Textatelier
BLOG vom: 01.12.2012

Ergreifend: Film „Amour". Blumen bis zum Lebensende

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Dieser 2012 mit der Palme d’Or ausgezeichnete Film, vom Österreicher Michael Haneke geschaffen, hat uns am 29.11.2012 in der Nachmittagsvorstellung nicht nur hingerissen, sondern aufgewühlt.
 
Ein betagtes Ehepaar, von Jean-Louis Trintignant (als George) und Emmanuelle Riva (als Anne) ergreifend einprägsam dargestellt, kehrte vom Rezital ihres Meisterschülers in ihr Pariser Appartement zurück. Beide waren über 80 Jahre alt. Längst waren die Gewohnheiten des Paars harmonisch aufeinander eingespielt, wie sie miteinander im bevorzugten Wohnzimmer plauderten, umringt von Büchern, Bildern, einem Konzertflügel – und in Erinnerungen schwelgten.
 
Ihre letzten, goldenen Jahre verebbten, seitdem Anne vom Schlag getroffen worden war und, auf der rechten Körperhälfte gelähmt, aus dem Spital heimkehrte. Annes geistige Frische blieb über wenige Monate hinweg erhalten, ehe sie, von einem 2. Schlag getroffen, vollends absackte. „Hole mir die Fotoalben“, bat sie George. Mit der linken Hand blätterte sie darin. „Das war doch ein Leben“, bemerkte sie.
 
George nahm sich ihrer liebevoll an, pflegte sie zuerst allein, später mit Hilfe einer Pflegerin. Annes Lebenswille verflachte zunehmend. Sie sehnte sich nach dem Tod und verweigerte die Speisen, die ihr George verabreichen wollte. Zuvor hatte ihr George versprochen, dass sie in kein Spital eingeliefert werde. Lichtblicke sind in den Film eingestreut, etwa wie sie mühselig in sein Lied „Sur le pont d’Avignon“ einstimmt.
 
Vieles, was ihr George verschwiegen hat, erzählte er nun seiner bettlägerigen Frau. Als Knabe war er in einem Ferienlager und wurde morgens angehalten, in den kleinen See zu springen, der von einer eiskalten Quelle gespeist wurde. Er konnte den Milchreis nicht ausstehen. Er gab zu, dass er für Sport und hartes Regime nichts übrig hatte. Mit seiner Mutter hatte er vereinbart, dass er ihr mit Postkarten seine Freude mit Blumen, sein Leid mit Sternen mitteilen werde. Sie erhielt nichts ausser Sternen und war um seine Gesundheit besorgt. Georg erkrankte schwer an Dysenterie (Bakterienruhr). Regungslos lag Anne neben ihm und konnte seine letzte Geschichte nicht mehr erfassen.
 
Kaum hatte George diese Geschichte beendet, verhalf er seiner Gattin als Todesengel aus dem Leben und befreite sie von ihrer Pein. Der Film begann, wie die Polizei in ihr Appartement einbrach. George hatte den Eingang ins Schlafzimmer mit Klebstreifen abgedichtet und Blumen um Annes Haupt gestreut.
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Dieser karg gehaltene Inhaltsabriss möge die Brücke zum Mit- und Nachempfinden des Betrachters formen und ihn/sie bewegen, diesen Film anzusehen. Er ist mit vielen Einblicken ins Leben und Verhalten dieses betagten Paars, das im tiefsten Sinne zeitlebens ein Liebespaar geblieben ist, verbunden.
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In mir erweckte dieser Film vor allem das Gedenken an meine eigene Mutter, die Lily, ich und meine Söhne immer wieder im Basler Pflegeheim aufgesucht hatten. Ein vergleichbares Pariser Appartement besuchten wir jährlich einmal. Dort lebte in ihren eigenen Erinnerungen verflochten eine hochbetagte Dame. Vor gut 50 Jahren begann die Freundschaft zwischen ihr und Lily, die sich später auf mich ausweitete.
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Wieweit und wie viel Umsicht und gegenseitige Rücksichtnahme heute zwischen Eheleuten weiterhin bestehen, ist eine Frage, die uns dieser Film stellt.
 
 
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