Textatelier
BLOG vom: 08.02.2014

Der MEI-Day ist da: „Umso schlimmer für die Tatsachen“

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU
 
 
Wird dieser Abstimmungssonntag vom 09.02.2014 zum MEI-Day ? Eine gruppendynamische Analyse von Pirmin Meier:
 
Die Abstimmung zur „Masseneinwanderungsinitiative“ (MEI) der SVP (Schweizerische Volkspartei) wurde und wird seit Monaten zum wichtigsten Volksvotum seit dem 06.12.1992 stilisiert, dem denkwürdigen Tag, da die Schweiz dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und damit wohl auch der in diesem Zusammenhang als „Trainingslager“ bezeichneten Vorstufe des Beitritts zur Europäischen Union eine höchst knapp ausgefallene Absage erteilte.
 
Die damalige Stimmbeteiligung von 78 % kann wohl auch deswegen nicht mehr erreicht werden, weil bei den EU-freundlichen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern, zumal auch in der Westschweiz, seit Jahren eine lähmende Resignation herrscht. Ausserdem wurden seit 1992 einige hunderttausend Ausländerinnen und Ausländer eingebürgert, oft aus Südosteuropa und aus dem EU-Raum, die im schweizerischen Sinn oft als unpolitisch einzuschätzen sind und die man – vom Einbürgerungsakt abgesehen – vielfach noch weniger an den Gemeindeversammlungen zu sehen pflegt als die sich ebenfalls rar machenden Alteingesessenen. Die Einbürgerung hat für viele Migrantinnen und Migranten nur sekundär eine politische Bedeutung; es geht um die Anerkennung ihrer nicht zu bestreitenden gesellschaftlichen Integration, den „Schweizerpass“ und eine allfällige Vermeidung eventueller wirtschaftlicher Nachteile nicht nur bei der Stellensuche. Diese Bedeutung der Einbürgerung würde bei einer Annahme der MEI-Initiative wegen dem darin konstituierten Inländer- bzw. Schweizervorrang noch zunehmen, was dann wohl steigende Einbürgerungszahlen generieren könnte.
 
Blocher wäre in der Pflicht
Nach einem Diskussionsergebnis (kommt sonst selten vor) bei einer kontroversen Zürcher Debatte zwischen Gewerkschaftspräsident Paul Rechsteiner und Parteiführer Christoph Blocher soll im Fall eines Ja für legal in der Schweiz lebende Niedergelassene, Secondos wie auch jenseits von Missbrauch hier beschäftigt gewesene Stellensuchende, gelten, was der Satz „Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich“ aussagt, nämlich: Alle legal in der Schweiz wohnhaften Menschen haben die gleichen Rechte bei der Stellensuche. Sollte sich jedoch Blochers Partei bei der gesetzlichen Ausgestaltung der Initiative nicht an diese von ihm garantierte Deutung halten, würde Volksbetrug vorliegen. Den letzteren Befund hat sich der Bundesrat allerdings schon mehrmals, eher aus strategischer Schwäche denn wegen lügenhafter Vorsätzlichkeit, zuschulden kommen lassen. Das Gefühl des Bürgers, belogen zu werden, ist in der Mehrheit der Fälle rein subjektiv, wenngleich überaus verständlich. Dies erklärt auch die gruppendynamischen Vorgänge, die bei dieser Abstimmung wie nie mehr seit 1992 zu beobachten waren.
 
Da alle Parteien ausser derjenigen der Initianten, fast alle wichtigen Medien, so gut wie alle Wirtschaftsverbände, die Gewerkschaften, die einstimmigen Kantonsregierungen, der Kirchenbund, die Bischofskonferenz, die karitativen Organisationen, die überwiegende Mehrheit der sogenannten Leaderfiguren zum Nein aufgerufen haben, müsste eine Ablehnung in komfortabler Zweidrittelsmehrheit normal sein. Damit rechnet jedoch niemand.
 
Demoskopen-Dilemma
Claude Longchamp, bei dessen Institut GfS es noch mehr als bei der Schweiz bei dieser Abstimmung um Sein oder Nichtsein geht, hat noch rechtzeitig auf eine disproportionale Mobilisierung hingewiesen. Umfragen bei ca. 1400 angeblich repräsentativ ausgewählten Personen nach dem Zufallsprinzip werden dann massiv unzuverlässig, wenn der Leidensdruck und die Motivation bei der einen Abstimmendenmasse massiv stärker ist als bei der anderen. Dies „ verfälscht“ die Umfrageergebnisse, die im Prinzip sogar dann „richtig“ und korrekt sind, jedenfalls nicht vorsätzlich manipuliert, wenn es ganz anders herauskommt. Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel hat diese Analysesituation schon gekannt. Kommt es anders heraus, gilt nämlich der Satz: „Umso schlimmer für die Tatsachen.“
 
Dem Polit-Demoskopen Longchamp wird oft unterstellt, er würde seine Umfragen gern in Richtung der politisch korrekten Meinung manipulieren. Sagt er für die Massenwanderungsinitiative wie anfangs Januar 2014 eine Differenz von bloss 2 Prozent plus zur chancenlosen Abtreibungsinitiative voraus, wird das kein politisch erfahrener Beobachter ernst nehmen. Böswillige Blogs unterstellen ihm, ein Grosspolitikum, das Millionen bewegt, kleinzuschreiben. Schliesst er einen Monat später ein Kopf-an-Kopf-Rennen nicht mehr aus, heisst es, er wolle nunmehr die Gegner warnen und noch rechtzeitig an die Urne treiben. Wie er es macht, ist es falsch. Es liegt aber nicht an ihm, sondern an den Imponderabilien und dem keineswegs prognostischen Wert solcher Umfragen; zu schweigen von der bereits vom Einstein-Weggefährten Karl Popper hervorgehobenen Ungewissheit des Induktionsbeweises.
 
Dabei sind Longchamps professionelle Umfragen, bei allem Bestreben, sich wenn möglich nicht zu blamieren, fast so irreführend wie die Online-Foren von Newsnet, „Blick“ und Peter Wanners „Nordwestschweiz“-Presse. Ginge es nach denselben, wäre eine erdrückende Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zu erwarten, die grösste Ohrfeige aller Zeiten an den Bundesrat. Dies so zu sehen, ist nicht realistisch. Es ist aber auch nicht richtig, dass diese Foren von Bezahlschreibern der SVP unterwandert wären. Trotz Rückfrage bei SVP-Sekretärin Silvia Bär, die zugibt, einige Aktivisten in diesen Foren „seien der Partei bekannt“, bleibt es dabei, dass es sich bei der grossen Mehrheit der Forum-Schreiber und Däumchendrücker um Gesinnungstäter handelt, analog zu den Unterstützern der Minder-Initiative vor Jahresfrist. Ein mir bekannter Aktivist der Rechten sagte mir sogar, er drücke regelmässig die Däumchen der Gegenmeinung, damit bei den Befürwortern kein trügerisches Bewusstsein eines kommenden Sieges den Eifer zum Erlahmen bringe. Bis zum Beweis des Gegenteils müsse man sich, wie nicht nur Blochers Erbtochter noch am Freitag betonte, auf eine Niederlage einstellen.
 
„Ich habe nichts gegen Ausländer“
Im Vergleich zur Schwarzenbachinitiative vom 07.06.1970, deren Resultat von fast 47 % angesichts einer Situation alle gegen einen bereits ein Schock war und über deren Resultat der Initiant beinahe erschrocken war, liegen die Verhältnisse 44 Jahre später anders. Wiewohl die öffentlichen Veranstaltungen bereits ein grosses Unbehagen auswiesen, agierten aufgrund einer damals noch funktionierenden Einschüchterungskampagne die Anhänger Schwarzenbachs meist aus dem Versteckten. Sie outeten sich noch am ehesten durch den Satz: „Ich habe nichts gegen Ausländer.“ Diesen Satz habe ich in letzter Zeit am häufigsten im Kanton Freiburg gehört, wo wegen der Zurückhaltung von Gewerbeverbandspräsident Jean-François Rime (SVP) das Establishment des Kantons, Parteien, Kirche, Gesellschaft, in seltener Geschlossenheit gegen die Initiative auftreten. Die mir bekannten Freiburger, die sagen, „Ich habe nichts gegen Ausländer“, sind nach meinen sektoriellen Beobachtungen fast nur bisherige Wählerinnen und Wähler von Alain Berset, Christian Levrat, Urs Schwaller und dem einst jubelnden Blocher-Abwähler und heutigen Caritas-Direktor Hugo Fasel. Indem Ständerat Schwaller noch kurz vor der Abstimmung bekanntgab, die Ecopop-Initiative im Ständerat durch Ungültigerklärung aus dem Verkehr nehmen zu wollen, stiftete er im letzten Moment Eintracht in den schon dramatisch veruneinigten Lagern der Rechtskonservativen und der grünsozialkonservativen Ecopop-Leute.
 
Die Einsamkeit des Parteipräsidenten
Der fast einzig sichere Befund von Longchamp, der von Thomas Minder wohl mit Recht als seriöser und sicher von niemandem gekaufter Analytiker eingeschätzt wird, liegt in der Disproportionalität der Anhängerschaft von Ja und Nein. Dies lässt sich in so weit auseinanderliegenden Kantonen wie einerseits Thurgau und andererseits Neuenburg (1992: 80 % Ja pro EWR) und Aargau (Wynental) beobachten. Im Grenzkanton Thurgau ist, wie wohl noch stärker in Schaffhausen, wo auch die Stadt wohl kaum oder nur knapp Nein stimmen mag, die ländlich orientierte Bevölkerung für ein Nein gesetzt. An der Jahresversammlung der heimatkundlich orientierten Thurgauer Huggenberger-Gesellschaft war die Meinung ähnlich einhellig wie im Stammlokal von Philipp Müller (FDP) im Wynental.
 
Wohl noch nie musste sich ein Schweizer Parteipräsident von der eigenen Heimatbasis so verlassen fühlen wie Philipp Müller. Es war insofern klug, das ganzseitige Inserat der FDP eine Woche vor der Abstimmung, in welchem vor einem „Schildbürgerstreich“ gewarnt wurde, im „Wynentaler Blatt“ nicht zu schalten. Ist im Wynental die Stimmung nicht nur gegenüber Philipp Müller einigermassen aggressiv, äussern sich die Ja-Stimmer im Kanton Neuenburg gemäss „Express“ fast nur mit liebevollen Bekenntnissen zur Schweiz.
 
Eine unterschätzte Gruppe sind die Italiener und Spanier, welche zur Schwarzenbachzeit damals – auch am Arbeitsplatz – unten durch mussten und jetzt ihre Totalintegration auf die Formal „défendre la Suisse“ bringen, also ein „Ja zur Schweiz“. Dieses Ja drückt neben Dankbarkeit auch die objektive Interessenlage der integrierten Zugewanderten aus. Die „Masseneinwanderung“ unter dem Regime der kapitalistischen Religion der Personenfreizügigkeit bedeutet für sie eine potenzielle und manchmal aktuelle soziale Bedrohung. Aus diesem Grunde stimmt auch das Tessin diesmal mutmasslich anders als bei der Schwarzenbachinitiative. Hingegen dürfte Bundespräsident Didier Burkhalter in seinem Kanton trotz der patriotischen eingebürgerten Italiener und Spanier immer noch klar mehr Rückhalt haben als Philipp Müller im Wynental.
 
Gruppendynamische Befunde
Zu den gruppendynamischen Befunden, welche das Ja-Lager stärker motivieren als das Nein-Lager, sind sodann zu nennen:
 
Die Bekenntniswut der Befürworter im Vergleich zur Zurückhaltung der Gegner. Auch wenn Newsnet, Blick-online, Wanner-Presse-online nicht repräsentativ sein können, so sagt die erdrückende Mehrheit der Zuschriften mit Sicherheit aus, dass die Ja-Stimmer näher bei der Schmerzgrenze sind als die Nein-Stimmer. Dass sie sich persönlich viel stärker engagieren, so wie Thomas Minder fast Abend für Abend für die Initiative weibelte, während 1 : 12–Initiant und Student Cédric Wermuth zur Zeit der wichtigsten Initiative, seit er das Stimmrecht hat, sich in Südamerika von seiner Abstimmungsniederlage erholte.
 
Die Newsnet-Teilnehmenden, durchaus engagiert und nicht als Pöbel abzutun, bilden im Sinn von Elias Canetti eine dynamische Masse mit den ihm beschriebenen 4 Eigenschaften: 1. Die Masse will wachsen. 2. Innerhalb der Masse herrscht eine gewisse Gleichheit; es kommt nicht mehr darauf an, ob wohlhabend oder arm, gebildet oder weniger gebildet usw.; diese Gleichheit konstituierte die Dichte der Masse. 3. Die Masse hat ein Ziel. 4. Die Macht der Masse drängt zur Entladung, in diesem Fall nicht durch Aggression auf der Strasse wie bei Revolutionen, sondern durch Mobilisierung an die Urne. Das Ziel ist wie im Sport der Sieg, aber auch das Bemühen um Sicherheit und Geborgenheit.
 
Relativer oder absoluter politischer Erfolg hängt vor der Wahl des richtigen Schlagwortes ab. Dieses kann, muss aber nicht eine objektive Grundlage haben. Erfolg hat es, wenn es sich im Kopf festsetzt. Ein ungeheuer mächtiges Schlagwort bei dieser Abstimmungskampagne lautete „Dichtestress“. Dabei können überfüllte Züge und verstopfte Autobahnen eigentlich nur bei ganz simplen Menschen ein Argument sein, weil dieses Problem nicht durch Steuerung der Zuwanderung zu lösen ist. Der wahre „Dichtestress“ findet im Kopf statt. Schon 1970 brachte die Voraussage von Prof. Francesco Kneschaurek, bis zum Jahre 2000 gebe es in der Schweiz 10 Millionen Einwohner, die Schweiz an den Rand einer Panik. Derzeit wird auf 11 Millionen geplant, und im Rahmen üblicher Übertreibungen faselt die Ja-Propaganda sogar von 16 Millionen. Schon weil die Schweiz lange vorher die Umkehr in Richtung ihres natürlichen Zustandes, nämlich ein armes Land zu sein, erreichen kann, bleiben 16 Millionen Einwohner unwahrscheinlich. Aber Hauptsache, es entsteht in den Köpfen der „Dichtestress“. Thomas Minder nahm für seine Auftritte jeweils eine Sardinenbüchse mit.
 
Nebenfolgen der Nein-Propaganda
Nicht nur Ständerat Schwaller, auch Economiesuisse und viele andere waren sich nicht bewusst, was das Trommeln um „Hochqualifizierte“, die in der Schweiz auf jammervolle Weise mangeln würden, bei einigen hunderttausend Menschen auslöst, welche wie die grosse Mehrheit der Tennisspielerinnen und Tennisspieler weder Federers noch Wawrinkas noch Hingis sind: nämlich eben Mittelmass. Eine Kampagne, „Du bist mittelmässig, wir brauchen Bessere, eben Hochqualifizierte“, kann durchaus objektive Gründe haben, ist aber in dieser Form psychologisch nicht zielführend. Den weniger Hochqualifizierten in der Schweiz ab etwa 45 Jahren an den Kopf zu werfen, dass sie nur dank den wirklich Hochqualifizierten an ihrem Arbeitsplatz überhaupt noch knapp brauchbar sind, ist lieblos. Die Neigung der sich ungeliebt vorkommenden Einheimischen zum Ja wächst gemäss den Massengesetzen von Canetti. Im Zusammenhang mit den Hochqualifizierten gab und gibt es schon immer Irrtümer. Man glaubt im Ernst, dass die Hochqualifizierten fast nur aus der Mühle der Maturität kommen könnten, was ich als langjähriger Gymnasiallehrer dementieren kann. Das Niveau des unteren Drittels der Maturandinnen und Maturanden lässt sich in keiner Weise mit demjenigen eines guten aargauischen Bezirksschülers vor 30 oder 70 Jahren vergleichen. Desgleichen musste sich - bis jetzt wenigstens - ein Schweizer Elektrikermeister nicht automatisch vor einem Elektroingenieur aus Rumänien, Bulgarien oder Moldawien verstecken, dessen Abwerbung das eigene Land im bisherigen Elend zurücklässt.
 
Diese Gedanken wurden vor dem Bekanntwerden des Abstimmungsresultates geschrieben. Selber hätte ich die Initiative in dieser Form nicht unterschrieben. Ich erklärte aber öffentlich, beim 1200-Jahr-Jubiläum meiner Heimatgemeinde Würenlingen (2028) und bei der Tausendjahrfeier meines jahrzehntelangen Schulortes Beromünster (2036), so ich dann noch lebe, in einer Schweiz unter 10 Millionen Menschen leben zu wollen.
 
 
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