Textatelier
BLOG vom: 16.03.2014

Tolstoi erholte sich in Luzern von seinem Krim-Abenteuer

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU. Ein Bericht über historische Dimensionen der zurzeit ablaufenden Krim-Krise.
 
 
Das „Luzerner Tagblatt“, die liberale Vorläuferin der „Neuen Luzerner Zeitung“, begrüsste am 8. Juli 1857 unter den prominenten Gästen des Hotels Schweizer Hof auch einen gewissen Grafen Tolstoi. Dieser hatte sich als russischer Major weniger als 2 Jahre zuvor auf der Krim als Verteidiger von Sewastopol, der grössten Stadt auf der Halbinsel, hervorgetan. In alten Tagen bedeutete ihm dies im Rückblick auf sein Leben mehr als der Nobelpreis für Literatur, den er 1901 als Ersterwählter genau so resolut und „unbestechlich“ ablehnte wie später Jean-Paul Sartre.
 
Lev Nikolajewitsch Tolstois erstes berühmtes Werk, noch vor seiner „Luzern“-Novelle entstanden, trug den Titel „Sewastopoler Erzählungen“. Eine Textsammlung, die zugleich ein Stück Militärgeschichte und grosse Literatur darstellt, gleichsam ein Prolog zum späteren Hauptwerk „Krieg und Frieden“. Eine Pflichtlektüre für Politiker und Publizisten, die sich eine nicht bloss vom Tageswind bestimmte Meinung für die Bedeutung der Krim in der Geschichte Russlands bilden wollen?
 
Aussagekräftiger als ein Sowjet-Protokoll
Tolstois Erzählungen bleiben aussagekräftiger als das Protokoll des Obersten Sowjet vom 19. Februar 1954, als zum 300. Jahrestag des Vertrags von Perejaslaw (1654) in einem diskursfreien Beschlussakt die Krim der Ukraine angegliedert wurde, u. a. auch eine lokalpatriotische Belohnung für den neuen Sowjet-Diktator Nikita Chruschtschow, einem Ukrainer. Die damaligen politischen Entscheidungen, legitimiert auf der Basis der Allmacht der Partei, fielen eh fast ausnahmslos in Moskau. Was heute als völkerrechtlicher Befund bezeichnet wird, bedeutete 1954 zwar nicht staatsrechtlich, aber faktisch nicht mehr als wenn man im Einheitsstaat Frankreich zur Zeit Napoleons oder de Gaulles eine Departementsgrenze arrondiert hätte.
 
Schon zur Zeit des Krimkriegs (1854/55) bemühten sich England, Frankreich und das Osmanische Reich, die Machtausdehnung Russlands in Richtung Mittelmeerraum einzugrenzen. Die Kontrolle über das Mittelmeer bedeutete seit dem Römischen Reich und den Kreuzzügen eine Basis für Weltherrschaft. Wenn es dem russischen Bären darum ging, hier mitzuspielen, verhielt sich das Imperium spätestens seit der Zeit Peters des Grossen unzimperlich. Nach der Ära Napoleons und erst recht nach der „Ära“ Hitlers und angesichts des Kalten Krieges konnte man stets auch legitime Verteidigungsinteressen mit ins Feld führen.
 
„Kontrolle über das Schwarze Meer“
Zur Zeit des Kalten Kriegs spielte bei Professoren alter Schule die russische Geschichte eine respektierte Rolle. Nicht nur an den Hochschulen, auch an den Gymnasien, sogar in Sekundar- und Bezirksschulen, wo häufig Offiziere unterrichteten. Welches war das das strategische Ziel Russlands unter Katharina, der Grossen? lautete eine Prüfungsfrage. Eine Antwort, in Richtung genügender Note: „Kontrolle über das Schwarze Meer als eisfreier Zugang zu den Weltmeeren und Beteiligung an politischer Kontrolle über das Mittelmeer.“ Auch der Panslawismus, die machtvolle „Göttirolle“ Russlands über alle slawischen Völker, musste an der Geschichtsprüfung sitzen. Zum Beispiel bei Pater Dr. Rupert Amschwand (1916–1997), Geschichtslehrer am Benediktiner-Kollegium Sarnen und späterer Innerschweizer Kulturpreisträger mit den Hauptforschungsgebieten Bruder Klaus und Kloster Muri.
 
Lokal, national und global instruktiver Geschichtsunterricht kann heute, zum Teil wegen der Unübersichtlichkeit und gesellschaftsemanzipatorischer Befrachtung der Bildungskonzepte, nicht mehr als Priorität des Höheren Unterrichts bezeichnet werden. Für künftige Politikerinnen und Politiker wäre aber vielleicht ein Blick auf die Geopolitik im Zusammenhang mit den strategischen Interessen der Grossmächte nicht abwegig. Sogar Russland würde es verdienen, ähnlich wie die dort offiziell nicht beliebten Homosexuellen, vorurteilsfrei betrachtet zu werden.
 
Die Perspektive des Kalten Kriegs
Dies fiel einer vom Kalten Krieg geprägten Generation nicht leicht. Im November 1956 wurde ich, wie ebenfalls mein verstorbener prominenter Autorenkollege Niklaus Meienberg, durch die brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes in zartem Alter nachhaltig politisiert. Dass damals bei den Magyaren, wie heute in der Ukraine, neben Freiheitskämpfern auch Rechtsextreme und Faschisten mit von der Partie waren, vernahm ich erst nachträglich durch die Begegnung mit einem ungarischen Schriftsteller. Meienberg, der sich im Gegensatz zu mir später links orientierte, hat sich dank dem tief gehenden Ungarnerlebnis nie sowjetfreundlich oder linkstotalitär geäussert. Ein vorbildlicher kritischer Demokrat. Auch die Niederwalzung des Prager Frühlings im August 1968 war für gut republikanische Schweizer, ob links oder rechts, ein Trauma und überhaupt nicht zu vergessen.
 
Der früher trendige Antikommunismus kann eine vernünftige Analyse der politischen Realitäten so wenig ersetzen wie ein gegenwärtiger, meist pseudomutiger Antifaschismus. Immerhin gab es in der Schweiz vor 50 Jahren politische Analytiker wie Jean-Rodolphe von Salis (1901–1996), Walther Hofer (1020–2013) und Walther Bringolf (1895–1981), letzterer ein ehemaliger Kommunist, aber mit einmalig nüchternem und unbestechlichem Weltüberblick. Weder der einst gefährliche Ostblock noch das rassistische Südafrika vermochten den Schaffhauser Fast-Aussenminister in Hysterie zu versetzen. Sogar bei Israel sah er 2 Seiten, was früher wie bei Russland und China nicht der Normalfall der Einschätzung war.
 
Es scheint in Zeiten sich anbahnender weltpolitischer Krisen geraten, ein Verhältnis wie das der Schweiz zu Russland und umgekehrt aus den langfristigen gegenseitigen Beziehungen zu betrachten. Was im SPIEGEL steht, etwa mit dem Titel „Brandstifter“ für Wladimir Putin, hat vielleicht für die Domestizierung der deutschen Öffentlichkeit Unterhaltungswert. Diese muss auf der Linie der NATO und der Europäischen Union gehalten werden. Hingegen wäre für den Präsidenten der OECD, Bundespräsident Didier Burkhalter, eine solche Ausdrucksweise weniger zu empfehlen.
 
Schweizerisch-russische Reminiszenzen
Eindrucksvoll bleiben aus schweizerischer Sicht Fakten aus dem 19. Jahrhundert, die nie ganz vergessen gehen sollten:
 
Erstens mal die Besiedlung der Ukraine, zumal der Krim durch schweizerische Auswanderer aus dem frühen 19. Jahrhundert. Es waren zumal fromme Protestanten aus dem Säuliamt, nicht zuletzt Verlierer des Volksaufstands von 1803 (Denkmal beim Bahnhof Affoltern a. A.), welche ihr Glück damals auf der Halbinsel am Schwarzen Meer suchten. Das Dorf Zürichtal, heute Solote Pole im Südosten der Krim, wurde von 228 Siedlern begründet, ab 1820 mit einer Kirche versehen, wovon heute das Schiff noch erhalten ist. Im Gegensatz zur Schweiz gab es zur stalinistischen Zeit noch kein verfassungsmässiges Minarett- oder Kirchturmverbot. Dafür einen unangefochtenen Sprengbefehl, weswegen der Kirchturm von Zürichtal seit rund 80 Jahren nicht mehr vorhanden ist. Die Bevölkerung des Schweizerdorfs, das auch wegen seiner Dialektentwicklung nie vergessen werden sollte, wurde 1941 auf Stalins Befehl deportiert. Bei Umvolkungen durch den ehemaligen „Kommissar für Nationalitätenfragen“ (Stalin) wurde nicht lange zwischen Schwaben und Schweizern, oft miteinander verschwägert, unterschieden.
 
Seit 2005 gibt es im ehemaligen Zürichtal ein Museum. Im frühen 19. Jahrhundert existierte dort auch so etwas wie ein teilweise demokratisches Gemeindeleben. Vielleicht auch deshalb hört man neuestens auf der Krim, dass die baldige Abstimmung über ihre Zugehörigkeit zu Russland angeblich „nach schweizerischem Vorbild“ erfolge. Im Vordergrund des Vergleichs steht wohl die von der Internetplattform „Stimme Russlands“ im Gegensatz zur EU-Lesart wohlwollend kommentierte Masseneinwanderungsinitiative.
 
Gegen prorussisches Schwärmen für die Schweiz ist ein bedeutender Einwand zu erheben: In der Schweiz gibt es keine Abstimmung, die ein kantonales oder eidgenössisches Parlament innerhalb von 10 Tagen aus dem Nichts, ohne entsprechende gesetzliche Grundlage, ansetzen könnte. Die Volksrechte sind streng verfassungsmässig und gesetzlich geregelt, nicht zu vergessen die berüchtigten Vernehmlassungsverfahren. Demokratische Entscheidungen müssen so lange erdauert werden, dass, nach Hugo Loetscher, „wenn Gott Schweizer wäre“, der Herr die Welt noch gar nicht erschaffen hätte, da die Folgen unabsehbar wären und man unbedingt noch zuwarten müsse.
 
Aus diesem Grunde hat auch die vom Echo her epochale Abstimmung betr. die schweizerische Unabhängigkeit, die jahrelang vorbereitete Zuwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014, wohl nicht zufällig bis auf weiteres keine konkreten Folgen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die aus der Verfassung schwerlich mehr eliminierbare eigenständige Steuerung der Einwanderung ab der nächsten oder übernächsten Generation möglicherweise greift. Auch aus dieser Perspektive hat die angekündigte Hauruck-Abstimmung auf der Krim vom heutigen Sonntag, 16.03.2014, wenig Ähnlichkeit mit schweizerischen Traditionen.
 
Bei den schweizerisch-russischen Beziehungen wird zweitens mit Recht darauf hingewiesen, dass die Neutralität derzeit wieder an Bedeutung gewinnt. Dieselbe Neutralität, an der Russland schon 1815 beim Wiener Kongress, zur Zeit der Weltkriege und im Kalten Krieg, interessiert war. Die Neubetonung der bewaffneten Neutralität könnte als Nebenfolge, weil dazu auch die Verantwortung für den Luftraum gehört, auch der Abstimmung über den „Gripen“ zugute kommen. Zudem lenkt „Bösewicht“ Putin in der EU vorläufig davon ab, beim Wort „Sanktionen“ zuerst an die Schweiz zu denken. Der Nutzen und die Notwendigkeit der Schweiz werden in mehr kritischen Situationen eher transparent.
 
Weder Russland-Bashing noch Putin-Propaganda
In diesem Sinn hat die Krise in der Ukraine auch bei Schweizer Linken einen Denkprozess ausgelöst. Eher als ein Parteipräsident kann es sich ein Alt-Politiker leisten, laut zu denken. So der langjährige Luzerner profilierte SP-Linke, Grossrat, Mittelschullehrer und Krimi-Autor Peter Beutler in einem Kommentar bei „Infosperber“:
 
„Ich denke, bei der Linken in unserem Land wird man darüber nachdenken müssen, was in der Ukraine eben geschieht. Wenn die EU wirklich so weit geht, sich hier einseitig in wirtschaftliche Abenteuer, die dann unversehens auch militärische Konsequenzen haben könnten, zu stürzen, gibt es nur eine Antwort: Ein EU-Beitritt kommt auch für Rotgrün nicht mehr in Frage. Den neuen Machthabern in Kiew bis zu 35 Mia zu versprechen, ist allein schon vor dem Hintergrund der EU-Krisenländer Griechenland, Portugal und Spanien schlicht Wahnsinn. Und das auch noch zu einem Zeitpunkt, in der die Regierung in Kiew das Russische, die zweitgrösste Landessprache, quasi für illegal erklärt. Dazu geistert in vielen Hinterköpfen von EU-Politikern eine europäische Staatengemeinschaft mit einer bis die Zähne bewaffneten Einsatztruppe.“
 
Eine dritte denkwürdige Begebenheit der schweizerisch-russischen Beziehungen im 19. Jahrhundert betrifft die grösste Hungersnot der letzten 250 Jahre, nämlich diejenige von 1816/17. Nie vorher und nie nachher in unserer Geschichte wurde „für hungernde Bergkinder in der Schweiz“ im Ausland gesammelt. Der bedeutendste Gönner war Schweiz-Freund Zar Alexander I. Die Korn-Lieferungen für Hungernde aus dem Kanton Glarus und dem Toggenburg stammten aus der Ukraine.
 
Russland-Bashing im Rahmen einer nicht weiter reflektierten Solidarität mit dem „Westen“ beziehungsweise dem angeblichen Friedens-Projekt der Europäischen Union muss nicht durch Nachbeten von Putin-Propaganda ersetzt werden. Auch Tolstoi war von der Schweiz nicht nur begeistert. In Luzern war Russlands grösster Dichter zutiefst darüber enttäuscht, dass ein wenig gepflegt gekleideter Aargauer Bänkelsänger, den Tolstoi in den „Schweizerhof“ zu einem Glas Champagner einladen wollte, aus sozialen Gründen vom Oberkellner nicht bedient wurde. So etwas hätte der Verteidiger der Krim im Lande Rousseaus nicht für möglich gehalten.
 
 
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