Textatelier
BLOG vom: 21.05.2013

Konzert in der zum Kino verwandelten Digital Concert Hall

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Am 19.05.2013 waren wir in einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern. Es fand in der Berliner Philharmonie statt; Claudio Abbado dirigierte Bühnenmusik zu „Ein Sommernachtstraum, op.61“ in Auszügen von Felix Mendelsohn-Bartholdy und die „Symphonie fantastique, op. 14“ von Hector Berlioz. Das Konzert war ausverkauft. Wir waren allerdings nicht in Berlin, wir waren im Kino.
 
Zum ersten Mal sind wir zu einem Live-Konzert in ein Kino gegangen. Der Kinosaal war etwa zu einem Drittel gefüllt. Wir hatten einen guten Platz. Es war nicht das einzige Kino, das das Konzert im Programm hatte, überall in Deutschland und auch in anderen Ländern in ausgesuchten Lichtspielhäusern konnte man es besuchen. Hier kostete die Eintrittskarte 20 Euro.
 
Die „Digital Concert Hall“ übertrug das Konzert über das Internet, von dem es auf die Kinoleinwand projiziert wurde.
 
Der Beginn des Abends war auf 19.30 Uhr festgelegt. Zuerst sah man die Philharmonie als Bauwerk, die Gänge, die Garderobe, das Gebäude von aussen. Ein Hornist der Philharmoniker gab eine Einführung in die Musik und ins Orchester. Sie war humorvoll formuliert und wurde durch ihn und durch Untertitel in verschiedene Sprachen übersetzt. Die Damen des Chors des Bayrischen Rundfunks wurden durch Konstantia Gourzi, welche die Einstudierung besorgt hatte, vorgestellt.
 
Natürlich war es anders als im Konzertsaal. Wir mussten nicht durch die Gänge der Konzerthalle laufen, um zu unserem Logenplatz zu kommen. Der Blick in die Halle und zur Bühne war nicht frei; er war durch die Kameras und die Regie gesteuert. Wir sahen die Zuschauer, die nach und nach Platz nahmen. Langsam füllte sich die Bühne mit den Musikern, die ihre Instrumente stimmten und damit die Geräuschkulisse übertönten. Die Chordamen im Hintergrund und vor dem Dirigentenpult die beiden Solosängerinnen Deborah York, Sopran und Stella Doufexis, Mezzosopran, erschienen auf der Bühne.
 
Dann kam Claudio Abbado, und das Konzert begann. Die Musik wurde im Kinosaal durch Lautsprecher, die an der Projektionswand und rechts und links an den Wänden befestigt sind, übertragen. Die Lautstärke war gewöhnungsbedürftig, was schnell gelang. Der Klang konnte nicht „original“ wie im Konzertsaal sein, kam dem aber schon sehr nahe. Die Hifi-Technik hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht.
 
Die Bühnenmusik von „Ein Sommernachtstraum“ ist bekannt, der Hochzeitsmarsch aus Millionen von Köpfen in der Welt nicht mehr zu verdrängen. Dennoch: „Mendelsohn geht es letztlich weniger um die Bühne als um das Theater im Kopf: Verströmen nicht bereits die vier zart nach E-Dur einschwebenden Bläserakkorde des Beginns eine unvergleichliche Aura?“
 
Die Musik erzeugt Bilder von dem armen Zettel, der sich mit der „Rüpelmusik“ in einen Esel verwandelt, von den Elfen, die die Königin Titiana in den Schlaf singen, vom verzaubernden Schauspiel. Vor einigen Jahren habe ich es einmal in einem Park sehen und hören können, vor der bezaubernden Kulisse von Bäumen, Sträuchern, kleinen Tempelchen und dem Grün der Wiese. Die Erinnerung daran ging mir im Kopf herum.
 
Die Bilder auf der Kinoleinwand brachten uns die einzelnen Musiker nahe, die Geiger, das Horn, das Cello, die Querflöte. Der Blick wurde darauf gelenkt, kein Einsatz wurde verpasst.
 
Und wie im richtigen Konzertsaal waren auch die Hustenden zu hören, besonders bei den besonders leisen Passagen des Stücks.
 
Dann kam die Pause. Ein 2. Geiger des Orchesters stellte einzelne Musiker und ihre Instrumente vor, und wies auf die Besonderheit hin, dass beide Komponisten die Ophikleide verwendet hatten, ein Blasinstrument, das von Ferne wie ein blechernes Fagott aussieht und das durch die Tuba verdrängt wurde. Der Klang beider Instrumente konnte verglichen werden. Die Kirchturmglocke wurde vorgestellt, die im Finale eingesetzt wird.
 
Man sah, wie die Konzertbesucher wieder ihre Plätze einnahmen, ebenso die Musiker und der Dirigent. Das 2. Stück des Abends, die „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz, begann.
                                                                                               
Ich erinnerte mich an ein Interview mit dem Astronauten Ken Mattingley, der von seiner Mission und seinem Erlebnis in der Apollokapsel im Weltraum berichtete: „It was incredibly peaceful. It was just me and the stars and the symphonie fantastique.“
 
„’Träumereien – Leidenschaften’ überschreibt Berlioz den Kopfsatz. Nach einer langsamen Einleitung in c-Moll übernimmt die ‚idee fixe’ das Thema der Geliebten die Regentschaft. Der 2. Satz, ein eleganter Walzer in A-Dur, entführt uns auf einen Ball, der 3. Satz ins Landleben mit Schalmeienklängen … Ein Drogentrip mündet in die Visionen der beiden letzten Sätze – im 4. saust die Guillotine herab, indem das Schlagzeug der erbärmlich quiekenden C-Klarinette den Garaus macht und trockene Pizzikati den davonpurzelnden Kopf symbolisieren. Im Finale schliesslich findet sich die geschundene Seele in einem Hexensabbat wieder, wo es für die wahre Liebe nur Hohn und Spott in kalt glitzerndem C-Dur gibt – die gregorianische Dies irae-Melodie wird dort auf denkbar farbigste Weise paraphrasiert und karikiert ... Der Jubel des Finales täuscht darüber hinweg, dass wir uns immer noch in den ‚künstlichen Paradiesen’ befinden.“
 
Ob man sich von diesen Gedanken von Olaf Wilhelmer, der das Programmheft „Träume, Leidenschaften“ zum Konzertabend geschrieben hat, leiten lässt oder nicht, bleibt jedem überlassen. Die Musik soll, wie bereits oben erwähnt, Bilder im Kopf entstehen lassen und die können bei jedem anders sein.
 
Die zweieinhalb Stunden im Konzert im Kinosaal haben uns entführt und verführt, nicht nur nach Berlin in die Philharmonie, nicht nur in die Welt der Musiker, Sänger und Künstler, sondern auch zu Phantasien im Kopf, erzeugt durch überwältigende Klänge.
 
In anderen Ländern klatschen die Besucher auch in den Kinos nach einer Aufführung Beifall, in unserem nüchternen Deutschland ist das nicht üblich; aber an diesem Abend gab es einige, die sich nach dem gewaltigen Konzert so ihrer Begeisterung Luft machten. Es war der krönende Abschluss eines gelungenen Abends.
 
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