Textatelier
BLOG vom: 22.07.2013

Schwarzwaldgeschichten: Karges Essen, heilsame Medizin

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Das Tannenblut-Geheimnis ist gelüftet: Aufgrund einer Publikation im Schopfheimer „Stadtanzeiger“, in dem unser 1. Heilpflanzenbuch (mit Co-Autor Frank Hiepe („Arnika und Tausendguldenkraut“, 1996) vorgestellt und Pfarrer Josef Hurst (1885−1931) erwähnt wurde ‒ meldete sich Agnes D. Die rüstige Dame wohnte früher in Rohmatt bei Häg-Ehrsberg. Sie kannte den Landpfarrer Hurst aus Häg noch von ihrer Schulzeit. Sie erzählte mir einige interessante Begebenheiten aus jener Zeit, auch über den Tannenbalsam.
 
Heilsame Naturmedizin
In den 1920er-Jahren lebte in Häg im Wiesental der erwähnte Pfarrer. Er erlebte, dass Menschen, die neben der Landwirtschaft mit Textil-Heimarbeit oder in der Spinnerei Atzenbach oder im Werk Rohmatt ihr karges Brot aufzubessern suchten und, durch Baumwollflusen und Baumwollstaub verursacht, an Bronchial- und Atembeschwerden litten. Hurst besann sich eines Rezeptes seines berühmten Amtsbruders Sebastian Kneipp aus Wörishofen für einen Bronchialsirup. Er veränderte das Rezept und versah es insbesondere mit speziellen Schwarzwälder Zutaten wie maigrünen Tannenspitzen und Tannenhonig. Für die technisch-pharmazeutische Seite der Sirup-Herstellung sah sich der Pfarrer nach einem Fachmann um und fand ihn im damaligen Zeller Stadtapotheker Dr. Eduard Hiepe (1870−1947). Dieser wusste, wie vorzugehen ist, damit alle Inhaltsstoffe gleichmässig verteilt sind und das Endprodukt auch haltbar ist. Die eigentliche Herstellung aber erfolgte über Jahre hinweg im Häger Pfarrhaus. „Pfarrer Hursts Tannenbalsam“, später umbenannt in „Tannenblut“, war weithin bekannt und beliebt.
 
Nach Pfarrer Hursts Tod im Jahre 1931 übernahm Anton Hübner (1901‒1981) mit seiner Frau in Kirchhofen bei Freiburg die Herstellung und den Vertrieb des Hustensafts (1936). Nach und nach kamen andere Heil- und Pflegemittel dazu. Die Firma Hübner wuchs zu einem heute weltweit exportierenden Unternehmen der Naturheilmittel- und Reformwarenbranche heran. Wie unsere Schwarzwälderin berichtete, hatte der Pfarrer auch ein Herz für Arbeitslose. Er beschaffte ihnen Arbeit. Sie legten Wanderwege an und erhielten dafür einen Lohn. An der Kirche zu Häg finden wir übrigens eine Gedenktafel, die auf das Wirken von Pfarrer Hurst hinweist.
 
Zu Fuss zur Schule
Pfarrer Hurst und auch sein Nachfolger besassen zu jener Zeit kein eigenes Pferd, kein Pferdefuhrwerk, geschweige denn ein Auto. Autos waren damals rar und teuer. Nur die wenigsten konnten sich eine Benzinkutsche leisten. Wohl oder übel mussten sie ihre „Schäfchen“ in den umliegenden Weilern zu Fuss aufsuchen. Nur ab und zu wurden sie von einem Fuhrwerk mitgenommen.
 
Agnes D. erinnert sich noch gut an die Schulzeit. So mussten die Kleinen auch Heizmaterial in die Unterrichtsräume und in die Pfarrwohnung bringen.
 
Die Schüler aus den umliegenden Orten erreichten per pedes die Schule in Häg. An manchen Tagen, wenn am Nachmittag Kochunterricht war, wurden die Beinwerkzeuge doppelt beansprucht. Ohne Murren wurde die Strecke, immer in Gesellschaft mit anderen Kindern, bewältigt. Auch nach dem Schulabschluss wurde es den Heranwachsenden nicht langweilig. Sie gingen in der Spinnerei Atzenbach arbeiten. Oft 8 Stunden lang. Je nach Schicht bis 9 Uhr abends. An ein langes, wohliges Schlafen war nicht zu denken, denn um 4 Uhr wurden sie geweckt, um nach dem Frühstück Feldarbeiten zu verrichten. Frau D. meinte, die Feldarbeit − darunter zählte auch das Mähen mit der Sense − sei  ein guter Ausgleich zur Fabrikarbeit gewesen.
 
Karges Essen
„Was gab es eigentlich vor dem Krieg zu essen?“, war meine Frage an die agile, freundliche und rüstige Frau. Aus ihr sprudelte die Antwort nur so heraus: „Übers Jahr gab es wenig Fleisch. Nur im Winter hatten wir reichlich Fleisch. Nach der Schlachtung bekamen wir Blut- und Leberwürste, Schweinefleisch und später geräucherten Schinken zu essen. Das Jahr über gab es häufig Mehlsuppe, Kartoffelsuppe, abgesottene Kartoffeln und Ziger (Quark mit Rahm vermischt). Den Ziger strichen wir aufs Brot und streuten Schnittlauch drauf. Für uns eine Köstlichkeit. Zur Feldarbeit nahmen wir Buttermilch mit.“
 
Übrigens werden in einigen ländlichen Gaststätten im Südschwarzwald auch Ziger mit Kümmel oder Schnittlauch angeboten. Etliche Wanderfreunde sind ganz aus dem Häuschen, wenn sie die einfache Kost mit Bauernbrot konsumieren.
 
Verschüttetes Mittagessen
Zu jener Zeit mussten, wie unsere Schwarzwälderin berichtete, ihre Mitschülerinnen immer das Mittagessen für ihre Väter und Mütter in die Spinnerei in Rohmatt bringen. Oft nahmen die Kleinen Abkürzungen, rannten mit den gefüllten Essensbehältern den Berg hinunter, es wurde gescherzt, gelacht und gesungen. Plötzlich ein Schrei! Eine Mitschülerin stolperte und purzelte einen kleinen Abhang hinunter. Sie rappelte sich auf, zum Glück hatte sie nur eine kleine Schramme, aber, oh weh, das Essen lag im Gras verstreut. Was tun? Nun, die Kleinen wussten sich zu helfen. Mit vereinten Kräften wurde das Essen in den Topf zurück gebracht. Der Vater, der später genussvoll die „Suppe auslöffelte“, wunderte sich nur, dass einige Grashalme im Essen waren. Es gab keine Rückfragen, ein mögliches Donnerwetter blieb aus.
 
Eines Tags ging es wieder von Häg aus bergabwärts in Richtung Rohmatt. Einige Schülerinnen hatten Essen in Töpfen dabei, und unsere Agnes ihren Schulranzen. Plötzlich wurde sie von einem natürlichen Bedürfnis übermannt (überfraut). Sie warf den Schulranzen hin und verschwand hinter einem Busch. Die Mädchen gingen plappernd weiter. Agnes beeilte sich, ihr Geschäft zu verrichten und sauste den lachenden Gören nach. Kurz vor Rohmatt war die Stimmung jedoch plötzlich „im Eimer“, sie bemerkte, wie leicht doch der Schulranzen heute auf ihrem Rücken sei. Es war nämlich keiner mehr vorhanden. Sie musste ihn bei ihrem Abstecher vergessen haben. Sie keuchte den Weg bergauf und holte das vergessene Stück zurück.
 
Bitte nicht fotografieren
Auf die Frage, ob sie aus der damaligen Zeit einige Foto habe, meinte Agnes: „Aus meiner Jugend sind nur wenige vorhanden. Mein Grossvater sagte immer wieder, wer sich fotografieren lässt, der sei stolz und eitel.“
 
Strenge Mutter
Kinder konnten sich damals nicht alles erlauben. Die strengen Eltern wachten über Sitte, Moral und Anstand. Der sonntägliche Kirchgang wurde zur Pflicht. Es wurde auch streng darauf geachtet, dass Katholiken nicht in evangelische Gottesdienste gingen, wie die folgende Episode beweist. Als unsere junge, fesche Agnes schon am Vortag mit Freundinnen auf ein sonntägliches Fest nach Gersbach gehen wollte, wurde ihr das von der Mutter versagt. Zu jener Zeit war nämlich Gersbach (heute Schopfheim-Gersbach) evangelisch und Rohmatt katholisch. Sie musste erst in Häg zur Frühmesse, dann konnte sie sich mit Gottes Segen auf den Weg nach Gersbach machen.
 
Auch bei uns wurde in den 50er- und 60er-Jahren immer peinlich darauf geachtet, dass ein Katholik auch den katholischen Gottesdienst besuchte. In unserem Wohnort in Bayern war von etwa 1000 Bewohnern damals nur eine evangelische Familie. Diese galt in den Augen der „scheinheiligen“ Katholiken als Aussenseiter! Scheinheilig deshalb, weil sehr bigotte Leute, wie unsere damalige Vermieterin, ausserhalb der Kirche kein christliches Verhalten an den Tag legten. Später besserte sich der Zustand, als immer mehr Evangelische in den Ort strömten.
 
Und nun folgen weitere Geschichten aus dem Schwarzwald.
 
Er kam als Schlossgeist
Albert Widmer, letzter Besitzer des Stettener Schlösschens, wurde „Schlössle-Berti“ genannt und war Feldhüter, Fleischbeschauer, Hausmetzger, Amtsgehilfe und „halber Viehdoktor“. Der vielseitig begabte Mann schlüpfte eines Tages sogar in die Rolle eines Schlossgeists. Das kam so: „Mein Mann geht um Mitternacht auf den Acker, um ihn zu entwässern. Kannst Du mir helfen?“ Schlössle-Berti dachte sich, der Mann gehöre nachts ins Bett seiner Frau und nicht aufs Feld. „Ich werde Dir helfen. Dem Burschen werde ich gehörig einheizen“, meinte er verschmitzt. Bereits am nächsten Abend hing er sich ein Bettlaken um, ging aufs Feld und wartete auf den nächtlichen Arbeiter. Als dieser auftauchte, sprang der „Geist“ hinter einem Busch hervor und erschreckte ihn. Von nun an blieb der Mann nächtens zu Hause. Zurück blieben ein eingeschüchteter Bauer und eine zufriedene Ehefrau.
 
Quelle: Erzählung der 87-jährigen Luise Widmer, „Badische Zeitung“ vom 17.08.1996.
 
Unter Beobachtung
Schauplatz Dorf: Früher sassen nicht nur Neugierige vor fast jedem Haus auf einer Bank (in manchen Gemeinden ist das heute noch üblich), sondern vor allem auch die normalen Bewohner. Sie strickten, häkelten oder machten sonst irgendetwas, beobachteten jede Bewegung der Dorfbewohner, die des Weges kamen. Es wurde getratscht, dass sich die Balken bogen. So auch in Oftersheim, Nordbaden. Als nach dem Krieg des Öfteren der Gendarm bei einer Hausbewohnerin auftauchte, wussten die Neugierigen, dass die Jungs wieder einmal etwas ausgefressen hatten. Die geplagte Mutter schüttete eines Tages einer Nachbarin das Herz aus. „Was werden die Leute sagen, wenn schon wieder die Polizei ins Haus kommt“, meinte sie. Die Nachbarin tröstete die aufgebrachte Frau mit folgenden Worten: „Morgen ist das längst vergessen, da treibt ein Bauer seine Kuh durchs Dorf. Die hat einen längeren Schwanz, dann gibt es einen anderen Gesprächsstoff.“
 
Die Neugierde bestimmter Leute kennt keine Grenzen. Als wir in den 1970er-Jahren in Biberach an der Riss wohnten, wurde ein Arbeitskollege, der eine Freundin besuchte, von einer Nachbarin aus dem geschlossenen Fenster mit Argusaugen beobachtet. Als sich diese ertappt glaubte, verschwand sie hinter einem Vorhang. Der Vorhang bewegte sich dann noch einige Zeit. Da wusste er, dass die Frau weiterhin das Sehorgan schweifen liess. In anderen Fällen wussten diese neugierigen Menschen genau, wann ein Fremdgänger seine Geliebte aufsuchte.
 
Auch in unserer Zeit gibt es Erdenbürger, die aus Langeweile oder aus Neugierde die Ankommenden oder Vorübergehenden genau in Augenschein nehmen. Wir stehen also nicht durch die nationalen Geheimdienste unter ständiger Beobachtung, sondern auch von unseren lieben Mitmenschen.
 
Wäre ich doch ein Huhn
Ein Todtnauer zum Ortspfarrer: „Wenn ich wieder auf die Welt komme, dann wäre ich gern ein Huhn.“ Der Pfarrer: „Warum?“ Antwort des Todtnauers: „Dann bräuchte ich am Morgen nur ein Ei zulegen, dann hätte ich Feierabend und könnte den ganzen Tag mit dem Hahn spazieren gehen.“ Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht so Arbeitswillige lieber ein Huhn wären.
 
Geschrei der Vögel
Bevor Truppen sengend und plündernd durchs Land zogen, brachten Beauftragte der Stadt Schopfheim – dies war auch in anderen Orten der Fall – Glocken, Turmuhren und Orgeln nach Basel in Sicherheit. Die Kirchenfenster gingen bei den Raubzügen oft zu Bruch. Der Chronist: „In Folge davon nisteten die Vögel im Sommer so zahlreich in der Kirche, dass, abgesehen von anderen Unzulänglichkeiten, die Predigt vor ihrem Geschrei öfter nicht zu verstehen war. Im Winter aber wurden Schnee und Kälte so heftig durch den Wind in die Kirche getrieben, dass die meisten Stühle mit Schnee bedeckt waren und die Leute gar übel froren.“
 
Das erlebten wir Kinder auch in der Nachkriegszeit. Wir mussten trotz Kälte und Schneefall immer an den Sonntagen die Kirche aufsuchen. In der Kirche war es so kalt, dass wir trotz dicker Winterkleidung besonders an den Füssen froren. Erst später wurde in diversen Kirchen eine Heizung eingebaut. Die gläubigen Schäfchen sollten ja nicht zitternd der Predigt des unterkühlten Pfarrers lauschen. Findige Geistliche stellten auf der Kanzel einen Heizstrahler auf. Dann dauerte die Predigt länger.
 
Quellen
Eberlin, August: „Geschichte der Stadt Schopfheim“, Verlag Uehlin, Schopfheim 1878.
Frei, Karl: „Ofdascha Schbroch un Geschischde“, Eigenverlag, Oftersheim 1979 und „Schwetzinger Zeitung“ unbekannten Datums.
Humpert, Theodor: „Todtnau, Wesen und Werden einer Schwarzwaldgemeinde“, Eigenverlag, Todtnau 1939.
 
 
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