Textatelier
BLOG vom: 11.02.2014

Gehirn: An Temporallappenepilepsie vorbeigeschrammt

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Als Kind bin ich gern auf Bäume geklettert. Eines Tages, ich war 12 Jahre alt, habe ich mir wieder einmal die Pappel vorgenommen, die nicht weit von dem Haus, in dem meine Familie und ich wohnten, am Rande eines freien Platzes neben anderen Bäumen stand. Was dann geschah, weiss ich nur aus den Berichten meiner Eltern. Sie ahnen es schon: In etwa 6 m Höhe brach der Ast, auf den ich gestiegen war, und ich stürzte kopfüber nach unten. Einen dicken Stein verfehlte ich, aber der Sturz war so schwer, dass ich bewusstlos wurde. Ein Krankenwagen brachte mich ins Krankenhaus, und erst nach 14 Stunden wachte ich am nächsten Morgen aus meinem Koma wieder auf.
 
Der Arzt diagnostizierte eine schwere Gehirnerschütterung. Die damalige Behandlung bestand aus wochenlanger strikter Bettruhe. Aufstehen war streng verboten; ich musste meine Notdurft im Bett verrichten. Kopfschmerzen hatte ich, wenn sie auch langsam nachliessen, noch monatelang danach. In der Schule hatte ich einiges versäumt, und meine Halbjahres-Zeugnisnoten waren die schlechtesten, die ich in der Volkschule je bekommen hatte.
 
Ich wurde wieder vollkommen gesund. Es war eher spassig gemeint, wenn später ein Verhalten, das nicht den allgemeinen Vorstellungen oder Wünschen entsprach, einem angeblich bei dem Unfall erlittenen „Dachschaden“ zugeschrieben und die irrtümliche Behauptung „Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen“ aufrechterhalten wurde.
 
Es hätte auch anders kommen können. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich noch auf einen Text verweisen, den ich vor einigen Tagen geschrieben habe:
 
Darin habe ich über biochemische Prozesse im Gehirn jedes Menschen berichtet und darüber, dass unser Verhalten von allerlei Einflüssen, wie das genetische Erbe, die Kindheit, die Erziehung und anderen beeinflusst wird und das Ergebnis von zellulären, biochemischen und elektrischen Abläufen ist.
 
Kurz nach dem Verfassen dieses Textes bin ich auf ein interessantes Buch gestossen. Es heisst „Inkognito – Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns“ und wurde von dem Neurowissenschaftler Dr. David Eagleman geschrieben. Das spannende Buch untersucht, ob wir für unser Verhalten verantwortlich zu machen sind oder nicht.
 
Darin wird unter anderem auf S. 242f. auf die Krankheit „Temporallappenepilepsie“ hingewiesen. Der Temporallappen, auch Schläfenlappen genannt, ist einer der 4 Lappen des Grosshirns und macht den seitlich und unten gelegenen Anteil aus. Hiervon gehen Epilepsie-Anfälle aus. Die Ursachen können gutartige Tumore, Schlaganfälle, Gehirnoperationen, Entzündungen und andere sein, auch Schädel-Hirn-Traumata, darunter werden u. a. schwere Gehirnerschütterungen gezählt. Bekanntlich hat der ehemalige Formel-I-Rennfahrer Michael Schumacher bei seinem Ski-Unfall auch ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten.
 
Die Gehirnerschütterung, die ich als Kind hatte, ist nicht so tragisch verlaufen. Glücklicherweise habe ich danach auch keine Epilepsie-Anfälle bekommen. David Eagleman schreibt darüber:
 
Wenn ein epileptischer Anfall eine spezielle Region des Temporrallappens erfasst, dann hat die Person keine körperlichen Krämpfe, sondern subtilere Symptome. In diesem Fall stellen sich so etwas wie kognitive Krämpfe ein, die sich in Persönlichkeitsveränderungen, religiösem Eifer und Hypergrafie (besessenes Schreiben über ein Thema, in der Regel Religion) äussern. Oft haben die Patienten das falsche Gefühl, dass irgendjemand oder irgendetwas präsent ist, und sie hören Stimmen, die sie einem Gott zuschreiben. Einige der Propheten, Märtyrer und religiösen Führer der Menschheitsgeschichte scheinen unter Temporallappenepilepsie gelitten zu haben.“
 
Der Autor beruft sich auf Untersuchungen und Abhandlungen von M.Trimble, A. Freeman; O. Devinsky, G. Lai und anderen. Als ein herausragendes Beispiel beschreibt er die Stimmen von Heiligen und von Gott, die Jeanne d’Arc zu Zeiten des Hundertjährigen Kriegs empfangen haben wollte und die auf diese Krankheit zurückgeführt werden könnten.
 
Bei mir ist nichts davon eingetroffen, der Unfall ist gut abgelaufen. Ich habe nie Stimmen gehört, von religiösem Eifer ist schon gar nichts zu merken, eher das Gegenteil. Ich schreibe zwar gern, oft auch über Religion, würde dieses Hobby aber nicht einer Besessenheit zuordnen. (Obwohl meine Blogs sehr unterschiedliche Bereiche berühren, sieht meine Frau das zeitweise anders!)
 
Möglicherweise habe ich von diesem Ereignis doch irgendetwas zurückbehalten. Meine Einstellungen, Denkweisen und mein Verhalten hätten sich vielleicht ohne die Gehirnerschütterung anders entwickelt. Das menschliche Gehirn ist so kompliziert aufgebaut, dass man Veränderungen nicht unbedingt ausschliessen kann. Gut, dass ich das nicht weiss!
 
Eaglemans Buch regt an, sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen. Die Bibel berichtet von Stimmen, im alten und neuen Testament, z. B. in den Evangelien. Von Matthäus, 17;5, stammt: „..aus der Wolke kam eine Stimme, die sprach: ’Dies ist mein geliebter Sohn’...“ Zu erwähnen sind auch die Zungenrede bzw. Xenoglossie der Pfingstgemeinden und Texte der Apostelgeschichte.
 
Und wenn Personen Stimmen hören, die ihnen befehlen, Morde zu begehen, worüber in den letzten Jahren mehrmals in den Medien berichtet worden ist, dann ist das auch ein Anlass, über Fehlfunktionen in deren Gehirnen zu befinden, um nachzuweisen, ob sie für ihre Taten verantwortlich gemacht werden können.
 
Das Buch endet so: „Es (das Gehirn) ist ein Organ, das uns fremd und exotisch vorkommt, doch seine detaillierten Verschaltungsmuster bilden die Landschaft unseres Innenlebens. Unser Gehirn ist ein verwirrendes Meisterwerk. (...) Es ist das Erstaunlichste, was das Universum hervorgebracht hat.“
 
Eines habe ich durch meinen kindlichen Unfall begriffen: Der Schutz meines Kopfes hat absolute Priorität!
 
Quelle
Eagleman, David: „Inkognito – Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns“, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2012
 
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