Textatelier
BLOG vom: 25.05.2013

Ohne Visionen und ohne Illusionen: Angela Merkels Politik

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Man muss wieder ungestört über Europa nachdenken. Wer das für abgehoben hält oder gar für elitär, vergisst, dass Politik vor sich hin zu torkeln droht, wenn sie sich nicht von übergreifenden Interessen leiten lässt. Sie torkelt bereits. Und die Kanzlerin lieferte unlängst einen Beleg dafür, als sie begründete, warum sie für eine weitere Legislaturperiode bereit stehe. Zu Recht wird Angela Merkel vorgeworfen, eine Politik zu betreiben, die nur auf Marktkonformität abzielt und auf nichts weiter“ (so der „Unternehmensethiker“ Erik von Grawert-May im Deutschland-Radio).
 
Visionen sind in der deutschen Politik rar geworden. Allenfalls haben einzelne Europa-Politiker, unter ihnen der belgische Ex-Premier und Liberale Guy Verhofstadt, noch eine Vision eines Europas mit einem gewählten Präsidenten, einer gemeinsamen Regierung und einem echten, demokratischen Parlament. Er hat zu dieser Version ein Manifest mit dem Titel „Für Europa“ geschrieben.
 
Von der Bundeskanzlerin ist in dieser Hinsicht wenig oder gar nichts zu hören. Es ist auch möglich, dass sich die Bundeskanzlerin den Satz von Helmut Schmidt zu Herzen genommen hat, der lautet, wer Visionen habe, sollte zum Arzt gehen.
 
Kommen ein Land, ein Kontinent, ein Volk, viele Völker ohne Visionen aus? Was ist das überhaupt, eine Vision?
 
Vision, lateinisch visio“, bedeutet Anblick, Erscheinung und kann sowohl eine religiöse Erscheinung, das innere Bild einer in der Zukunft liegenden Vorstellung oder eine optische Halluzination sein.
 
Es fehlt eine klare vorstellbare Vision für die Zukunft, wird geklagt und gefragt, ob es eine dritte Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus geben kann. Eine Vision sollte eine ganze Generation quer durch alle Schichten einigen können. Aber diese Forderung kommt einer religiösen Erscheinung und einer Halluzination näher als einer realistischen Zukunftsaussicht.
 
Was hatten unsere Eltern für Visionen? Sie wollten, dass ihre Kinder in Frieden und in einem relativen Wohlstand leben können. Das wurde teilweise erreicht. Ein Krieg innerhalb Europas wurde so gut wie ausgeschlossen. Kriegerische Handlungen dringen, so die Angst, von aussen nach Europa ein, sichtbar an Terrorismus und (religiöser) Intoleranz. Viele zweifeln daran, dass der erreichte Lebensstandard beibehalten werden kann. Die Finanzkrise und der enorme Schuldenberg werden Auswirkungen bis in die nächsten Generationen haben. Karriere und Konsum werden als Lebensziel immer mehr in Frage gestellt.
 
Visionen gibt es hinsichtlich einer veränderten Sicht eines verantwortungsbewussteren Umgangs mit der Umwelt und der Natur. „Nachhaltigkeit“ in der Bedeutung „längere Zeit andauern oder bleiben“ ist das Stichwort. Visionen gibt es hinsichtlich einer „gerechteren“ Verteilung des Volksvermögens. In Zukunft soll es weder Superreiche noch Arme geben. Keine Visionen gibt es hinsichtlich der sich verändernden Altersstruktur der Gesellschaft. Negative Visionen gibt es hinsichtlich der Überschuldung der Euro-Länder.
 
„Oft wird die Notwendigkeit einer übergreifenden Reformidee oder gesellschaftlichen Vision verneint oder ad absurdum geführt: ‚Vision – Illusion – Desillusion!‘ Die Visions-Negierung erschwert es, sich für politische Reformen zu begeistern und sie zu eigenen Anliegen zu machen ...“ So klagt Stephan Grünewald, Geschäftsführer des Rheingold-Instituts in Köln (http://www.theeuropean.de/gunnar-sohn/7994-visionsloses-deutschland).
 
Das Wort „Vision“ wird von der Bundeskanzlerin seltener in den Mund genommen, dafür häufiger der Satz „keine Illusionen machen ...“
 
Illusionslos soll sie schon seit jungen Jahren gewesen sein: Merkels Arbeitskollege am Institut war der Akademie der Wissenschaften Michael Schindhelm schilderte die 1980er-Jahre in Adlershof im autobiographischen Roman Roberts Reise (2000) über Angela Merkel (in Schindhelm Roman nennt er sie „Renate“): „Renate, mit der ich das Büro teilte, war das Vorbild einer illusionslosen Jung-Wissenschaftlerin. Sie promovierte seit etlichen Jahren vor sich hin, Pathos beseelte sie nur im Zusammenhang mit einsamen Radtouren in der Mark Brandenburg.“
 
24. November 2009, anlässlich des Arbeitgebertags: „... (ob wir) zum Zeitpunkt, an dem die Krippenplätze vorhanden sind, auch wirklich genügend Erzieherinnen und Erzieher haben. Es wird in den nächsten Jahren natürlich einen unglaublichen Wettbewerb um attraktive Facharbeiterberufe für junge Leute geben – darüber darf man sich keine Illusionen machen.“
 
28. Januar 2010, anlässlich der Regierungserklärung zum Afghanistan-Konzept der Bundesregierung: „... einen glaubwürdigen Entwicklungsplan vorlegen und Bereitschaft zu strukturellen Reformen erkennen lassen, um gute Regierungsführung auch auf zentraler und lokaler Ebene zu stärken. Damit es keine Missverständnisse gibt: Wir haben keine Illusionen hinsichtlich bestimmter Demokratievorstellungen.“
 
06. Oktober 2010, beim Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; Thema: „Der Ast auf dem wir sitzen – Entscheidungen für biologische Vielfalt und Klima“ ... realistische Chance haben soll, dann muss der Sitz dieser Institution in Afrika sein. Da sollte man sich auch gar keinen Illusionen hingeben, sondern da muss man sagen: Das ist ein Gebot der Fairness ...“
 
03. November 2010: „Die Illusion Multikulti führt zu einem Nebeneinanderherleben ohne ausreichende Forderung nach Integration. Das ist gescheitert, aber es hat uns einen grossen Nachholbedarf hinterlassen. Wir holen seit einiger Zeit nach, was lange Jahre versäumt worden ist.“
 
12. Mai 2011: „Nein, das im Herbst formulierte Ziel, im Jahr 2050 80 Prozent unseres Stroms aus Erneuerbaren zu beziehen, ist schon sehr ambitioniert, man darf sich da keinen Illusionen hingeben.“
 
27. Februar 2012 (zu Finanzhilfen für Griechenland und den Europäischen Rat): „... hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie alles tun wird, damit Europa diese Bewährungsprobe nicht nur besteht, sondern damit Europa gestärkt aus dieser Bewährungsprobe hervorgeht. In dieser Lage waren es gerade Deutschland und die Bundesregierung, die immer wieder vor der Illusion schneller und einfacher Lösungen gewarnt hat ...“
 
27. Juni 2012 (Regierungserklärung zum Europäischen Rat in Brüssel): „ ... besten Dienstleistungen anbieten, werden wir auch dauerhafte Arbeitsplätze für die Menschen schaffen können. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Meine Damen und Herren, ich mache mir keine Illusionen. Ich erwarte in Brüssel kontroverse Diskussionen.“
 
16. April 2013 (Festveranstaltung … Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft): „... Alter weit vor mir liegt. Dennoch, der Durchschnittswert ist interessant und prägt eben auch – da darf man sich keine Illusionen machen – eine Gesellschaft.“
 
06. Mai 2013 (anlässlich des Petersburger Klimadialogs IV „Shaping the Future“): „... Nachfolgeabkommen ab 2020 mit grosser Intensität einzusetzen. Ich mache mir keine Illusionen darüber, wie viel Arbeit noch vor uns liegt. Ich setze sehr auf unsere Kooperation mit China, Indien, den Golfstaaten und den Vereinigten Staaten von Amerika ...“
 
Dies sind nur einige Auszüge der Reden, in denen Angela Merkel davon sprach, sich „keine Illusionen“ zu machen.
 
„Keine Illusionen zu haben“ steht für: „lebenstüchtig sein; sicher im Leben zurechtkommen; normal bleiben; realistisch denken; pragmatisch / erfolgreich / solide / sicher sein; Wunschträume können schnell zerstört werden; Visionen sind Illusionen; Träume haben keine Bedeutung“ (http://www.theeuropean).
 
Illusionen bedeutet „etwas Vorgetäuschtes, lat. ‚illusio’ = TäuschungIllusion und das ältere, heute ungebräuchliche und praktisch unbekannte Verb „illudieren“ ist eine Ableitung vom lateinischen Verb „illudere“. Dieses wiederum ist eine Zusammensetzung des Verbs „ludere“ für „spielen“ mit der lokalen Präposition in.
 
Was würde Frau Merkel über die folgenden Zitate denken?
 
„Bewahre deine Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber nicht weiterleben.“ –Mark Twain, a Biography volume II Part 2 18861900, Ostindische Reise, 5. Februar 1896.
*
„Gib deine Illusionen nicht auf. Wenn du sie verloren hast, existierst du wohl noch, aber du hast aufgehört, zu leben.“ – Mark Twain, Following the Equator, chapter LIX.
*
„Wenn einer die Illusion bekämpft, so ist das das sicherste Zeichen seines unvollkommenen und unzureichenden Wissens eben ein Zeichen dafür, dass er einer Illusion zum Opfer gefallen ist.“ – Giacomo Leopardi, Gedanken aus dem Zibaldone.
*
„Wie teuer Du eine schöne Illusion auch bezahltest, Du hast doch einen guten Handel gemacht.“ – Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen.
*
„Denn die Welt ist nicht geschaffen worden, damit man sie versteht. Sie schert sich nicht um Erkenntnis. Vielleicht ist sie sogar geschaffen worden, um nicht verstanden zu werden. Die Erkenntnis ist zwar Teil der Welt, aber nur als totale Illusion. Genau das finde ich interessant, denn es bedeutet, dass das Denken nur Teil eines Ganzen ist, und dass es für dieses Ganze keine Interpretation gibt." – Jean Baudrillard, Interview taz.de, „Man muss sich vor der Wahrheit hüten".
*
Das letzte Zitat müsste unsere Bundeskanzlerin eigentlich aus DDR-Zeiten kennen: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“ – Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 378, 1844.
*
Keine Visionen, keine Illusionen“, so kann man den Charakter von Frau Merkel zusammenfassen. Sie gibt die Illusionen dort auf, wo eine Illusion sinnvoll wäre. Und Visionen im Hinblick auf bessere Zeiten, hat sie die (noch)?
 
Eigentlich schade. Ist es verständlich, dass die Jugend sich häufig von der CDU und auch von der Politik abwendet? Was bietet sie ihr denn noch?
 
Quellen
*
Hinweise auf weitere Blogs zur deutschen Politik
 
Hinweis auf weitere Blogs über Visionen
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst