Textatelier
BLOG vom: 20.05.2013

Genuss nach dem letzten Guss: Mittagessen in der Giesserei

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Man stelle sich bitte einen Fabrikgebäudekomplex mit Flach-, Sattel- und Schrägdach vor, wie man ihn zum Beginn des 20. Jahrhunderts baute. Solche ineinander verzahnte Bauten entstanden 1910 auch an der Birchstrasse 108 in Zürich-Oerlikon und dienten als Giesserei und Metallwarenfabrik. Russgeschwärzte Hallen, in denen während Jahrzehnten ein währschaftes Handwerk mit glühendem Metall ausgeübt wurde, passen nicht mehr in die heutige durchrationalisierte Industrielandschaft, in der Roboterarme den schweren Stahl kaum noch kennen und sich unermüdlich mit leichteren Metall-Kunststoffen (etwa für den Armaturenbereich) beschäftigen.
 
Die erwähnte traditionelle Metallwarenfabrik Nyffenegger zog 1996 an die Oerliker Hagenholzstrasse um. Die leeren Gebäude wurden zweckentfremdet. Noch im gleichen Jahr nisteten sich der Künstler Lukas Hofkunst und seine Freunde Christos Zygas und Andreas Bögli in der Industriebrache ein.
 
Taucht der Name Hofkunst im Zusammenhang mit dem Begriff Kunst auf, werde ich hellhörig; denn schliesslich war es Sabine Hofkunst Schroer, die Ehefrau des ebenso berühmten Künstlers Alfred Hofkunst, die das Einstiegsbild für die Webseite www.textatelier.com gezeichnet hat: ein in Blätter verpacktes Haus neben einem etwas entlegenen Fluss (wohl die Aare), und wenn man die meisterhafte Illustration insgesamt genau anschaut, erkennt man ein grosses A – ein Hinweis auf das Alphabetentum und damit auf das Schreiben.
 
Lukas Hofkunst ist der Sohn von Sabine und Alfred Hofkunst (Cudrefin im Distrikt Broye-Vully im Kanton Waadt); sein Vater ist am 17.07.2004 verstorben. Bei solchen Gelegenheiten wird einem bewusst, wie klein die Welt eigentlich ist. Noch kleiner war auch die Giessereiwelt, die zusammen mit dem Vermieter Hans Nyffenegger zuerst in einen Kunstatelierbetrieb und dann bald einmal in eine Gaststätte verwandelt wurde – eigentlich ergab es sich einfach so.
 
1999 wurde die Fidel Gastro AG gegründet. Dass eine Giesserei andere Anforderungen als ein Restaurant erfüllen muss, liegt auf der Hand, woraus der Umstand zu erklären ist, dass man laufend am Rande der Legalität und manchmal auch ausserhalb davon hantieren musste. Aber irgendwie und nach einigen Renovationen in der Grössenordnung von 300 000 CHF konnte das Lokal in die Sphären der Legalität überführt werden, was vor allem dem Unternehmer Ursin Mirer, heute Präsident des Verwaltungsrats, gelang (www.diegiesserei.ch).
 
Das Bemerkenswerte daran: die bestehenden Bauten wurden nicht totrenoviert, sondern es gelang auf geradezu wundersame Weise, die alte, schummrige Fabrikatmosphäre mit den angeschwärzten, patinierten Wänden, einigem Metallgestänge, den Rohren, Kabelkanälen, Manometern und Elektroschaltern, die sich für den Antiquitätenmarkt eignen könnten, zu belassen, gewerbepolizeiliche Einschränkungen hin oder her. Der Boden ist zwar ausgebessert, damit sich darin keine Bleistiftabsätze verlieren – aber es ist doch noch der alte, giessereitaugliche Belag. Die Räume sind zwei- bis dreimal höher als ein normales Norm-Gastlokal. Im Cheminéeraum (jetzt ein Esssaal) erleichtert in der luftigen Höhe ein grosser Spiegel den Überblick über das Geschehen in der Halle, wo einst aus glühenden, flüssigen Werkstoffen schön geformte Produkte entstanden sind.
 
Weil er meine Wertschätzung des Aussergewöhnlichen kennt, entführte mich Urs Walter, der in der Nähe seine Firma Jobwell AG (Stellenvermittlung, www.jobwell.ch) betreibt, übrigens in der unmittelbaren Nachbarschaft des Wohnhauses von Franz Hohler, am 13.05.2013 in diese Eisenschmiede. Noch nie habe er hier schlecht gegessen, stellte mein Begleiter fest. Beim Empfang tat er kund, er wünsche im Cheminéeraum zu tafeln, was problemlos möglich war – obschon alle anderen Gäste nebenan, im Cynarraum, ihr Mittagessen zu sich nahmen.
 
Wir liessen uns neben dem Cheminée nieder. Die Tische für etwa 50 Personen waren schön gedeckt – frische Tischtücher, und eine Kerze wurde angezündet. Die im Rückenteil runden Stühle erwiesen sich als bequem. Nachdem ich diese besondere Atmosphäre mit den durch abbröckelnden Verputz freigelegten Backsteinwänden und dem lockeren Geflecht aus Rohren und anderen Infrastrukturteilen auf mich hatte wirken lassen, wandten wir uns nicht weniger interessiert der datierten Speisekarte zu, die täglich neu verfasst wird.
 
Als Vorspeise wählten wir ein Fuder Blattsalat mit wenig Hausdressing; die Blätter, frisch und knackig, bewiesen Gartenfrische (10 CHF). Als Hauptspeise kam ein Kalbsgeschnetzeltes mit Spaghetti und Sommertrüffel-Scheibchen in Frage (44 CHF). Nathalie Gerundo, gertenschlank, mit einer bodenlangen Bistroschürze und eine ausgezeichnete Beobachterin, erwies sich als aufmerksame Serviererin und holte für uns die Information ein, dass die Trüffel (wie sie übrigens auch) aus Italien kamen; normalerweise tauchen diese knolligen Fruchtkörper mit der Warzenhaut in unseren Breitengraden erst ab Juni auf.
 
Die Spaghetti wurden in einem kleinen Teich aus Rahmsauce mit dem malzartigen, nussigen Duft der Trüffel aufgetragen. Die hauchdünnen, marmorierten Scheibchen des edlen Pilzes verzierten die Oberfläche des Spaghettigewirrs zurückhaltend. Das Kalbsgeschnetzelte (Fleisch aus dem Zürcher Oberland) hatte der Koch, Claude Trefzer, nach vollkommen unzürcherischer Art nur kurzgebraten. Diesen Hauptgang empfand ich als originell, delikat – das Trüffelaroma wurde bestens zur Geltung gebracht, durch nichts erschlagen. Als Dessert wählten wir gebackene Rhabarbern zu einem Ananassorbet (10 CHF). Die Rhabarber-Blattstiele wurden in einem Teig frittiert und sahen ähnlich wie Fischknusperli aus. Die Rhababerstücke waren vielleicht etwas zäh und faserig – im Frühjahr müssten sie zarter sein. Doch weiss ich aus eigenen Zubereitungsversuchen, dass Rhabarbern beim Garen plötzlich zu Mus zerfallen. Es ist fast unmöglich, sie auf den richtigen Punkt – zart und intakt – zu bringen.
 
Das À-la-Carte-Menu hatten wir aus dem 3 × 3-Konzept ausgewählt: Täglich stehen im Prinzip je 3 Vorspeisen, Hauptgänge und Desserts zur Wahl, auch in gewissen Abwandlungen. Die Speisefolge in diesem rauchgeschwärzten Industriedenkmal befriedigte uns sehr.
 
Die Atmosphäre regte mich zu Gedanken darüber an, was es denn brauche, um den Eindruck von Gemütlichkeit zu empfinden. Das Sterile, Gestylte kann es nicht sein. Eine renovierte Beiz ist selten so gemütlich wie die Wirtsstube in einem alten Haus mit dem dazu passenden Wirtehepaar. Ein Raum soll zu seiner Vergangenheit stehen, muss von seiner Geschichte erzählen wie das runzelige Gesucht eines älteren Menschen mit seinen Narben, Flecken, verwilderten Augenbrauen und in die Länge wachsenden Ohren. In den offenen Wohnküchen von damals mit dem Feuer in der Mitte haben wir uns wohlgefühlt, daheim; etwas Rauch trat als Farbgeber und Desinfektionsmittel auf. Und wenigstens die Erinnerung an die Zeiten, als eines der elementaren Elemente, das Feuer, seine Spuren hinterliess, findet sich in der Giesserei, in der sich anschliessend eine ausschweifende, teilweise wüste Geschichte von Feiern bis zum heutigen distinguiertem Tafeln anschloss.
 
Ursin Mirer, der uns nach unseren Eindrücken befragte, gab mir 9 Faltblätter aus Halbkarton mit auf den Weg, die unter dem Titel „Die GIESSEREI erzählt“ in angemessenen, wohlgesetzten Formulierungen von Thomas Meyer einzelne Episoden aufleben lassen. Sie reichen bis ins Jahr 1667 zurück, als Oerlikon noch Örlicken hiess und ein winziges Dörfchen war, umgeben von „endlosen Feldern und Wiesen mit Wildschweinen, Hirschen und manchmal einem Wolf“. 200 Jahre später erdrückte die Industrialisierung solche Idyllen. Seit 1934 ist Oerlikon ein eingemeindeter Stadtteil von Zürich (Kreis 11).
 
Die Nähe zum Flughafen und die Funktion als Knotenpunkt der S-Bahn Zürich verhilft Oerlikon zu einer erstaunlichen, geradezu stürmischen Entwicklung. Das Zentrum ist ein Orientierungspunkt inmitten der ausufernden Urbanität. Hier stehen noch die währschaften, mit Balkonen und Eisengittern verschnörkelten Bürgerhäuser aus jener Zeit, als auch die Giesserei das Licht der Welt erblickte. Was davon über die Runden gebracht werden konnte und kann, bildet den Kontrast, das Gegengewicht zur verdichteten Architektur-Rationalität der Gegenwart und ist ein Ausdruck von der Gemütlichkeit, die uns weitgehend abhanden kam und die wir, zumindest unterbewusst, alle suchen.
 
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