BLOG vom: 07.05.2013
Biberstein: Über die Kunst, den Begriff Kunst zu definieren
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Was ist denn das: Kunst? Und wer ist ein Künstler? Sind Kunststoffe und alles Künstliche auch Kunst? Die Werke der Literatur, der Musik, der Malerei, der bildenden Künste wie der Baukunst, der Bildhauerei, des Handwerks, der Kochkunst und des technischen Könnens überhaupt und vielleicht auch der Kunststücke, die uns Artisten vorführen – all das ist Kunst, entstanden aus einem mehr oder weniger entwickelten und trainierten Können. Wie bei einem rohen, unförmigen Stein oder Holzstück reizt das Ungestaltete zur Gestaltung. Was die Natur in ihrem unendlichen, nicht zu übertreffenden Fantasiereichtum geschaffen hat, wird vom Künstler verwandelt.
Die Naturkunstwerke sind nicht zu übertreffen. Niemandem ist es möglich, einen lebendigen Baum zu schaffen; wir können höchstens im Geäst herumschneiden, ihm eine neu Form aufzwingen, ihn durch die Massnahmen des Baumschnitts anregen, seine Früchteproduktion zu steigern. Wir Menschen können keine funktionable Stubenfliege konstruieren; bestenfalls können wir sie, wenn wir besonders reaktionsschnell sind, erschlagen oder mit einem Fliegenfänger aus dem Flugverkehr ziehen.
Der Künstler kann, wenn er talentiert genug ist, Form und Inhalt in eine Verbindung, in eine Übereinstimmung, bringen und so die unverrückbaren Naturgesetze annäherungsweise erfahrbar werden lassen. Ein Komponist kann zum Beispiel einen einsamen Vogelruf ins grosse, vielstimmige Konzert des Lebens einfügen und ihm zur Geltung als Bestandteil der ewigen Gesetze des Lebens verhelfen.
Solche Gedanken aber genügen bei Weitem nicht für die Definition des Kunstbegriffs. Wohl aus solchen Gründen und um aus der angewandten Kunstpraxis Lehren ziehen zu können, hat die Kulturkommission Biberstein (Kanton Aargau) ihre 5. Ausstellung „Kunst im Schloss“ – Biberstein besitzt Mitten im Dorf einen opulenten mittelalterlichen, belebten Schlossbau (heute eine bekannte Heimstätte für behinderte Erwachsene) – veranstaltet (03. bis 05.05.2013). Die Schau kündet vom Bemühen der heutigen Kunstschaffenden, nicht einfach erstarrte Kunststile nachzuahmen, sondern zu neuen, noch wenig bekannten Ufern aufzubrechen.
Die auf mehrere Räume (ehemalige Wohnräume oder Innenräume mit Tonnengewölbe) verteilte Ausstellung lieferte den Beweis dafür, dass Kunst tatsächlich viele Facetten hat. Die Kunstatmosphäre zog die zahlreichen Besucher schon im Eingangsbereich des Schlosses in ihren Bann. Das Schloss ist über eine kleine Brücke über den Dorfbach zu erreichen, die einen weiten Überblick über die tiefer liegende Aareebene und bis zum Alpenmassiv freigibt. Ein weiblicher Torso aus Marmor und mehrere aus runden Metallabschnitten gefertigte Kugeln waren im Entrée zwischen den mit üppigen Doldenblüten behangenen Ästen des Faulbaums angeordnet. So wurden Kunst und Natur kombiniert. Der zarte, süsse Blütenduft regte auch den Geruchssinn an – der faulige Geruch der Faulbaumrinde tritt nur bei deren Verletzung auf. Er hielt sich ehrfurchtsvoll zurück, ein Verhalten, wie es sich in guter Gesellschaft gehört.
Eine Etage weiter oben – auch das Treppenhaus diente als Ausstellungsraum – spielte der 20-jährige Kantonsschüler Mario Moser, Staufen AG, auf dem meterlangen Marimbaphon. Die Holzklangstäbe über den senkrecht angeordneten Metallrohren, die wie bei einer überdimensionierten Klaviatur chromatisch gestimmt sind, erzeugten volle, dumpfe, harmonisierende Töne, die eine meditative Stimmung erzeugten, in eine andere Sphäre entführten. Darunter fanden sich auch eigene Kompositionen wie „The Present“ und „Along the Marimba“. Dazu benutze er 2 oder auch einmal 4 Schlägel aufs Mal. Wie bei den Kesselpaukenschlägeln sind sie vorne mit kleinen Kugeln von genau definierter Festigkeit versehen.
Wolfgang Schulze, ehemaliger Pfarrer und Präsident der Kulturkommission Biberstein, sprach die einführenden Worte, stellte die beteiligten Künstler vor und wies auf die Fülle von Skulpturen aus diversen Materialien, Bilder und Fotografien hin. Die Marimbaphon-Klänge hätten die Sinne des Publikums geöffnet, damit das Spiel zwischen Sehen und Deuten, zwischen Hören und Verstehen, zwischen Betrachten und Interpretieren beginnen könne, ahnte er.
„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot, sein Auge erloschen“, zitierte Schulze in seinen Begrüssungsworten Albert Einstein.
Die noch im Raum stehende Frage nach dem Wesen der Kunst wurde bei der Vorstellung der Kunstschaffenden und ihres Werks in kleinen Portionen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ergründet.
Marcel Bonani (Wettingen): Es geschah an einem regnerischen Ferientag im Tessin. In der Maggia liegendes Schwemmholz faszinierte den naturverbundenen Marcel Bonani auf seinen Spaziergängen. Kunst, sagte er sich, müsse Freude machen, ansprechen und widerspiegeln, was in einem vorgeht. Er liess sich von den herumliegenden Treibhölzern inspirieren, fügte sie zu Obstschalen und anderen Objekten wie Themen-Skulpturen neu zusammen, kombinierte sie mit rostendem Metall, Draht oder Seilen. Kunst – die Natur hat die Vorarbeit geleistet.
Eine Obstschale aus fest verbundenen Treibholzstücken habe ich sofort gekauft. Die Rustikalität ist das Eine, das zusammengefügte Material das Andere: Es handelt sich um Treibholz aus dem Brienzerseegebiet, aus Stücken, die bereits einmal verarbeitet (in Gebrauch) waren, dann vielleicht bei einem Unwetter wieder ist Wasser gelangten, dort wiederum verändert wurden und endlich noch einmal zu einem ganz anderen Verwendungszweck – als Dekorationsstück und Obstschale – eine neue, wiederholte Verwendung fanden. Was für eine Geschichte!
Franz Arnold (Schafisheim): Die Leidenschaft des gelernten Gold- und Silberschmieds gilt dem Gestalten mit Metallen, das er als Zwiegespräch empfindet. Er ist auch als Werklehrer tätig. Im Prozess des Umformens von Metallen liegen nach seinem Empfinden die Spannung und ein Ausloten der Grenzen. Wie erwähnt, begegnete man im Eingangsbereich des Schlosses den von ihm in aufwändiger Schweissarbeit gefügten Metallkugeln, z. B. aus zusammengeschweissten Rotorteilen, trowalisiert (gleitgeschliffen). Kunst steht hier für das Beobachten, für Auseinandersetzung, Inspiration, Herausforderung, Handwerk und Kommunikation mit der Materie.
Heinz Schmid (Wettingen): Seines Erachtens stecken im Stein und im Holz Figuren, die bloss noch herausgearbeitet, sozusagen befreit werden müssen. Es sind also die Rohlinge wie ein kompakter Jurakalk oder Carrara-Marmor, welche beim Erspüren und Hinhören die Ideen vermitteln, offenbaren. Zudem wendet sich Schmid (neben der Gastronomie) auch der Glasmalerei zu – dabei die Brechung der Farben im Spiel mit dem Licht beachtend. Kunst heisst für Schmid, die Form herausarbeiten, die in einem Material steckt. Das Licht soll gestalterisch mitwirken. Kunst, so sagte er, soll etwas bewegen, beruhigen und aufrühren. Der Betrachter soll überlegen. Vielleicht wird er gestresst, vielleicht bestätigt, vielleicht entdeckt er in dem Objekt eigene Bilder, Eigenschaften, die vorher nicht da waren.
Lea Hughes (Schafisheim): Die freischaffende, in Kalifornien geborene Künstlerin kreiert mit Farben. Ihre Bilder malt sie mit Eitempera, einer alten Technik, deren Grundlage das Eigelb ist, gemischt mit Farbpigmenten. Sie legt mehrere Farbschichten aufeinander, so dass Farbräume – Tiefen-, Frei- und Zwischenräume – entstehen. Manchmal müsse man die Bilder einem Reinigungsprozess unterwerfen, erklärte sie, und in solchen Fällen stellt sie diese kurzerhand unter die Dusche und wäscht ab, was abgewaschen werden kann. Zurück bleiben Spuren, neue Schichten entstehen – ein Eindruck von Zeit im Raum. Immer bleibt etwas hängen. Genauso ist es mit der Kunst. Etwas, womit man sich auseinandergesetzt hat, bleibt; es lässt sich nicht abwaschen. Für Lea Hughes bedeutet Kunst das Wachsein für das Leben. Es geht Lea Hughes nicht um gut oder schlecht, schön oder hässlich: Kunst ist nach ihrer Definition ein offener Prozess, das Darstellen einer inneren Wirklichkeit.
Juraj Lipscher (Rupperswil):
Eine Landschaft durchs Jahr hindurch zu beobachten, Veränderungen wahrzunehmen, sich von den Farben berauschen zu lassen und dies fotografisch festzuhalten, kann zur Leidenschaft werden. Juraj Lipscher, 1948 in Prag geboren und seit 1968 in der Schweiz ansässig, lebt in einer umgebauten Rupperswiler Fabrik in einem Märchenwald – als solchen empfindet er ihn jedenfalls. Meinte er den wieder entstehenden Auenwald? Er schrieb: „Die Landschaft hier ist wild und verwachsen, der Wald und auch der Kanal haben Farbe. Sie haben zu viel Farbe, es scheint mir, als ob sie in den Farben schwelgen wie ein sprachgewandter Mensch in den Wörtern schwelgen kann. Diese fotografische Arbeit entstand während eines Jahres in der Umgebung von Rupperswil.“ Seine Kunst ist also das Dokumentieren und Überbringen von Veränderungen und Stimmungen mit den Mitteln der Fotografie, die im digitalen Zeitalter eine wachsende Zahl von Gestaltungsmöglichkeiten bereitstellt.
Joss W. Uhlmann (Herzogenbuchsee) arbeitet mit einem Kunststoff: Styropor (Polystyrol).Wer hat sich nicht schon über die überdimensionierte Verpackung mit dem leichten, expandierten Schaumstoff geärgert? Wohin damit, wenn das Objekt der Begierde freigelegt ist? Joss betrachtete diese puffernden Hüllen etwas genauer. Er begann, damit zu spielen, sie zu verändern, die Hülle selber wieder in eine Hülle aus Plexiglas zu packen, sie in ihrem Inneren mit farbigem Kunstlicht zu versehen – eine Stimmung wie in einem Nachtlokal, eine Scheinwelt mit ihren Illusionen. Neue Formen entstehen zwischendrin. Emotionen wie Ärger, Wut, Freude, Ergriffensein sind die Motoren für Uhlmanns kreative Arbeit. Ohne solche Emotionen entsteht nichts Neues. Kunst ist in diesem speziellen Falle das Weglassen, wie es der Komponist Johannes Brahms sagte: „Es ist nicht schwer, zu komponieren. Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ So wird Kunst zum Staunen, Hin- und Wegschauen, Verwerfen, Abrufen, ein ständiger Transformationsprozess, eine Veränderung der Wirklichkeit.
*
Die Frage, was die Kunst denn sei, wurde in der Ausstellung in mannigfaltiger Art beantwortet, aber gleichwohl nicht eindeutig geklärt. Wolfgang Schulze suchte eine Art von gemeinsamem Nenner beim libanesischen Maler Khalil Gibran: „Kunst ist ein Schritt von der Natur zur Unendlichkeit.“
Der Bibersteiner Kulturinitiator Schulze, der an einen in Ehren ergrauten Kranzschwinger im Pensionsalter erinnert und eine Art Sennenchutteli in Schwarz trug, das nur am Revers mit einem dünnen, farbigen Streifen verziert war, entliess das Publikum zur persönlichen Entdeckungsreise durch die Kunstsphäre. Auf dass alle die zahlreich erschienenen Besucher zu ihrer eigenen Definition des Kunstbegriffs finden mochten. Sie machten in Begleitung von einem Glas Weisswein die Erfahrung, dass Kunst kein Gegensatz zur Natur sein muss, immer aber ein schöpferisches Gestalten.
Und so neige ich denn zur Vermutung, auch dieser Bericht könnte allenfalls ein bescheidenes Kunstwerk sein. Woraus man erkennen mag, dass es auch sie gibt: Die Gebrauchskunst für den Alltag, deren Bodenhaftung geistige und andere Höhenflüge verhindert.
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