Textatelier
BLOG vom: 21.05.2013

Pia und Martin: Im Pendelschlag von Glück und Unglück

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Martin arbeitete im 18. Stockwerk eines Verlags und war mit seinen 3 Mitarbeitern für die die heute arg vernachlässigte Sparte „Feuilletons“ zuständig. Das machte ihm Spass, und hin und wieder schob er seine Texte unter seinem „nom de plume“ ein.
 
Vor 3 Monaten hatte er eine neue Mitarbeiterin angestellt. Pia hatte sich rasch eingearbeitet. Natürlich gefiel sie ihm ausserordentlich, schön wie sie war. Aber er liess sich das nicht anmerken. Ausserdem trug sie einen Verlobungsring.
 
Eines Morgens drängte ihn ein Schwarm von Liftbenutzern eng an Pia. Erst ab dem 15. Stock gewannen sie ihre Bewegungsfreiheit wieder. Martin hatte ihren schlanken Hals bemerkt. Ihr Flachshaar war kurz geschnitten. Gerne hätte er seinen Blick schweifen lassen, doch vermied er dies tunlichst. Der Tag nahm seinen normalen Verlauf.
 
Martin war 27 Jahre alt und lebte in einem kleinen Appartement unter der Dachschräge und hatte sich einen Freundeskreis geschaffen. Das Leben eines Junggesellen behagte ihm. Sein Umgang mit jungen Frauen war herzlich und gelockert. Er hatte keine Favoritin. Das sicherte ihm einen gesunden Schlaf.
 
2 oder 3 Mal im Jahr lud er seine Mitarbeiter zu einem Abendessen ein. Erst an einem solchen Anlass bemerkte er, dass Pia keinen Ring mehr trug. Das ging ihn nichts an. Eine gewisse Neugier schlich sich, jetzt da sie ungebunden war – und vermutlich nicht für lange – dennoch ein. Claude studierte an der Musikakademie und schenkte Martin ab und zu Freikarten für Konzerte, diesmal 2, und bemerkte: „Ich nehme an, dass Du eine Begleiterin hast, wer immer das sein mag.“
 
Pia nahm seine Einladung an. Sie trafen sich vor der Konzerthalle und hatten gerade noch Zeit zum Imbiss in der Cafeteria im Untergeschoss. Dank ihrem Curriculum Vitae wusste er mehr von ihr als sie von ihm. Und mit diesem Hinweis gab er einige persönliche Auskünfte preis.
 
„Wie kommt es, dass Du mich eingeladen hast?“ fragte sie.
 
„Mein Wunsch, Dich kennen zu lernen, erwachte, als ich bemerkte, dass Du keinen Ring mehr trägst“, antwortete er. Die Glocke unterbrach ihr kurzes Gespräch, und sie bezogen ihre Sitze im Saal.
 
Nach dem Konzert schlenderten sie durch die Allee bis zum Fluss, setzten sich auf die Terrasse eines Cafés und genossen das Glück des Augenblicks.
 
„Vergiss nicht, Morgen muss ich arbeiten“, sagte Pia neckisch und erhob sich. „Schön, dass ich Dich dann wieder sehe“, schmunzelte Martin, und winkte ein Taxi herbei.
 
„Mein Velo ist nicht weit von hier abgestellt“, bemerkte Pia. „Radle vorsichtig!“ ermahnte er sie und winkte ihr nach. Auf dem Heimweg murmelte Martin im Selbstgespräch: „Diesmal hat es mich wirklich erwischt!“ Ein Glücksgefühl durchströmte ihn.
*
 
Anderntags blieb Pias Platz leer. Sie hat sich wohl verspätet, dachte er. Sie war sonst immer pünktlich. Nach einer Stunde wurde er unruhig. Vorahnungen sind selten aus der Luft gegriffen, auch diesmal nicht. Ist Pia verunfallt? ging ihm durch den Sinn. Er erkundigte sich nach ihr zuletzt im Stadtspital. „Ja“, erfuhr er, „eine junge Velofahrerin wurde gestern Abend kurz vor 11 Uhr schwer verletzt eingeliefert.“ Wie nahe und wechselhaft Glück und Unglück doch beisammen sind.
 
Ausser Atem erreichte er das Spital. „Bitte warten Sie“, bat ihn die Dame beim Empfang. „Das Fräulein ist in der Notfallstation.“ Dumpf sass Martin und wartete lange, bis endlich der Arzt erschien. „Sie sind ihr Arbeitgeber, haben Sie gesagt“, wandte sich der Arzt an ihn. „Sie hat einen Beckenbruch erlitten, schlimmer noch, einen Wirbelbruch. Sie ist jetzt in der Intensivstation. Sie können sie vorderhand nicht besuchen. Telefonieren Sie Morgen“, riet ihm der Arzt.
 
„Sie ist vom Arbeitgeber voll versichert“, flocht Martin noch ein. „Das beeinflusst die Behandlung auf keine Weise“, sagte der Arzt, ihn zurechtweisend.
 
Erst am 3. Tag wurde Martin in ihr Krankenzimmer zugelassen. Er setzte sich ans Bett und hielt Pias Hand. „Wir mussten sie in ein Koma versetzen“, gab ihm die Schwester Bescheid, „und sie kann Sie nicht hören.“ Dennoch sprach Martin weiter, und versicherte Pia, dass sie bald wieder gesund und munter sein werde. Tag für Tag erschien Martin vor Arbeitsbeginn und suchte sie auch abends auf und auch am Samstag und Sonntag. Der Chefarzt enthielt sich jeder Prognose. „Jeder Fall ist anders, und es gilt einfach zu hoffen, selbst in schwierigen Fällen.“
 
Pias Vater telefonierte Martin: „Ich habe gehört, dass Sie meine Tochter regelmässig besuchen. Vielleicht können wir uns treffen“, schlug er vor. Der nächste Samstagnachmittag wurde vereinbart.
 
Martin traf Pias Vater, Mutter und jüngere Schwester. Martin berichtete, dass er Pia ausgerechnet am Tag ihres Unfalls zu einem Konzert eingeladen hatte. „Das ist unser 1. Treffen gewesen“, fügte er hinzu. „Ich hoffe inständig, dass ich Pia so bald als möglich wieder als geheilt treffen kann.“
 
„Die Ärzte befürchten, dass sie gelähmt bleiben wird“, sagte ihr Vater. Ein Spezialist wird sie eingehend untersuchen. Die ganze Familie wird sich um sie kümmern.“
 
„Und ich auch“, sagte Martin spontan. „Dank der Versicherung der Firma kann sie die allerbeste Pflege haben“, fügte Martin hinzu.
 
Der Autolenker mit hohem Alkoholspiegel komme vor das Gericht, erwähnte ihr Vater noch, aber das nütze Pia nichts. Nebenbei erfuhr Martin, weshalb Pias Verlobung gescheitert war: „Ich musste einschreiten, weil ihr Verlobter meine Tochter körperlich bedrängt und misshandelt hatte. Aber sie war stärker als er ...“
*
 
Ein Lichtblick tat sich auf, als Martin erfuhr, dass Pia zwar mehrere Rückenwirbel gebrochen habe – vertebral compression fractures genannt –, die jedoch operativ mit Kypholplasty behandelt werden können. Zum Glück hatte sie einen Schutzhelm getragen. Haarscharf entkam sie einer Querschnittlähmung. Das war der Befund des Spezialisten in der Universitätsklinik. Die erst kürzlich entwickelte Stammzellenbehandlung wurde eingesetzt, und die Operation fand in der Universitätsklinik statt. Anschliessend wurde Pia mit Physiotherapie nachbehandelt. Oft war Martin dabei zugegen und eignete sich nützliche Kenntnisse an. Auch der Beckenbruch verheilte gut. „Sie hat einen sportlich durchtrainierten Körper“, meinte die Therapeutin, „was den Heilungsprozess fördert.“ Bald war es soweit, dass Pia im Spitalgarten aufgestützt gehen konnte. Ihre Liebe war gegenseitig und offensichtlich, was hier keiner Erklärung bedarf.
 
Gänzlich unverhofft erschien an einem Sonntagmorgen ein junger Mann im Spital und stürmte in Pias Zimmer. „Wissen Sie, wer ich bin?“ herrschte er Martin an. „Wer sind Sie denn?“ antwortete ihm Martin. Pia war sichtlich erblasst.
 
„Ich bin ihr Verlobter!“ schnauzte er ihn an.
 
„Und Sie haben sich nicht einmal erkundigt, wie es Pia geht!
 
Pia hatte nach der Schwester geklingelt.
 
„Sie haben hier nichts verloren, und ich muss Sie auffordern, das Krankenzimmer sofort zu verlassen“, gebot die Krankenschwester dem jungen Mann.
 
„Ich habe meine Verlobung vor Monaten aufgelöst“, erklärte Pia, „und will überhaupt nichts mit ihm zu tun haben.“
 
„Sie haben gehört, was sie sagte“, fügte Martin hinzu.
 
„Du wirst noch von mir hören“, drohte ihr ehemaliger Verlobter. 2 Spitalaufseher näherten sich, und der Kerl verliess das Zimmer.
*
 
Pia entschloss sich für eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Martins redaktionelle Kompetenzen wurden erweitert. Er schenkte ihr ein neues Velo, mit der Auflage, dieses nicht in der Stadt zu benutzen.
 
Viele unbeschwerte Monate standen ihnen bevor, ehe sie – nein, nicht verlobten, sondern sich stracks heirateten. So lag zum Ausklang diesmal das Glück an Glück gebettet.
 
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