Textatelier
BLOG vom: 01.01.2013

Indien: Vergewaltigungen und die Stellung der Frauen

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Die Zeitungen waren in den letzten Tagen voll mit Darstellungen und Diskussionen über die Stellung der Frau in Indien, und auch im Internet wird darüber lebhaft diskutiert. Es ging und geht um jene junge Frau, die in einem Bus von 6 jungen Männern brutal verletzt und vergewaltigt worden und daran verstorben ist. Es gab viele Demonstrationen. Vielen Indern, Frauen und Männern, ist das Schicksal der Frau nicht gleichgültig geblieben. Das ist gut so. Jede körperliche Gewalt, besonders an wehrlosen Frauen, ist grauenhaft und zu verurteilen.
 
Einige Artikel, besonders in Boulevardblättern, sprechen von „Indien“, von allgemeiner Gewalt gegen Frauen bis zu Morden, von vielen Vergewaltigungen, von ungleichen Rechten für Männer und Frauen. Dabei kann der Eindruck entstehen, als allein reisende Frau in Indien sei man Freiwild und müsse immer mit dem Schlimmsten rechnen.
 
In meinen Augen sind das grobe Verallgemeinerungen. Wenn von Indien die Rede ist, sprechen wir von einem riesigen Land mit über 1 Milliarde Einwohnern, von vielen verschiedenen Völkern und Volksstämmen, von vielen verschiedenen Teilstaaten mit völlig unterschiedlichen Strukturen, von völlig unterschiedlichen Lebensstandards, von ländlichen Gebieten, von Grossstädten mit vielen Millionen Einwohnern, von Hindus, Moslems, Christen und auch von Säkularisierten. Deshalb ergibt eine Generalisierung immer eine falsche Sicht.
 
Auch wenn meine Meinung Kritik auslöst, ich bin davon überzeugt, dass das erwähnte Verbrechen an jedem Ort der Erde hätte stattfinden können! 6 mehr oder weniger enthemmte junge Männer, sexuell frustriert, im „Gruppenzwang“, die über eine junge Frau herfallen, so etwas soll nur in Indien möglich sein? Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen sind ganz allgemein überall stattfindende Verbrechen. Den Sexualtrieb gegen alle Humanität und Menschenrechte gewaltsam auszuleben, ist ein schweres Vergehen, auch wenn es alltäglich geschieht. Etwas vulgär ausgedrückt, habe ich schon des Öfteren die Meinung gehört: „Männer sind schwanzgesteuert.“ Und wenn sie dann noch enthemmt sind, nicht den Mut haben, sich aus der Gruppe zu entfernen, also nicht vor den Mittätern als „Schlappschwanz“ dastehen wollen, machen alle gemeinsam mit. Ein moralischer Hemmmechanismus im Hirn wird ausgeschaltet, denn die Steuerung erfolgt nicht durch das Geschlechtsteil des Mannes, sondern durch die Schaltstellen im Gehirn.
 
Jede Vergewaltigung und Brutalität gegen Mitmenschen sollte Anteilnahme und Demonstrationen erzeugen! Für das aktuelle Verbrechen werden Erklärungen gesucht und in den Medien denn auch „gefunden“. Die historische und gesellschaftliche Entwicklung in vielen Teilen Indiens könnte ein Grund für die schändlichen Handlungen von unbeschreiblicher Brutalität sein.
 
Es beginnt damit, dass es Familien sehr teuer zu stehen kommen kann, weiblichen Nachwuchs haben. Besonders in ländlichen Gebieten ist es auch heute noch teilweise Tradition, dass Eltern zur Hochzeit der Tochter, zu Beginn der arrangierten Ehe, der jungen Familie einen Brautschatz übergeben müssen. Dieser wird von dem künftigen Ehemann und seiner Familie gefordert, und über die Höhe wird gestritten. Der Brautschatz hat auch etwas mit dem Ansehen der Familie und mit jenem der Braut zu tun. Ich habe ein Gespräch zwischen 2 Müttern mitbekommen, in dessen Verlauf die eine über 500 g Gold prahlte, und die andere über eine höhere Summe, die als Brautschatz übergeben worden sei.
 
Da es durch die moderne Technik möglich ist, pränatal festzustellen, welches Geschlecht der Fötus hat, kommt es – auch heutzutage immer noch – zu Abtreibungen weiblicher Föten, da die Familie befürchten muss, durch ein Mädchen wirklich arm zu werden. Brautschatz und pränatale Untersuchung sind durch die Behörden verboten worden, aber die Tradition lässt sich nicht so schnell aus der Welt schaffen, vor allem nicht auf dem Land, wo der Analphabetismus weit verbreitet ist.
 
Arrangierte Ehen sind nicht nur in Teilen Indiens „normal“, sondern auch in vielen anderen Staaten der Erde. Beide Elternpaare einigen sich, oft schon, wenn die Kinder noch sehr jung an Jahren sind. Es gibt viele Befürworter dieses Vorgehens in Indien; ich habe schon mehrmals Diskussionen dazu in „The Hindi“, einer grossen seriösen indischen Tageszeitung, gelesen.
 
Die Stellung der Frau in der Familie und in der Gesellschaft ist sehr unterschiedlich – wie in allen Gesellschaften der Erde. Die Frau ordnet sich oft dem Mann unter, oder sie wird dazu gezwungen. Die Familie, das Wohlergehen des Mannes, der Kinder, ja auch der weiteren Verwandtschaft ist vorrangig. Man unterstützt sich gegenseitig, wobei die Frau mit in ihren Wünschen und Bedürfnissen oft zurückstehen muss.
 
Ein kleines, aber meines Erachtens wichtiges Zeichen dafür: Beim Essen serviert die Ehefrau und Mutter in indischen Familien zuerst allen Anwesenden im Raum, Ehemann, Eltern, Schwager und Schwägerinnen und den Kindern das Essen, sie selbst isst erst, wenn alle gesättigt sind, oft allein in der Küche. Das habe ich nicht nur in der Unterschicht, sondern auch in der Mittelschicht erlebt.
 
Eine arrangierte Ehe bedeutet für die jungen Leute auch, dass sie sich vor der Ehe sexuell enthalten sollen. Es gibt zwar „Möglichkeiten“ für Männer (in welchem Land der Erde gibt es sie nicht?), aber darüber wird nicht offen gesprochen. Wenn sich die Männer das aber nicht leisten können, bleibt nur Enthaltsamkeit und Selbstbefriedigung, oft bis sie am Ende des 20. Altersjahrs angelangt sind, denn sie sollen erst dann heiraten, wenn sie eine Familie ernähren können. Sie werden aber in der heutigen Zeit der Medien immer wieder mit dem Thema Sexualität konfrontiert. Die Bollywood-Filme zeigen zwar keine Nacktheit, aber genügend Anspielungen.
 
Noch ein Beispiel für die Stellung der Frau in Teilen der indischen Gesellschaft: Bei Busfahrten in ländlichen Gebieten, vor allem in den preiswerteren Bussen, die in den Dörfern halten, sitzen Frauen neben Frauen oder neben ihren Ehemännern, niemals neben unbekannten Männern, auch wenn daneben der letzte Platz frei ist und die Frau ein Baby auf dem Arm hat. Setzt sie sich trotzdem hin, wird sie „zurückgepfiffen“. Als ich mit meiner Frau unterwegs war, haben wir manchmal die Plätze gewechselt, ich am Fenster, sie in der Mitte, damit sich eine einheimischen Frau neben meine Frau setzen konnte.
 
In vielen Bussen, auch in der Stadt, sind Plätze nur für Frauen ausgewiesen. Dort setzen sich auch keine Männer hin, wenn alle anderen Plätze besetzt sind. Beim Gottesdienst In katholischen Kirchen setzen sich die Männer auf die eine Seite und die Frau auf die andere, wie das auch vor einigen Jahrzehnten in Deutschland noch üblich war.
 
In Badeorten am Meer sieht man selten Frauen, die weiter als nur bis zu den Füssen ins Wasser gehen. Wagen sie sich auch einmal weiter hinaus, dann immer in voller Kleidung, oft im Sari. Wenn westliche Frauen textilarm baden, können sie sicher sein, von vielen indischen Männern begafft zu werden. Wo sonst haben diese Gelegenheit dazu, so etwas zu sehen?
 
Meine Tochter war im zarten Alter von 25 Jahren in Indien. Sie hat bei der Schwester eines Freundes der Familie, der hier in Deutschland wohnt, in Südindien im Teilstaat Tamil Nadu gelebt und dort eine Zeitlang in einer Sonderschule unterrichtet. Danach ist sie allein durch Südindien gereist, mit dem Rucksack und mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Geschlafen hat sie in preiswerten Unterkünften.
 
Natürlich gab es auch Männer, die aufdringlich wurden. Sie hat ihnen durch einige Worte in der Landessprache Tamil klargemacht, dass sie mit dem Verhalten nicht einverstanden sei. Aber insgesamt hat es keine Probleme gegeben. Ich habe viele „Rucksacktouristen“ getroffen, oft auch alleinreisende, die ebenso empfunden haben, dass es sicher sei, in Indien zu reisen.
 
Niemals habe ich von gewalttätigen Übergriffen gehört. Zwar haben sich öfters Alleinreisende mit anderen Frauen oder Männern in Zweiergruppen zusammengetan und sind so gereist, aber nicht immer.
 
Allgemein haben sich meine Frau und ich (ein paar Mal waren wir zusammen in Südindien, oder auch ich allein) immer auf unseren Reisen sehr sicher gefühlt. Wir wurden nie belästigt oder gar beraubt. Auch das habe ich von den anderen Reisenden aus westlichen Ländern nie gehört.
 
Indien ist ein sogenanntes „Schwellenland“. Der Zuzug zu den Städten, die Möglichkeiten zu Bildungswegen, die Mittelschicht, wachsen. Damit verbunden ist eine Veränderung der Stellung der Frau. Sie ist selbstbestimmter und selbstsicherer geworden, vor allem in der Stadt. Frauen spielen im Berufsleben eine immer grössere Rolle. Sie gehen Beziehungen zu Männern ein, leben und wohnen bei ihnen, wie in allen „entwickelten“ Ländern der Erde.
 
Indien ist ein Land in Entwicklung. Es gibt kaum einen Inder, besonders in den Städten, der heutzutage nicht über ein Handy verfügt. Viele gut ausgebildete Akademikerinnen drängen auf den Arbeitsmarkt oder in Dienstleistungsbetriebe wie Banken, Versicherungen usw., wo sie auch Karriere machen, wie überall auf der Welt.
 
Das Selbstbewusstsein um die gesellschaftliche Stellung der Frau nimmt zu, auch in der Politik. Frauen stehen gegen Willkür und von Männern dominierte Machtverhältnisse auf, immer häufiger. Sie gehen gegen Gewalt jeglicher Art gegen Frauen auf die Strasse. Sie stehen damit gegen traditionell gewachsene Strukturen und kämpfen für Gleichberechtigung. Und sie werden von immer mehr Männern darin unterstützt.
 
In diesen aufstrebenden Gesellschaften geht das nicht von heute auf morgen. Denken wir einmal daran, wie lange es gedauert hat, bis hier in Europa Frauenrechte gesetzlich festgelegt worden sind und wie viele berechtigte Forderungen noch auf Umsetzung warten. Indien steht da erst am Anfang.
 
Wie oben bereits erwähnt, Indien ist ein riesiges Land und das sind Eindrücke von meinen wenigen Besuchen und Aufenthalten in diesem wunderschönen Land, das mich immer wieder in seinen Bann zieht. Die nächste Reise wird bald unternommen!
 
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