Textatelier
BLOG vom: 11.03.2013

Indiens Strassen: 2- und 4-beinige Verkehrsteilnehmer

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D, zurzeit in Rajasthan (Indien)
 
 
Wenn man eine lange Autoreise durch Rajasthan, einen der nördlichen Teilstaaten von Indien, macht, erlebt man viele Verkehrssituationen, die in unserem westlichen Strassenverkehr undenkbar wären.
 
Die Strasse wird von Mensch und Tier benutzt. Fussgänger sieht man meistens in den kleinen und grossen Ortschaften. Sie laufen oft am Strassenrand, weil es keine richtigen Bürgersteige gibt. Vielfach sind es mit Platten überdeckte Abwasserkanäle, und ab und zu fehlen diese Platten, oder der Weg ist durch allerlei Geröll und Abfall nicht gut zu passieren. Es ist nicht ganz ungefährlich, am Strassenrand zu laufen, da die Strasse von den Fahrzeugen in der vollen Breite ausgenutzt wird und ab und zu ist ein Sprung zur Seite notwendig und angebracht. Das Überqueren der Strasse ist eine Kunst. Am einfachsten ist es noch an grossen Kreuzungen, die durch einen Verkehrspolizisten geregelt werden. Wenn dieser eine Richtung freigibt, kann man gut über die Strasse. Ansonsten muss man sich durchschlängeln, oft zwischen den Fahrzeugen hindurch, auch einmal einem hupenden Auto oder Motorrad durch schnellen Schritt ausweichen. In der Mitte der vierspurigen Strasse kann man verweilen und sich dann wieder zwischen den Fahrzeugen hindurch wagen.
 
Überall sieht man auch Tiere auf der Strasse. In der Stadt, aber auch auf dem Land sind es meistens Kühe und Hunde. Es kommt oft vor, dass sie in oder gegen die Fahrtrichtung gehen und zwar in der Mitte einer Spur bei einer vierspurigen Strasse. Die Verkehrsteilnehmer fahren einen Bogen um die Kuh herum, die sich gemessenen Schrittes bewegt und sich durch nichts stören lässt. Manchmal stehen die Kühe auch ruhig am Strassenrand und gehen dann quer über die ganze Strasse. Ich habe es erlebt, dass uns ein gewaltiger Stier langsam, aber stetig, auf unserer Fahrbahn uns entgegenkam. Er machte keinerlei Anzeichen, von seinem Pfad abzuweichen. Der Fahrer bog kurz vor ihm auf die Gegenfahrbahn ab.
 
Auf der Landstrasse zeigt sich ein noch bunteres Bild. Neben den Kühen und Hunden sind freilaufende Schafe zu sehen, die gesittet in Dreierreihe eng hintereinander am Strassenrand in einer langen Reihe laufen oder auch unruhig die Strasse überqueren. Ich habe auch manchmal mehrere Kamele gesehen, die neben- oder hintereinander am Strassenrand liefen, auch ohne Kameltreiber oder -führer. Freilaufende Ziegen sind unberechenbar. Bei ihnen wissen die Auto- und Motorradfahrer nie, in welche Richtung sie sich wann bewegen. Es ist nur möglich, stark abzubremsen und langsam an oder zwischen ihnen durch zu fahren. Es kommen auch Begegnungen mit Affen vor. Wenn welche gesichtet werden, sollte auf jeden Fall das Fenster geschlossen werden. Sie können nämlich blitzschnell ins Auto greifen und beispielsweise Handtaschen und anderes stehlen.
 
Oft kommt es auch vor, dass bepackte Ziegen und Esel, Schafe, manchmal auch Kühe oder Kamele, von einem Mann oder einer Frau begleitet werden und in Einer-, Zweier- oder Dreierreihen hintereinander her trotten.
 
Grossen Eindruck hat auf mich ein totes Kamel gemacht, dass mitten auf der Strasse lag. Ein paar Menschen standen am Strassenrand und schauten. Die Teilnehmer des fahrenden Verkehrs machten einen Bogen um das Tier. Wahrscheinlich ist es von einem Lastwagen angefahren worden, möglicherweise von einem Militärfahrzeug, denen man hier häufiger begegnet. Ein gewöhnlicher Pkw hätte nach einem solchen Zusammenstoss nicht mehr weiterfahren können. Kamele können ein paar Hundert Kilo schwer werden. Meistens auf der Landstrasse, manchmal aber auch in der Stadt sieht man tote Hunde liegen, die es nicht geschafft haben, die Strasse zu überqueren.
 
Unfälle passieren zwar, sie ereignen sich aber nicht öfter als woanders auch. Die Fahrer passen sich den Verhältnissen der Strasse gut an. Ich sass einmal in einer Rikscha, auf die ein Motorradfahrer auffuhr. Der Rikschafahrer rutschte von seinem Sitz und hing nach draussen, das eine Bein neben dem Sitz eingeklemmt. Schnell kamen Fussgänger, und vereint haben wir ihn aus seiner misslichen Lage befreit. Er schimpfte ein wenig mit dem Motorradfahrer, bog das in Mitleidenschaft gezogene kleine Schutzblech am Vorderrad wieder in die richtige Form, stieg ein, und wir fuhren weiter.
 
Ausser den Stadtstrassen gibt es die MH (Mega-Highways). Sie sind eher selten, vierspurig und inzwischen viele Kilometer lang, gut ausgebaut und asphaltiert. Es folgen die NH (National Highways), oft ebenso gut ausgebaut, vor allem in Gegenden wie hier in der Nähe der pakistanischen Grenze, in denen es viele Kasernen und Militärfahrzeuge gibt. MH und NH sind oft nur gegen die Entrichtung einer Maut zu befahren. In der Kategorie darunter sind die SH (Service-Highways), engere Strassen, oft auch Hauptstrassen durch die kleineren Städte.
 
Der Zustand der Strassen verändert sich häufig. Ist man einige Kilometer lang über eine gut asphaltierte Strasse gefahren, folgen plötzlich ein paar Kilometer holperige Schlaglöcher aufweisender Strassenbelag oder eine nur feste, ungleichmässige Fahrbahndecke aus Lehm. Das ist oft in kleineren Städten der Fall. Es ist nicht möglich, schneller als 20 km pro Stunde zu fahren und notwendig, die Löcher zu umfahren. Dabei kommt es vor, dass man auf die Gegenfahrbahn ausweichen muss. Die Stossfänger der Autos sind sehr robust, manchmal passiert es doch, dass der Fahrer einem Schlagloch nicht ausweichen kann. Auch die in den Städten und vor Bahnübergängen häufigen Speedbreaker, kleine Erhöhungen auf der Strasse, sieht man nicht immer sofort.
 
Auf allen Strassen fahren Lastkraftwagen verschiedener Grösse und Länge, grosse Militärfahrzeuge; ihre Anhänger sind mit Panzern und anderem Gerät beladen. Natürlich verkehren auch Autos aller Art, auch Busse, Motorräder, Fahrräder und Rikschas, (auch Tuktuk genannt), in den Städten und auf dem Land auch Fuhrwerke und Karren, die von Kamelen, Ochsen, Ziegen, Eseln oder Pferden gezogen werden, Traktoren mit Anhängern, die mit riesig grossen Ballen Heu oder anderem bepackt sind, und andere landwirtschaftliche Fahrzeuge aller Grössen. Auf den Bussen sitzen oft Menschen ganz oben auf dem Dach, auf den kleinen und grossen Lastkraftwagen Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts. Auf den Motorrädern kann man manchmal 3 Erwachsene sehen, die zwischen sich und vorne auf dem Tank noch jeweils ein Kind festhalten, oft alle ohne Helm, oder aber nur der Fahrer trägt manchmal, wie es sein sollte und vorgeschrieben ist, einen Kopfschutz. Auch auf dem Fahrrad sitzt hinten quer zur Fahrtrichtung oft eine Frau.
 
Nachts mit dem Auto unterwegs zu sein, erfordert mehr als nur Aufmerksamkeit. Da es auf dem Land keine Strassenbeleuchtung gibt, sieht man die wandernden Kühe, die kleinen Schaf- oder Ziegenherden erst sehr spät. Fahrräder mit Licht habe ich noch nie gesehen; sie fahren trotzdem im Dunkeln. Rikschafahrer verzichten oft darauf, Licht einzuschalten, oder die Beleuchtung funktioniert nicht. Der Gegenverkehr blendet. Manchmal muss man ausweichen, sieht aber nicht, wie die Beschaffenheit des Strassenrands ist. In der Regenzeit bilden sich auf den Strassen Pfützen, und man kann die Schlaglöcher nicht mehr sehen. Das hat schon manchen Aufenthalt in der Werkstatt zur Folge gehabt. In jedem Fall ist das Fahren am Abend und in der Nacht sehr fordernd.
 
Damit nichts passiert, kann, den Verhältnissen entsprechend, meistens nicht schnell gefahren werden. Auf den MH und NH erreichen die Fahrer auf 4-spurigen Strassen schon einmal 80, manchmal 90 Stundenkilometer, bei längeren Fahrten kommt man auf einen Durchschnitt von etwa 40 bis 50 km/Stunde, wobei die Entfernungen von Stadt zu Stadt oftmals 200 km und mehr betragen. In den Städten bilden sich heutzutage schnell lange Staus. Jeder drängt in jede freie Lücke, und jeder sich bietende Vorteil wird ausgenützt. Dabei ist es unerheblich, auch einmal die Gegenfahrbahn gegen den laufenden Verkehr zu benutzen und Ampeln zu missachten. Es wird immer wieder gehupt, aus Warnung, als Aufforderung, vorbeigelassen zu werden, auch aus Freundlichkeit.
 
Bis auf Motorradfahrerinnen habe ich noch nie eine Frau gesehen, die ein Kraftfahrzeug selbst steuert. Ich weiss nicht, ob Frauen keinen Führerschein machen dürfen, sich nicht trauen oder von ihren Männern nicht ans Steuer gelassen werden. Vielleicht bringen sie auch nicht die Geduld und Gelassenheit auf, die auf Indiens Strassen erforderlich sind. Ausserdem ist es sehr anstrengend, am Strassenverkehr teilzunehmen.
 
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