können nur in einer derart abgelegenen, ja bockbeinigen Gegend (wozu auch das nahe Appenzellerland zu zählen wäre) solche eigenwillig-eigensinnigen Typen herangezüchtet werden, profilierte, wendige Haudegen, die sich nie in eine Masse mit ihrem standardisierten Denken einbinden lassen. Das Toggenburg, wo ich ebenfalls aufgewachsen bin (ich sag’s mit Stolz), hat wieder einmal alle meine Vorurteile nicht nur bestätigt, sondern zu Urteilen gemacht.
 
Wir Toggenburger würden den Helm nur aufsetzen, wenn alle anderen Dächlikappen trügen.
 
 
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