Textatelier
BLOG vom: 25.11.2013

Versuch über Peter Handke, „Meister der leisen Töne“

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Was ist ein Versuch? Ein Experiment wird mir gesagt, ein Ausprobieren von etwas, ein Test, aber auch die angeblich veraltete Bezeichnung für ein Essay.
 
Ich lese seit vielen Jahren die Bücher von Peter Handke. Auf dem Umschlag zu einem Buch von ihm wird der Autor vom Literaturkritiker Volker Wieckhorst vom Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt gelobt, das Buch sei grandios, filigranste Prosa, weil der Meister der leisen Töne zu einer Melodie gefunden hat, wie wir sie noch nicht gehört haben.
 
Er könnte getrost das Lob auf alle Bücher von Peter Handke übertragen, jedenfalls auf die, die ich bereits gelesen habe. Es ist immer filigranste Prosa. Meistens passiert darin nicht viel, jedenfalls nicht das, was man mit dem neudeutschen Wort Action bezeichnen könnte. Handke ist ein genauer Beobachter, der das Gesehene, das Gehörte und das Gefühlte aufnimmt, in seine Vorstellungs- und Gedankenwelt einbezieht und dann beschreibt.
 
Handke lässt uns daran teilhaben. Durch die Lektüre seiner Bücher habe ich Details sehen und hören gelernt. Die Sätze sind häufig nicht kurz, sondern mit vielen Nebensätzen gestaltet, die zur präzisen Darstellung eines Sachverhaltes erforderlich sind. Es kommt vor, dass ein Satz eine ganze Buchseite umfasst. Es ist genaues und intensives Lesen erforderlich, will man alles aufnehmen, was dargestellt wird.
 
In Stilübungsbüchern wird vor Schachtelsätzen gewarnt. Der berühmte rote Faden des Gedankens gehe verloren, am Ende des Satzes wisse der Leser nicht mehr, wie der Beginn war, die Gefahr des Verhaspelns sei enorm.
 
Nicht so bei Peter Handke. Momentdarstellungen, nebeneinander gestellt, erscheinen wie Teile eines Gesamteindrucks.
 
Ich zitiere aus dem Buch „Mein Jahr in der Niemandsbucht – Ein Märchen aus den neuen Zeiten" aus dem Kapitel 4 „Geschichte meiner Freundin“:
 
„Sie mischte sich dazu (zu den Badenden), schwamm, wie sie vorhin gelaufen oder geschlendert war, und wurde von dem Meer, von welchem sie sich zugleich gar nicht genässt fühlte, unter den Achseln gegriffen, umfangen, bemuttert, als gelte es die Feier der Heimkehr der Verlorenen Tochter, und als habe es zum Löschen des wegtaglangen Dursts nichts gebraucht als das; tauchte, sah unten am Meeresgrund, halb im Sand, die Sarkophage eines versunkenen Altertumsfriedhofs, oder versteinerte Boote, kieloben?, setzte sich danach ans Ufer, mit dem Gesicht zum Landesinneren, aus dem jetzt, mit dem Fallwind von dort, Fallschirmspringer, ein ganzes Geschwader, zur Küste her abdrehen und, zum Teil ineinander verhakt zu Figuren wie bei einer Schau, hernieder schweben auf die ‚Bucht der Verlorenen Tochter’: aus der Nähe die Flügel von Lindenblüten, mit den daran hängenden Fruchtkugeln, umzackt inzwischen von Fledermausschwärmen.“
 
Das zu erfassen, geht nur, wenn sich der Leser in die Protagonistin hinein versetzt. Aber dann erscheinen die Bilder im Kopf, vom Meer, vom Schwimmen, vom Tauchen und Entdecken der versunkenen Altertümer; von der Beobachtung der Fallschirmspringer und dem Blick auf die Linde. Wenige Minuten nur, aber voll von (überwältigenden?) Eindrücken.
 
Nichts für mich, wollen Sie sagen? Mag sein. So wie ich mit Kriminalromanen nichts anzufangen weiss. Mich faszinieren seine Ausdruckskraft, seine Bilder, das Teilhabenlassen an seiner Gedankenwelt.
 
Ich habe diesen Text mit den Worten „Versuch über...“ begonnen, und das nicht von ungefähr.
 
Vor mir liegen 5 Bücher von Peter Handke, deren Titel alle mit genau diesen Worten beginnen. Mehr Versuche sollen es nicht werden, wie er selbst sagt.
 
1989 erschien das kleine Buch „Versuch über die Müdigkeit“. Das Essay beginnt mit der Kindheit und ist in einer Art Dialog angelegt, wobei der gedachte Gesprächspartner meist nur nachfragt, Präzision fordert. Über die Gedanken des Autors zur Müdigkeit erfährt der Leser, wie er dorthin gelangt:
 
„Ich habe dazu ein etwas grobes Bild von 4 Verhältnisweisen meines Sprach-Ichs zur Welt: In der ersten bin ich stumm, schmerzhaft ausgeschlossen von den Vorgängen – in der zweiten geht das Stimmengewirr, das Gerede von draussen, auf mein Inneres über, wobei ich aber noch immer gleich stumm, höchstens schreifähig bin – in der dritten kommt endlich Leben in mich, indem es da unwillkürlich, Satz um Satz, zu erzählen anhebt, ein gerichtetes Erzählen, an jemand Bestimmten meist, ein Kind, die Freunde – und in der vierten dann, wie ich es bisher am nachhaltigsten damals in der klaräugigen Müdigkeit erlebte, erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos, sich selber, mir wie dem grauhaarigen Zuschauernachbarn da und dem vorbeiwippenden Prachtweib dort; alles friedliche Geschehen war zugleich schon Erzählung und diese, anders als die Kampfhandlungen und Kriege, die erst einen Sänger oder Chronisten brauchten, gliederte sich in meinen müden Augen von selber zum Epos, noch dazu, wie mir einleuchtete, zum idealen: Die Bilder der flüchtigen Welt rasteten ein, eins und das andere, nahmen Gestalt an.“
 
Ich erkenne darin, wie der obige Augenblick „der Freundin“ Text geworden ist!
 
1990 erschien „Versuch über die Jukebox“. Der Autor ist im Text er, beschreibt sich also in der 3. Person selbst. Auch hierin gibt es eine Darstellung, wie er zum Text gelangt:
 
„,Dann übertrug sich dieses stille Erzählen des Gegenwärtigen auch auf seinen bevorstehenden, vielfältig-spielerisch gedachten ‚Versuch’: Er verwandelte sich, noch vor dem ersten geschriebenen Satz, in eine Erzählung, so zwingend und machtvoll, dass alle anderen Formen auf der Stelle nichtig wurden. Nicht schrecklich erschien ihm das, sondern über die Massen herrlich; denn im Rhythmus dieses Erzählens sprach die alleserwärmende Phantasie, der er, bei ihrem gar zu seltenen Eingreifen in sein innerstes Herz, noch immer geglaubt hatte, auch auf Grund der Stille mit ihr, selbst im schmetternden Lärm: die Naturstille, wie auch immer weit draussen, war dann nichts dagegen.“
 
Das Ereignis zu einer Erzählung machen, die Phantasie mitwirken lassen, so können Geschichten entstehen, die ein Bild im Innern des Lesers erzeugen!
 
Schon ein Jahr später, 1991, veröffentlichte Peter Handke seinen „Versuch über den geglückten Tag“. Auch hier wieder die Formen Ich-Erzähler, das Du, das Sein.
 
Der Autor beschreibt „die Tücke des Objektes“ und meint damit die Schwierigkeiten, einen geglückten Tag als solchen zu erkennen und zu beschreiben:
 
„Wann, anstelle des unentschiedenen Zickzacks draussen an den Peripherien, des zittrigen Grenzziehens an einer um so leerer wirkenden Sache, setzt du endlich, Satz für Satz, zu dem so leicht-wie-scharfen Schnitt, durch das Wirrwarr in medias res, an, damit dein obskurer ‚geglückter Tag’ beginnen kann, sich zu der Allgemeinheit einer Form zu lichten?“
 
Und zu Ende des Buches kommt er zu dem Schluss: „Also ist dein geglückter Tag nicht einmal eine Idee, nur Traum?
 
Ja. Mit dem Unterschied, dass ich ihn nicht gehabt habe, sondern, in diesem Versuch hier, gemacht. Siehe den so schwarz und klein gewordenen Radiergummi, siehe die Haufen von Bleistiftholz unter dem Fenster. Wendungen um Wendungen, im Leeren, für nichts und wieder nichts, an etwas Drittes, Unfassbares, ohne das wir beide aber verloren sind.’
 
Auch ein Versuch muss in eine Form gebracht, niedergeschrieben werden!
 
Mehr als 10 Jahre danach, „Die Tage gingen wirklich ins Land“, (auch ein Titel eines Buchs von 1995),erschien der nächste Versuch, 2012, mit dem Titel „Versuch über den Stillen Ort“. Zu Beginn beschreibt er, wie er auf die Idee kommt, „welche den Ausgangspunkt für mein nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Ortes und der stillen Orte bildet, und mit der jetzt hier dementsprechend der Anfang des Versuchs darüber gemacht werden soll.“
 
Es sind natürlich die Toiletten und Aborte gemeint, aber nicht nur: „Und so versteht sich, dass während der städtischen Studienjahre die schon lange vorher als still erlebten Orte wie die Milchstände am Rand der Landstrassen, die Heuschober und Heuharfen auf den Wiesen, und insbesondere die klitzekleinen hölzernen Feldhütten inmitten der Äcker aus der Ferne noch ungleich verstärkt die, wie es schien, von Zeit zu Zeit immer notwendigere Stille herstrahlten.“
 
Und an den stillen Orten findet der Autor seine Inspiration: „Draussen: Verstummen. Verstummtheit. Sprachloswerden. Sprachlosigkeit. Sprache verlieren. Sprachverlust. Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der anderen, von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet – verödet. (...) Kaum aber verschwunden im Stillen Ort: Die Sprach- und Wörterquelle springt frisch auf, frischer vielleicht denn je zuvor, selbst wenn der eben noch für allezeit Verstummte nach aussen hin nicht laut wird.“
 
Vor ein paar Tagen habe ich den letzten Versuch bekommen: „Versuch über den Pilznarren“.
 
Es ist eine Geschichte eines Mannes, für den Pilze zur Besessenheit werden. Der Autor schreibt dazu: „Eine Geschichte, wie die seinige, wie die sich ereignet hat, und wie ich sie, zeitweise aus nächster Nähe, miterlebt habe, ist jedenfalls noch keinmal aufgeschrieben worden.“
 
In diesem Buch wird die Naturerfahrung des Protagonisten beschrieben, so einmalig, wie es nur Peter Handke kann. Der folgende Satz passt genau in unsere Jahreszeit.
 
„Es war eine Erfahrung, zu lernen, wie anders im Herbst die Blätter all der verschiedenen Bäume fielen: wie die gezackten Ahornblätter mit Sturzflügen begannen und dann im Gleitflug sacht auf dem Erdboden aufsetzten; wie die Blätter der Edelkastanien, die grössten und zugleich dünnsten, in Form von Booten am längsten zum Fallen brauchten – nicht und nicht, obwohl längst frei in den Lüften, fallen wollten, immer wieder, auch im Moment der Erdberührung, neu Auftrieb bekamen und noch einmal aufwärts schaukelten-gaukelten; wie das Akazienlaub, in Fächerform, sich, fast alle Fächer auf einmal, vom Ast- und Zweigwerk löste und augenblicks fast als Ganzes zu Boden stürzte, gefolgt von den paar vereinzelten, allerletzten Blattfächern, die, statt gemeinsam zu stürzen, jeder für sich weg- und dahinsegelten; wie – aber geht und seht selber!“
 
Recht hat er, „geht und seht selber“ ruft er uns zu, und auf einmal fällt mir gar nicht mehr auf, dass er die gesamte Naturidylle in einen Satz gepackt hat, so packt es mich, hinaus in die Natur zu gehen und dem Fallen der Blätter nachzuspüren!
 
Ich wurde schon oft gefragt, was ich denn an den Büchern von Peter Handke „so finde“. Der Leser dieses Texts kann vielleicht die Antwort schon geben. Ich habe gesagt: „Jeder Satz von Peter Handke ist komponiert, er übt auf mich eine Faszination aus, die unbeschreiblich ist.“
 
Dem ist wenig hinzuzufügen. vielleicht konnten Sie meine Begeisterung ein wenig nachvollziehen. Ich würde mich freuen!
 
Quellen
Alle Werke von Handke, Peter:
Mein Jahr in der Niemandsbucht, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (Ffm.), 1994.
Versuch über die Jukebox, Suhrkamp Taschenbuch, Ffm., 2008, S. 70f.
Versuch über die Müdigkeit, Suhrkamp Taschenbuch, Ffm., 1992, S. 56f.
Versuch über den geglückten Tag, Ein Wintertagtraum, Ffm., Suhrkamp Verlag, 1991.
Versuch über den Stillen Ort, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012.
Versuch über den Pilznarren, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013, S.104f.
 
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