Textatelier
BLOG vom: 17.12.2012

Gags im Luzerner Hinterland: Hexenfondue und Hühnerkafi

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Wir möchten euch gern zu einem Hexenfondue einladen“. Fredy Stäger aus dem luzernischen Pfaffnau war am Apparat. Da mir Fondues ebenso sympathisch wie Hexen in allen Variationen sind, sagte ich spontan zu. Fredys Ehefrau ist die aus Österreich stammende Brigitte Pulfer-Stäger. Sie wendet im Meielsgrund oberhalb von Gstaad BE, einem Karkessel-Seitental als Eiszeit-Zeuge, ihr Kräuterwissen an, mehrt es und ist von ganzen Scharen von guten Naturgeistern umgeben – noch selten ist mir eine derart herzliche Person mit einem solch ausgeprägten Naturbezug begegnet.
 
Wir sollen dann bitte nicht erschrecken, fügte Fredy bei. Das Fondue sei eben grün. Das beeindruckte mich nicht weiter, da ich weder vor Hexen noch vor der Farbe Grün davonrenne (solange sie nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird).
 
Am 14.12.2012 fuhren meine Frau und ich gegen die Mittagszeit über Zofingen AG und Reiden der Dorfmitte von Pfaffnau entgegen, einige Gastgeschenke wie 2 Bücher über mystische Pflanzen und ein herrliches Holzofenbrot aus der Bibersteiner Schlossbäckerei im Kofferraum. Die Landschaft war schneebedeckt, die Strassen aper, der Auftakt zu einem Wintermärchen. Die duftenden Kräuter, diese Ingredienzien für Heilmittel, für die Küche und rituelle Zwecke, schliefen unter der weissen Decke ihren Winterschlaf.
 
Mitten in Pfaffnau (Amt Willisau LU) stellten wir unser Auto neben einen grossen, leicht angeschmolzenen Schneehaufen ab, stiegen die steinerne Treppe des gepflegten Mehrfamilienhauses empor, hinauf zur aufgestockten Dachwohnung. Beim Aufstieg durch Treppenhaus begegneten wir René und dann Hendrika Lehmann, die als Hauseigentümer eine Etage tiefer wohnen und ebenfalls eingeladen waren, eine nette, erfreuliche Begegnung.
 
Man fühlte sich willkommen, in gemütlicher Atmosphäre daheim – ein Duft wie in einem Kräutergarten an einem Sommermittag. Von den lichten Räumen aus hätte man grosse Teile des Dorfs und den imposanten Kirchenbezirk mit dem Rokokopalais als Pfarrhaus, den die Pfarrkirche Sankt Vicentius auf einem kleinen Hügel überragt, sodann Felder und bewaldete Hügel (Herrenwäldli und Bannwald), zwischen denen die Pfaffneren durchs Rottal fliesst, sehen können, wenn der Blick nicht schon durch die liebevoll ausgestattete Wohnung in Beschlag genommen wäre. Im Schwedenofen brannte ein Feuer. Der Esstisch war mit dekorativem Geschick gedeckt, und darüber schwebte ein farbiger Drache mit weitgespannten, gelben, orangefarbigen und braun gefärbten Flügeln, an dem eine handwerklich schön gearbeitete Hexe baumelte. Während man Erinnerungen an das letzte Treffen am Blausee im Kandertal auffrischte, servierte Fredy einen perlenden Blanc de Blanc und warme Häppchen als Eigenkreation: Olivenbrot, Frischkäse mit Kräutern, abgedeckt mit süssen Birnenscheiben und ausgeschälten Baumnusssamen-Teilen.
 
Wir genossen diese originelle Vorspeise, verloren uns in Gespräche über Brigittes „Hüttli“ im Meielsgrund, über den dort erneuerten mystischen Kräuterkeller, wo all die Produkte wie Salben und Tinkturen aus den Bergkräutern, in die viele Kenntnisse und eine ausgeprägte Zuneigung eingebaut sind, wesensgerecht gelagert werden können: handwerkliche Produkte, die wie potenzierte Naturmedikamente einen umso stärkeren Beitrag zur Selbstheilung entfalten. Wir sprachen auch über die Lokalgeschichte. In Zeiten der Not waren viele Einwohner, vor allem solche aus dem nahen Rothrist AG (13 % der Bevölkerung), zur Auswanderung in die USA gezwungen, ja sie wurden dazu getrieben. Zwischen 1800 und 1920 wanderten rund 200 000 Schweizer nach Übersee aus, eine 46 Tage dauernde Reise ins Ungewisse. Heutzutage verlaufen die Migrationsströme in die andere Richtung, wobei sich die Herkunftsländer vor allem in (Nord-)Afrika und in der verarmenden EU befinden.
 
Inzwischen verbreitete sich im Pfaffnauer Stübchen ein dezenter Käsegeruch, wie er das Fonduewetter hierzulande in Innenräumen zu begleiten pflegt. Im Herkunftsland von Hendrika, in Holland, ist das Käsefondue unbekannt. Wir glaubten, den Grund dafür herausgefunden zu haben: Edamerkäse eignet sich nicht dazu; das Gericht wird griselig, wie René mit leidendem Gesichtsausdruck bekannt gab.
 
Doch seine Miene hellte sich beim Anblick der 2 Caquelons (Fonduepfannen aus Steingut), die Fredy auf die Brenner stellte, sogleich auf. Der Herr des Hauses mischte einen trockenen Champagne brut unter den geschmolzenen, blubbernden Käse, der von einem grünlichen Schimmer und fein geschnittenen grünen Pflanzenteilen durchsetzt war. Und dabei stellte sich ein Wunder ein: Trotz der Zugabe des Champagners blieb das Fondue flüssig; nach meinen Erwartungen hätte es sich zu einem Klumpen zusammenballen müssen. „Ihr müsst rühren!“ lautete der Befehl des Fonduekochs. Wir fügten uns dieser Aufforderung gern und kosteten das Gericht aus der Hexenküche: voller, runder Käsegeschmack, dezent duftend, schön fliessend – perfekt gelungen. Neben Gruyère befanden sich weitere Käse darin, sogar etwas Emmentaler.
 
In der kremigen Käsemasse schwammen schwarze und grüne Partikel, die natürlich ergründet werden mussten. Schwarz? Waren das schwarze Trüffeln? Nein; das trichterförmige Format liess auf Totentrompeten aus der Pfifferling-Familie schliessen – eine originelle Idee. Schwerer tat ich mich mit der Identifikation der grünen Bestandteile. Geschmacklich gaben sie kaum Hinweise, und so liess ich denn das gesamte Arsenal an grünen Hexenkräutern vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen: Basilikum, Brennnessel, Brunnenkresse, Estragon, Kerbel, Koriander, Minze, Petersilie, Rosmarin, Salbei, Sauerampfer, Thymian, Waldmeister ... alles falsch! Es waren – Fredy lüftete das Geheimnis – fein gehackte Spinatblätter, die rein um der Farbe willen im geschmolzenen Käse herumschwimmen durften!
 
In entspannter Stimmung genossen wir das wärmende, winterliche Gericht zusammen mit süssen Birnen, und ein enzymreiches Ananas-Dessert war eine zusätzliche Verdauungshilfe.
 
Fredy, ehemals ein begabter Décolleteur, dem man heute Fein- oder Polymechaniker sagt, baute eine komplizierte, technisch beeindruckende Kaffeemaschine auf, deren Funktionsweise ich nicht ganz begriffen habe, die aber ihre wesentliche Aufgabe, einen kräftigen, belebenden Kaffee zu liefern, bestens erfüllte. Die Hexe an der Diele führte in der aufsteigenden Warmluft mit dem Röstaroma ihre Tänze auf.
 
Bevor die Abenddämmerung hereinbrach verabschiedeten wir uns, überschwänglich lobend, und fuhren über Beromünster LU heimzu. In diesem „Möischter" fand gerade der Weihnachtsmarkt statt. An einem Stand mit knusprigen, zu grossen Weihnachtssternen arrangierten Butterzöpfen fragte mich eine adrette Verkäuferin in unaufdringlicher Art, ob sie mir einen Hühnerkaffee servieren dürfe. Es war mir nicht möglich, Widerstand zu leisten, und so hatte ich denn ein neues Rätsel zu lösen. Das heisse, süssliche, zart schmelzende Getränk von angenehmer Konsistenz schmeckte rund, etwas nach Cognac. Die Dame verriet mir, die Zusammensetzung: Kaffee und Eiercognac. Ich wollte ihr einen kleines Trinkgeld geben; doch sie wehrte ab – es sei ja Weihnacht, und da mache man doch Geschenke. Und so kaufte ich ihr einen Weihnachtsstern aus einem fünfteiligen Zopf ab, herrlich knusprig, butterig, wie wir anderntags beim Frühstück feststellten.
 
Beromünster blieb mir wie Pfaffnau einmal mehr in bester Erinnerung.
 
Auf der Heimfahrt verleitete uns ein beleuchtetes Bauernhaus, in etwa 100 m Distanz zur Hauptstrasse zwischen Reinach AG und Beinwil am See im Oberwynen- bzw. Seetal zu einem Zwischenhalt. Die Nacht war hereingebrochen. Dort fand ein Flohmarkt bzw. Bazar statt. Eine reife Betreuerin der Kundschaft lud mich zum Probieren eines Stücks frisch gebackenen Lebkuchens mit Zimt-, Nelken- und Muskataroma ein. Weil ich nur eine Hausjacke trug – den Mantel hatte ich im Auto gelassen –, sagte sie mir in mütterlicher Umsorgtheit, hier könne ich ein wärmendes Kleidungsstück kaufen. Ich steuerte stattdessen auf die Bücher in der Wohnstube zu. Ein älter Mann, der neben mir in den Gestellen stöberte, wurde von einer vorbeikommenden Bekannten gefragt: „Wo ist denn Deine bessere Hälfte?“. Er: „Denk bi dä Lümpe“ (Natürlich bei den Stoffen, den Stoffreisten, also in der Kleiderabteilung).
 
Mich verlockte das grossformatige, 540 Seiten umfassende Werk „Les Grands Maîtres de la Cuisine française“, das von Céline Vence und Robert J.-Courtine bearbeitet und im Auftrag von Bodas in Paris 1972 nachgedruckt wurde (Kostenpunkt: 4 CHF, ein Geschenk). Darin sind in der Originalsprache die berühmtesten Rezepte aus 5 Jahrhunderten gastronomischer Tradition in Frankreich vereinigt. Nur beim Suchen nach dem Stichwort Hexe (Sorcière) wurde ich nicht fündig. Dafür gab es von La Varenne ein ähnliches Rezept (aus dem Jahr 1651): Épinars à la crème (Spinat mit Butter und Crème fraîche). François-Pierre de La Varenne (1618‒1678) galt als der berühmteste französische Koch des 17. Jahrhunderts. Er führte Gemüse als Beigabe zu den täglichen Mahlzeiten ein – genau das, was Fredy Stäger im Fonduebereich mit der Spinatzugabe initiierte.
 
Ich weiss es sehr zu schätzen, nicht nur von Hexen und liebenswürdigen Kräuterweiblein, welche die Pflanzen als mitfühlende Lebewesen anerkennen, sondern auch von kreativen Köchen umgeben zu sein. Nur wenn alle Stricke reissen, greife ich selber zum Kochlöffel – auf bescheidener (Gas-)Flamme eben. Man soll sich ja nichts anbrennen lassen, originelle Kontakte und Speisen geniessen.
 
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