Textatelier
BLOG vom: 02.09.2013

Gedichte auswendig lernen und das Gedächtnis trainieren

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
In einem Buch von Prof. Dr. Ernst Pöppel und Dr. Beatrice Wagner mit dem Titel „Je älter desto besser ‒ Überraschende Erkenntnisse aus der Hirnforschung“ lese ich folgenden Passus:
 
Eine weitere Motivation für mich, ein Gedicht zu lernen, ist: Ich stelle damit einen zeitübergreifenden sozialen Bezug her. So ist zum Beispiel dem Anfang des Liedtextes „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius die Übersetzung eines Gedichtes der griechischen Dichterin Sappho, die vor über 2500 Jahren lebte, gegenübergestellt. Allerdings geht das Gedicht bei Sappho anders weiter als bei Claudius, es wird erotisch.
 
Sappho war eine griechische Dichterin, geboren zwischen 630 und 612 v. u. Z.; gest. um 570. Sie gilt als bedeutendste Lyrikerin des klassischen Altertums.
 
Das Gedicht, das Prof. Pöppel meint, lautet in der Übersetzung aus dem Altgriechischen: 
Untergegangen ist zwar der Mond
und die Pleiaden. Nachtmitte schon
und vorbei geht die Stunde.
Ich aber schlafe alleine. 
Bei berühmten Gedichten gibt es immer auch unterschiedliche Übersetzungen, Auslegungen und Nachdichtungen. Eines davon ist vom Schriftsteller Raoul Schrott:
 
Und untergegangen ist der mond mit den pleiaden – versunken mitten im dunkeln – aus der schale der nacht rinnt die zeit und nur ich – ich schlafe allein
 
August von Platen schrieb:
Schon flüchtet Selana, die reine,
schon taucht ihr unter, Plejaden,
die Nacht und die Stunden laden:
ich ruhe noch immer alleine.
 
Für Prof. Pöppel wird es „erotisch“, ich kann keine weitere Strophe entdecken. Ob er damit den letzten Satz meint, „ich schlafe alleine“?
 
Auch dass das bekannte Gedicht von Matthias Claudius, geb.15.08.1740, gest. 21.01.1815, eine Übersetzung sein soll, erschliesst sich mir nicht. Hier die 1. Strophe: 
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weisse Nebel wunderbar
Ich habe mir eine Variante dieses Gedichtes einfallen lassen, die es „erotisch“ werden lässt: 
Der Mond ist aufgegangen.
Hab’ Storen aufgehangen
Damit er nicht mehr stört
Mit seinem frechen Schimmer
Lugt er ins Liebeszimmer
Hat mir die Frau betört! 
Das oben erwähnte Buch von Ernst Pöppel handelt vom Älterwerden und davon, dass es unter anderem im Alter darum geht, den „Muskel Gehirn“ zu trainieren, um sich geistig und körperlich fit zu halten. Er bekennt einen weiteren Grund, Gedichte auswendig zu lernen:
 
Neben dem Erstellen einer inneren Bibliothek geht es mir beim Gedichtelernen noch um etwas anderes: Gedichte kann ich auch in ein Gespräch einflechten (...) weil mein Gegenüber dann meist lieber über Gedichte und das Phänomen des Auswendiglernens spricht. Und auf diese Weise bediene ich auch meine – allzumenschliche – Eitelkeit.
 
Ich persönlich lerne keine Gedichte mehr auswendig, kann aber einige, die ich vor Jahrzehnten gelernt habe, ganz oder teilweise zitieren. Es sind überwiegend Gedichte, die sich reimen, sie sind meistens aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Auch an Varianten und Kurzformen kann ich mich erinnern: 
Das Lied der Glocke nach Friedrich Schiller
Loch in Erde
Bronze ´rin
Glocke fertig
Bim, bim bim! 
Prof. Pöppel betont, dass Gedichte „zeitliche Abläufe“ organisieren. Ein Gedicht zeichne sich dadurch aus, dass es eine klare zeitliche Struktur habe, denn eine Verszeile eines Gedichts, im normalen Tempo gesprochen, dauere 3 Sekunden, bzw. bei Alexandriner oder Hexameter sei eine Sprechpause oder Zäsur vorgesehen.
 
Immer nach 3 Sekunden sei das Gehirn in hohem Mass bereit, neue Informationen aufzunehmen. Das sei genau das Prinzip des Gegenwartfensters. Dass Gehirn sei alle 3 Sekunden besonders empfänglich für etwas Neues. Dies sei ein Grundrhythmus des Lebens, wie auch bei Untersuchungen mit der Magnetenzephalografie (MEG) festgestellt worden sei.
 
Wollen Sie Ihr Gehirn trainieren? Wie Sie oben erkennen, gibt es 2 schöne Möglichkeiten: das Originalgedicht lernen oder sich eine eigene Variante ausdenken und diese im Gedächtnis behalten!
 
 
Quellen
Pöppel, Ernst; Wagner, Beatrice: „Je älter desto besser“, Gräfe und Unzer, München 2010, S.22.
von Platen, August, in:“Liebesdichtung der Griechen und Römer. Zweisprachig“, Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1963, S. 53.
Schrott, Raoul: „Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“, Eichborn, Frankfurt am Main 1998, S. 115
 
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