Textatelier
BLOG vom: 11.01.2013

Die 3 Sprachen: Grimms Märchen um einen Grafensohn

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Beim Durchblättern eines Märchenbuchs der Brüder Grimm stiess ich auf ein Märchen, das ich nicht kannte; jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, es je gehört oder gelesen zu haben. Dabei ist es in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Erst in der 2. Auflage, die 1819 erschien, wurde es in die Märchensammlung aufgenommen.
 
Es heisst „Die 3 Sprachen“ und handelt vom Sohn eines Schweizer Grafen, der heute als „lernbehindert“ eingestuft würde: „Er war dumm und konnte nichts lernen.“ Und der Vater sagte zu ihm: „Ich bringe nichts in deinen Kopf, ich mag es anfangen, wie ich will.“ Damals gab es noch keine Schule für Lernbehinderte, also: Was tut ein Graf in dieser einer Situation? Er war davon überzeugt, dass es „berühmte Meister“ gebe, die auch solchen jungen Menschen etwas beibringen können.
 
Zu einem Meister mit den entsprechenden Talenten gab er seinen Sohn für ein ganzes Jahr in die Lehre. Da die Fähigkeiten, die der Sohn dort lernte, in den Augen des Vaters nichts wert waren, wiederholte sich die Aktion 3 Mal. Was lernte der Sohn? Beim ersten Meister lernte er, wie Hunde zu bellen, beim zweiten, wie Vögel zu zwitschern und beim dritten, wie Frösche zu quaken. Der Sohn absolvierte also eine 3-jährige Lehre oder Ausbildung, wie heutzutage auch üblich, mit der Besonderheit, dass sie bei 3 verschiedenen Meistern stattfand.
 
Da die Fähigkeiten vom Grafen nicht goutiert wurden, sagte er sich vom Sohn los, verstiess ihn und wollte ihn sogar umbringen lassen. Seine Untertanen widersetzten sich aber diesem Ansinnen. Sie liessen ihn laufen und brachten dem Grafen Augen und Zunge eines Rehs, die sie als jene von seinem Sohn ausgaben.
 
Die Fähigkeiten, die der Grafensohn in diesen 3 Jahren gelernt hatten, verhalfen ihm dazu, verwunschene Hunde zu befreien, die einen Schatz hüten mussten, den er dann heben konnte, sodann Gespräche von Fröschen zu verstehen, die ihm seine Zukunft weissagten, nämlich Papst zu werden. „Darauf musste er eine Messe singen und wusste kein Wort davon, aber die 2 Tauben sassen stets auf seinen Schultern und sagten ihm alles ins Ohr.“
 
Da das Märchen „Die 3 Sprachen“ heisst und von einem Schweizer Grafen und seinem Sohn handelt, könnte man annehmen, es seien die 3 grossen Sprachen der Schweiz, das Schweizerdeutsch, Französisch und Italienisch, gemeint. (Eigentlich sind es mit dem Rätoromanischen zwar 4 Sprachen, aber diese Sprache wird nur sehr regional im Kanton Graubünden gesprochen.) Die 2. Annahme könnte sein, dass das Märchen etwas mit der Schweizer Garde zu tun haben könnte, und ich kam auf die Idee, ein Schweizer Papst habe diese in den Vatikan geholt.
 
Alle diese Annahmen treffen bei dem Märchen aber nicht zu. Die Schweizer Garde wurde von Julius II. wegen der als hervorragend beurteilten militärischen Leistungen ab dem Jahre 1505 eingestellt. Julius II. war zwar auch ein Graf, aber ein italienischer.
 
Grimm selbst notierte, dass ein Hans Truffer aus dem Oberwallis (Schweiz) die Quelle für das Märchen sei, und er nannte Hinweise, dass Papst Silvester II. oder Innozenz III. gemeint gewesen sein könnte; ersterer war allerdings Franzose und der 2., der als bedeutendster Papst des Mittelalters bezeichnet wird, Italiener.
 
Wegen der Sprachen der Tiere, die gelernt werden, wird das Märchen auf einen schamanischen Ursprung zurückgeführt.
 
Was sagt uns dieses Märchen?
 
-- Angehörige der Oberschicht, wie es der Graf ist, bekommen nicht automatisch lernfähigen und intelligenten Nachwuchs.
-- Väter aus dieser Schicht können weder die Fähigkeiten ihrer Kinder erkennen, noch sie richtig beurteilen.
-- Ihre eigene und die vermeintliche Unfähigkeit des Nachwuchs kann sogar zu dessen Todesurteil und Verstossen führen.
-- Untertanen sind nicht nur Befehlsempfänger, sondern können auch nach ihrem Gewissen handeln.
-- Erlernte Fähigkeiten, die nicht im allgemein anerkannten Lehrplan stehen, werden fälschlich als unsinnig beurteilt.
-- Auch nicht anerkannte gelernte Fähigkeiten haben einen Sinn und können zum Lebenserfolg führen.
-- Ein Papst muss im Grunde nichts wissen; er bekommt alles eingeflüstert.
 
Ich finde, das Märchen spricht sehr aktuelle Themen an, nicht wahr?
 
Quelle
Märchen der Gebrüder Grimm: „Die drei Sprachen“.
 
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