Textatelier
BLOG vom: 18.10.2013

Das grosse Schweigen: Sprachlosigkeit in Altenheimen

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
In Alten- und Pflegeheimen herrscht Sprachlosigkeit. Ein Grund könnte sein, dass die Funktion des Gehörs nachlässt und es schwieriger wird, auf einen Redebeitrag einzugehen. Ein anderer Grund könnte sein, dass das Gehirn das Gehörte nicht mehr richtig aufnimmt und dass es gleich wieder in Vergessenheit gerät. Die Schaltstellen im Gehirn sind verkalkt, manchmal verklumpt, regeneriert. Meines Erachtens ist das aber nicht die einzige Ursache für das Schweigen; es kommt hinzu, dass das Interesse an der Welt nachlässt. Alles, was geschieht, wird nicht mehr als wichtig, als wert erachtet, darüber zu reden und zu reflektieren. Die alten Menschen fühlen sich gefüllt.
 
Die Tage gehen vorüber. Der Ablauf ist überschaubar: aufstehen, waschen und anziehen, das Frühstück, das Mittagessen, manchmal Kaffee trinken, das Abendessen und das Zubettgehen. Angebote des Altenheims für Spiele wie Bingo, Tanztees, Gymnastik werden oft nicht wahrgenommen. Die Zeitung? Ja, vor einem Jahr wurde sie noch regelmässig gelesen, jetzt nicht mehr. Wozu auch?
 
Das Leben ist gelebt worden. Jetzt ist genug. Es wird auf den Tod gewartet. Die Kraft, die innere Einsamkeit, die sich eingestellt hat, zu überwinden, wird nicht mehr aufgebracht. Kein Aufbäumen mehr gegen ein Gefühl von Langeweile.
 
Das Leben reduziert sich auf die einfachsten Bedürfnisse. Vor dem Esssaal am Mittag warten die Alten schon eine halbe Stunde oder länger, bevor das Essen ausgegeben wird. Ist es die Angst, nichts mehr zu essen zu bekommen? Ist es die Angst, zu spät zu kommen und die Zeit zu vergessen? Selten, dass die Wartenden ein Gespräch beginnen. Höchstens die Frage, was denn heute serviert wird und ob es besser schmecken wird als das letzte Mal.
 
Der Anruf der Tochter dreht sich nur noch darum. Was gab es heute zu essen? Oft weiss es die Mutter oder der Vater schon kurze Zeit danach nicht mehr. Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr wie früher; vieles wird nicht mehr gespeichert, sondern vergessen.
 
Die Enkelkinder kommen am Sonntag zu Besuch. Die Augen der Oma leuchten, Stolz ist zu erkennen. Ein echter Kontakt entsteht nicht. Es ist, als ob beide an verschiedenen Ufern stehen. Eine unüberbrückbare Schlucht tut sich auf. Die Enkel spielen mit ihren kleinen elektronischen Dingern. Sie zeigen es der Oma, aber die erkennt kaum etwas und versteht nichts. Kann ich dir eine E-Mail schicken? fragen sie. Du hast kein Smartphone? Du kannst nicht chatten? Damit ist die Oma nicht mehr von dieser Welt. Mit ihr ist nichts anzufangen.
 
Das nächste Mal, wenn es um einen weiteren Besuch geht, maulen sie. Was soll ich denn da? Man kann ja gar nicht mit ihr reden!
 
Warten auf den Tod. Aber er lässt auf sich warten. Und der Körper reagiert mit allerlei Gebrechen, eine Pille gegen die Arthrose, eine gegen den Zucker, eine fürs Blut, eine fürs Herz. Und eine für die Nacht und eine für den Tag, eine für die Schmerzen und eine gegen ungute Gefühle.
 
Ein Schlaganfall macht das Leben schwieriger. Jetzt ist die Kommunikation noch weniger möglich geworden. Ich weiss nicht, was sie will! Da muss sie sich schon bemühen! Sie kann es nicht mehr. Ist das leben oder vegetieren?
 
Das Leben als Kreislauf. Das Baby bei der Geburt kann seine Bedürfnisse nur durch Schreien artikulieren. Nur langsam entwickelt sich der Kontakt zur Mutter und zur Umwelt. Der gesamte Prozess ist gut erforscht. Erst nach Monaten ist ausführlicher erkennbar, was das Kind will oder nicht will, wen und was es mag oder nicht. Und täglich erweitern sich die Fähigkeiten.
 
Im Alter geht der Prozess rückwärts. Manche alten Menschen schreien im Alter, aber die meisten schweigen. Der Körper und seine Funktionen bauen immer mehr ab, irgendwann kann der alte Mensch sich nicht mehr selbst versorgen, nicht mehr gehen, nicht mehr kommunizieren, wird gewickelt, wird gefüttert, wird bewegt, vor den Fernseher gesetzt, beschallt. Ein Wasserbett gaukelt die pränatale Phase vor. Bis das grosse Nichts kommt, der endlose tiefe bewusstlose Schlaf. Die Auflösung.
 
Das grosse Schweigen.
Was denkst du, Mutter?
Nichts, mein Kind, das Denken ist so schwer geworden.
Wenn die Mutter das sagen kann, kann sie noch sagen, dass sie nichts mehr zu sagen hat.
 
Niemand weiss wirklich, was es heisst, dement zu sein. Wer es noch nicht ist, kann sich nicht hineinfühlen. Wer es ist, kann seine Empfindungen nicht mehr artikulieren. Ist es am Ende ein Dahindämmern, ist es ein Träumen in Erinnerungen ohne ein richtiges Erwachen? Es muss Einsamkeit sein, ein Empfinden des Fremdseins, denn die Krankheit führt zur Amnesie. Aber ist das viel anders als das Insichgekehrtsein im Alter, das grosse Schweigen?
 
Mancher Zeitgenosse, der in die Jahre gekommen ist, fragt sich, ob es nicht der bessere Weg wäre, den Prozess abzukürzen. Bei den ersten Anzeichen Schluss zu machen. Und dann tut er es doch nicht, es geht noch – und man hängt doch am Leben! Trotz der Angst, ein Pflegefall, künstlich beatmet und ernährt, eine Pflanze zu werden. Der letzte Schritt ist ein schwerer Schritt.
 
Wenn man sie fragt, bekommt man häufig zu hören: Angst vor dem Tod habe ich nicht, nur vor dem Sterben. Und das wird lange Zeit vor dem Eingang ins Schweigen gesagt.
 
Die fahle Ungestimmtheit der Gleichgültigkeit vollends, die an nichts hängt und zu nichts drängt und sich dem überlässt, was je der Tag bringt, (...) demonstriert am eindringlichsten die Macht des Vergessens …sagt Martin Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“.
 
Gleichgültig, was der Tag bringt, es wird doch vergessen. Sprachlos gegenüber dem, was geschieht, mit dumpfem Empfinden. Sehnsucht nach dem Tod. Der letzte Wunsch, dass es bald geschieht, rasch, im Schlaf. Das Eintauchen in den Zustand vor der Zeugung, die Rückkehr ins Nichts. Der ewige Kreislauf des Lebens, der Tribut an die Evolution. Auch wenn mit ihr nicht erklärt wird, warum die Menschen immer älter werden.
 
Der Tod ist Neuorientierung, so wie alle Stoffe sich wandeln und andere Bindungen eingehen, so passiert es auch mit dem Körper. Seine Energie verlässt den Körper, der verfällt. Es verbleibt im Nirwana, bis wieder eine Heimat gefunden wird, neue Bindung, ein neues Leben.
 
Quelle
Heidegger, Martin: „Sein und Zeit“, Tübingen, 1979, 15. Aufl., S. 345.
 
 
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