Textatelier
BLOG vom: 03.11.2013

Beinahe ein Märchen: Wolkengebilde und Schildkröteneier

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Marco lag auf der Wiese. Es war einer dieser Oktobertage, die man goldene nennt, ein warmer Spätherbsttag. Marco liebte diese Wiese, und immer, wenn er das Verlangen hatte, allein zu sein, einfach seinen Gedanken nachzuhängen und sonst nichts, ging er hierhin. Die Wiese war nicht weit von seiner Wohnung entfernt, nur wenige hundert Meter von der Strasse weg. Sie war nicht umzäunt, die Grösse lohnte sich wohl nicht, um darauf Kühe grasen zu lassen. An der einen Seite war ein Getreidefeld und an der anderen der Rand eines kleinen Wäldchens.
 
Es war ein wenig windig, und die Ähren schwankten rhythmisch hin und her, wie eine Wellenbewegung auf dem Meer. Der Himmel war blau und grosse, weisse Wolken bewegten sich schnell in östliche Richtung. Marco starrte in den Himmel. Wie schon so oft, versuchte er, in den Wolkenformationen etwas zu entdecken. Meistens waren es Fabeltiere, die er für kurze Zeit sah, bis die Wolken auseinander rissen und die Figur wieder verschwinden liessen.
 
Marco dachte an die heutigen Morgenstunden. Er wollte zum Friseur und im Städtchen sprach ihn ein älterer Mann an, ob er ihm etwas Geld geben könne. Nicht umsonst, sondern er wolle ihm auch etwas dafür geben. Marco dachte schon, dass der Mann eine Obdachlosenzeitung verkaufen wollte. Die Organisatoren hatten Verträge mit den Verkäufern, die ihnen die Hälfte des Verkaufserlöses garantierten. Dadurch hatten die Obdachlosen die Möglichkeit, einen Teil ihres Lebensbedarfes zu bestreiten. Das war es aber nicht, was der Obdachlose verkaufte, sondern ein paar Blätter mit selbst verfassten kleinen Geschichten und Gedichten.
 
Marco steckte die Blätter achtlos ein und drückte dem Mann ein paar Münzen in die Hand. Nach dem Besuch beim Friseur ging er in einen Bäckerladen, um sich eine Wegzehrung zu kaufen und hatte nicht nur eins, sondern zwei dieser Rosinenbrötchen gekauft, die er so gern ass. Das eine biss er sogleich an. Der Obdachlose war noch an dem Platz, an dem er auch vorher gesessen hatte und Marco schenkte ihm mit einem Lächeln die Tüte mit dem süssen Gebäck. Der Mann nahm es dankbar an, aber Marco ging nach ein paar Worten, mit denen er ihm viel Erfolg wünschte, weiter und sah gar nicht, wie der Obdachlose es sich schmecken liess.
 
Hier auf der Wiese erinnerte sich Marco daran, dass er die Blätter in die Seitentasche seiner Jacke gesteckt hatte. Er nahm sie heraus, um ein wenig darin zu lesen. Eine Geschichte hatte die Überschrift: Die Erfüllung zweier Wünsche.
 
Er las: Marco, Sie haben mir heute Morgen meine kleine Schrift abgekauft und mir später einfach so, ohne Grund, ein Gebäckstück geschenkt, das mir sehr gut geschmeckt hat. Ich möchte mich dafür bedanken. Sie haben 2 Wünsche frei. Es sollen keine materiellen Wünsche sein, sondern ideelle. Wählen Sie sorgfältig!
 
Nachdenklich las Marco noch einmal den ersten Satz. Richtig, da stand sein Name und erwähnt wurde, was im Text stand, war auch wirklich geschehen. Wie war das möglich? Das mit den Wünschen nahm Marco nicht ernst. Was sollte das sein: ideele Wünsche?
 
Er legte die Blätter beiseite und schaute wieder zum Himmel empor. Die Wolken hatten sich zu einem Gebilde geformt, das aussah wie eine Schildkröte. Sogar die Augen konnte Marco erkennen; dort waren die ansonsten weiss-gräulichen Wolken etwas dunkler. Man konnte den Hals erkennen, der in einen ovalen, länglichen Panzer hineinführte, aus dem hinten ein kleiner Schwanz ragte. Die Schildkröte bewegte sich kaum; nur die Wolken unterhalb wurden durch den Wind, der dort oben herrschen musste, weitergeschoben.
 
Marco dachte, die Schildkröte würde er gern hier auf der Wiese haben. Aber das Wolkengebilde war schon aus der Entfernung von der Erde zum Himmel gut erkennbar, musste also ziemlich gross sein. Und so dachte sich Marco, nur ein wenig kleiner müsste sie sein.
 
Kaum hatte er die Gedanken getan, löste sich die Wolkenformation auf. Marco richtete sich ein wenig auf. Er traute seinen Augen nicht, auf der Wiese stand eine weiss-graue Schildkröte und schaute ihn an.
 
Marco blinzelte mit den Augen. Nein, es war kein Trugbild, das ihn die Sonnenstrahlen vorgaukelten. Es war wirklich eine Schildkröte. Sie war grösser als das Exemplar, das er vor einiger Zeit im Zoo gesehen hatte und von dem es hiess, dass sie bereits über 100 Jahre alt war. Die Schildkröte kam langsam auf Marco zu.
 
Sie hatte grosse Ähnlichkeit mit dem Wolkengebilde, war allerdings um einiges kleiner. 2 Wünsche! fiel es Marco ein, er hatte 2 Wünsche gedacht! Und jetzt waren sie ihm erfüllt worden.
 
Die Schildkröte nagte am Gras. Marco überlegte, was er denn jetzt tun sollte. Er konnte das Tier nicht hier auf der Wiese lassen. Schildkröten brauchen Grünzeug zum Fressen und ausser Gras wuchs hier nicht viel. Sie musste einen Platz haben, an dem sie sich zurückziehen konnte.
 
Marco dachte an seinen kleinen Garten und an die Gartenscheune, in der nur ein paar Gerätschaften standen. Dort würde er sie unterbringen. Er würde eine Umzäunung bauen, in der das Tier herumlaufen konnte.
 
Marco griff den Panzer der Schildkröte und hob sie hoch. Sie wog einiges, er musste mit beiden Händen tragen. Das Tier zog seinen Kopf in den Panzer zurück. Dann trug Marco es zum Haus, ging in seinen Garten, legte das Tier auf den Boden, räumte die Gartengeräte zusammen und schloss die Tür.
 
Dann fuhr er zum Supermarkt und kaufte Salat, Möhren und Tomaten ein. Nebenan im Baumarkt erstand er Draht und ein paar Pfähle. Dann fuhr er zurück.
 
Vorsichtig öffnete er die Tür des Schuppens. Die Schildkröte hatte ihren Kopf und Hals wieder aus dem Panzer geschoben und sah ihn mit grossen dunklen Augen an. Dann begann sie, den Salat zu knabbern.
 
Marco kam auf die Idee, ein Foto zu machen und so holte er den Apparat und knipste. Das Tier frass seelenruhig weiter und liess sich nicht stören.
 
Es war spät geworden, und Marco beschloss, die Abzäunung am nächsten Tag zu machen. Er schloss die Tür der Scheune ab und liess die Schildkröte allein.
 
Am Abend überlegte er, was er seiner Paula erzählen sollte. Dass er durch Wünschen eine Wolkenfigur zum Leben erweckt und auf die Erde gezaubert, sie sogar in die Scheune gebracht hatte?
 
Sie wird mich auslachen, dachte er. Ich mag sie sehr, aber sie ist ganz anders als ich, eher nüchtern und realistisch. Ob wir auf Dauer glücklich werden können?
 
Am Morgen, die Freundin war bereits zur Arbeit gefahren, ging er in die Scheune. Die Schildkröte war nicht mehr da. Er suchte in allen Ecken, sie war verschwunden. An der Stelle, an der er sie am Abend verlassen hatte, war nur ein feuchter Fleck auf dem Holzboden zu sehen. Er hatte die Umrisse einer Schildkröte. In einer Ecke entdeckte Marco auf einem Salatblatt 2 Schildkröteneier. Sie waren, gemessen an der Grösse des Tiers, eher klein und leuchteten golden.
 
Marco nahm ein Ei und ging in die Stadt. Der Bettler, dem er das Gebäck gegeben hatte, sass wieder an derselben Stelle. Er grüsste ihn und überreichte ihm das Schildkrötenei. Der Mann dankte, lächelte weise und schwieg. Marco verstand.
 
Zu Hause nahm er das andere Ei, legte es auf die beschriebenen Blätter des alten Mannes und verstaute es in einer Dose im Schrank.
 
Für schlechte Zeiten, dachte er.
 
Als er nach der Arbeit wieder nach Hause kam, war Paula darin vertieft, die Texte des alten Mannes zu lesen. Die Dose stand offen, und das goldene Schildkrötenei lag darin. Paula sagte, sie habe etwas gesucht, sei auf die Dose gestossen und habe den Inhalt entdeckt.
 
Und was das für ein seltsames Ei sei, fragte sie. Marco erzählte ihr die Geschichte. Paula sah ihn ungläubig an.
 
„Eine Schildkröte aus einer Wolkenformation?“, fragte sie und lachte, „du spinnst! Du mit deiner Phantasie!“
 
Marco erinnerte sich daran, dass er das Tier fotografiert hatte. Er wollte es ihr beweisen und holte die Kamera. Er schaltete sie ein und suchte die gespeicherten Bilder auf.
 
Zu seiner Überraschung war nicht die Schildkröte auf den Fotos zu sehen, sondern der alte Mann von gestern. Er lächelte mit einem gütigen Gesicht.
 
„Sag’ ich doch, dir ist deine Phantasie mit dir durchgegangen!“, sagte seine Freundin, „wer ist denn der alte Mann, der da sitzt? Ist das Bild wirklich von gestern?“
 
Marco war verwirrt. Sollte er alles nur geträumt haben?
 
„Und woher sollte ich wohl ein Schildkrötenei her haben, zumal noch vergoldet?“, sagte er triumphierend und streckte ihr es auf der Handfläche entgegen.
 
„Vielleicht aus dem Schmuckgeschäft in der Stadt an der Ecke?“, sagte Paula.
 
„Da war ich noch nie drin!“, betonte Marco.
 
„Soll das vielleicht eine Geburtstagsüberraschung für mich sein?“, warf Paula schmeichelnd ein.
 
Marco schwieg. Soll sie doch glauben, was sie will. Auf jeden Fall war die ganze Sache sehr mysteriös. Er nahm sich vor, noch einmal den alten Mann aufzusuchen.
 
Am Tag darauf fuhr er wieder in die Stadt. Der Mann war nicht mehr da. Marco fragte nach ihm, aber niemand schien ihn zu kennen.
 
Marco ging in das Schmuckgeschäft und zeigte dem Juwelier das goldene Ei.
 
„Gefällt es Ihrer Freundin nicht?“, fragte er.
 
„Doch, doch!“, versicherte Marco, „könnten Sie da noch ein Kettchen dran befestigen?“
 
Der Juwelier sagte, das sei kein Problem. „Es ist wirklich ein einzigartiges Stück, sehr gut gefertigt“, vollendete er seine Zusage.
 
„Es gibt kein zweites ähnliches Exemplar?“, fragte Marco.
 
„Meines Wissens nicht, ich habe noch nie eines gesehen, aber ich müsste den Künstler fragen, wenn er einmal wieder auftaucht“, sagte der Juwelier, „es ist ein erfahrener älterer Herr, ein richtiges Genie!“
 
„Hat er ein Atelier, wissen Sie wo er wohnt und arbeitet?“, fragte Marco.
 
„Er kommt, zeigt und verkauft mir die Arbeiten, die ich haben will und verschwindet wieder“, sagte der Juwelier, „ich weiss nicht, wo er sein Atelier hat. Ich kenne und schätze ihn und seine Kunst seit vielen Jahren.“
 
Nachdenklich verliess Marco den Laden. Den Mann gab es wirklich, ob es die Schildkröte auch wirklich gegeben hatte, daran zweifelte Marco inzwischen.
 
Das Rätsel wurde nie gelöst. Ein paar Monate später heiratete er Paula. Sie trug das goldene Schildkrötenei immer an einem Kettchen um ihren Hals.
 
„Es ist mein Talisman und bringt mir Glück“, behauptete sie, „wusstest du eigentlich, dass der Gott der Hindus, Brahma ein Jahr lang in einem goldenen Ei gesessen und danach aus den 2 Hälften den Himmel und die Erde erschaffen hat? Ausserdem ist das Ei der Sitz der Seele!“
 
Noch immer geht Marco auf seine Wiese, legt sich ins Gras, sieht den Wolken zu und träumt. Eine Schildkröte konnte er nicht wieder erkennen. Er weiss jetzt, welche Wünsche wirklich erfüllt wurden.
 
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