Textatelier
BLOG vom: 01.04.2014

Mythen des Kirchbergs. Dem Geist des Orts auf der Spur

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
An einem mythischen, verwunschenen Ort, auf dem Berg mit der Kirche, das heisst auf dem Kirchberg zwischen Biberstein und Küttigen AG, versammelten sich am Feierabend des 28.03.2014 die Mitglieder der Bürgerlichen Vereinigung Biberstein (BVB) zur Generalversammlung. Als offensichtlich gut gelaunter General hatte Markus Schlienger die Oberbefehlsgewalt. Der Basler gab einige Fasnachtsschnitzelbänke zum Besten, so die Möglichkeit zur AHV-Sanierung: Ab 65 darf man bei Rot über die Strasse ... Und das Kürzel BVB, das mit jenem der Basler Verkehrsbetriebe übereinstimmt, hat trotz des angeschlagenen Rufs der Leitung der Basler Drämmler in Biberstein keinen Schaden genommen. Die Bürgerlichen sind hier ohne Fehl und Tadel, und dementsprechend gab es keine Gründe, deren gesamten Vorstand nicht wiederzuwählen. Sogar die Finanzen sind im Lot. Der Kassier Felix Isler konnte bei einem Vermögen von rund 18 000 CHF von einem Vermögenszuwachs von 140 Franken und 5 Rappen im Jahr 2013 berichten, ohne damit irgendwelche Begehrlichkeiten zu wecken.
 
Der Einfluss von Ortsnamen
Der Höhepunkt des Abends in der Sigristenschür war der Vortrag der Kunsthistorikerin Barbara Strasser zum Thema „Der Kirchberg: Geschichte und Geschichten zu einem ganz besonderen Ort“. Die Wissenschaftlerin, die sich zunehmend auf Sakralkunst und -architektur mit dem Schwerpunkt Glasmalerei spezialisiert, erzählte mit offensichtlich literarischem Talent davon, wie die Namensnennung einen Ort (und übrigens auch einen Menschen) beeinflusst. Sie sprach damit den Genius loci an, wie er im poetischen römischen Alltag üblich war: den Geist des Orts. Damit haben sich bereits Marcel Proust (in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann“) und auch Paul Haller (1882‒1920), der als Pfarrer und Schriftsteller auf dem Kirchberg lebte, befasst. Der Ortsname beschwört Bilder, Assoziationen und Gefühle herauf, wie man auch bei Anton Tschechow in den „3 Schwestern“ nachlesen kann. Und viele Schriftsteller haben Ortsnamen erfunden, um den fiktiven Handlungsort zu charakterisieren: Seldwyla (Goffried Keller) oder Güllen (Friedrich Dürrenmatt). Der Schriftsteller Gerhard Meier liess Niederbipp zu Amrain werden. Der Karikaturist Nico hat seine Geburtsstadt Hannover, die bei ihm wohl kaum sehr beliebt war, in Pflotsch unbenannt. Eine Literaturlandkarte“ verzeichnet unter anderem 140 reale und imaginäre Orte von literarischen Werken, die mit der Schweiz zu tun haben. „Schilten“ (Schiltwald im Ruedertal) als Titel eines Romans von Hermann Burger, auf dem sein Ruhm fusste, existiert tatsächlich.
 
Der Kirchberg
Auch dem Namen Kirchberg (Kirche, Berg) konnte Barbara Strasser eine Faszination abgewinnen: Auf einem „Berg“ über der Aare thront eine Kirche, und von dieser Anhöhe aus hat man spektakulären Ausblick übers Aaretal und bis zu den Voralpen und Alpen. Der Zeitpunkt und der Architekt des ersten Kirchenbaus sind unbekannt; die jetzige Kirche geht auf eine spätgotische und inzwischen mehrfach abgeänderte Anlage aus den Jahren 1462/72 zurück. Sie war ein Musterbeispiel eines prä-ökumenischen Orts. Dabei wurden sogar Tiere einbezogen: 1897 wurde in eine Firstecke des Kirchendachs ein Storchennetz eingebaut. Ob es noch vor dem Zerfall besiedelt wurde, weiss niemand mehr; es wurde 1914 wieder entfernt. Die letzte umfangreiche Renovation erfolgte 1956/57. Die Geschichte der Kirche besteht aus zahlreichen, übereinander gelagerten Schichten (Zeitachsen), die tief ins Mittelalter führen, wenn man sie abdeckt und darunter schaut.
 
Menschen auf dem Kirchberg
Wer vom Kirchberg mit seinem Architektur-Ensemble erzählt, zu dem auch der alte Friedhof und das klassizistische Pfarrhaus, ein zweistöckiger Giebelbau, von einem Satteldach überdeckt, gehören, kommt nicht um viele bedeutende Namen herum. Paul Haller, bereits erwähnt, und Hermann Burger (1942‒1989) stehen im Vordergrund. Beide beendeten ihr Leben durch Freitod. Der depressiv veranlagte Herrmann Burger schrieb hier, in der auf ihn zugeschnittenen, morbiden Atmosphäre, zum Beispiel seine „Kirchberger Idyllen“ und dann das Werk „Der Schuss auf die Kanzel“ (mit Bezug auf Conrad Ferdinand Meyer), als er das Pfarrhaus räumen musste, weil ein neuer Pfarrer dieses beanspruchte, worauf er verbittert auf Schloss Brunegg zu seinem Förderer, dem Weltchronisten Jean-Rodolphe von Salis, zog. Seither war Burgers Verhältnis zu allem Klerikalen zerstört. Von Salis wurde in Burgers Fantasiewelt zu Jerome Castelmur-Bondo.
 
Auf dem Kirchberg und dann im Schloss Biberstein lebten vorher der Staatsmann und Publizist Johann Heinrich Daniel Zschokke (1771‒1848) zusammen mit seiner Frau Nanny Zschokke-Nüsperli (1785‒1858). Das Paar liess sich dann in der Aarauer Blumenhalde nieder. Von ihrer Familie kündet noch die Nüsperli-Linde auf dem Kirchberg. Vater Jakob Nüsperli eröffnete die erste Baumschule der Schweiz.
 
Zu Felix Hoffmann unterwegs
Der Künstler Felix Hoffmann aus Aarau (1911‒1975) stattete die Kirche Kirchberg mit Glasmalereien aus (so mit der Vision des Jesaja), neben 10 weiteren reformierten Gotteshäusern. Insgesamt 23 Hoffmann-Werke (und 6 Kirchen) sind seit dem 12.04.2014 durch einen Felix-Hoffmann-Weg erschlossen (Internet: www.ref-aarau.ch). Der Rundweg führt von Auenstein nach Biberstein, auf den Kirchberg, weiter nach Aarau, Suhr, Buchs und Rupperswil.
 
Das Mahl wie zu Kana
In der Kirchberg-Kirche hat Felix Hoffmann unter anderem das Mahl in Emmaus und die Hochzeit zu Kana dargestellt. Und auch die BVB offeriert jeweils ein Mahl, das allerdings, im Gegensatz zu jenem in Emmaus, ohne faule Äpfel und Feigen als Symbole der Erbsünde auskommt, sondern aus kantinenmässig bereitgestelltem Hackbraten, Kartoffelstock/Nüdeli, Gemüse (aus der „Traube“ in Küttigen) und Eistorten bestand. Ähnlich wie in Kana floss der ganzheitliche Insieme-Wein aus dem Keller von Markus Schlienger, ein Luxuswunder hier wie dort. Das Wasser aber verwandelte sich nicht; dafür hätte es schon eines Zauberkünstlers bedurft, wie Hermann Burger einer war.
 
Mit Perimuk den Jurapark umrunden
Der seit bald 10 Jahren in Biberstein wohnhafte Urs Waber, der seine Wohngemeinde in der Organisation „Jurapark Aargau“ vertritt, erzählte vom geplanten Perimukweg, der bei der Bushaltestelle Dorf Biberstein beginnen, zum Haselbrünneli führen und dem Perimeter des Juraparks folgen wird. Einige Tafeln aus langlebigem Schieferverbundmaterial und Graffitischutz werden erläutern, worum es geht. Der Perimuk ist eine Figur mit Tropenhelm, deren Umrisse (Form) mit jenen des Juraparkeinzugsgebiets weitgehend übereinstimmen. Der Familienwanderweg wird für Kinder unterhaltend gestaltet sein.
 
Der Weg führt an Fromental- und Magerwiesen, Hochstammobstgärten, gestuften Waldrändern und Hecken sowie vielen weiteren Elementen der Kulturlandschaft Jura vorbei. Natur und Kultur, Tal, Berge/Hügel und Wasser sind die Zutaten eines hochwertigen Lebensraums, eines veritablen Lebensparks.
 
Hinweis
Der Vortrag über den Kirchberg von Barbara Strasser ist im Wortlaut aufzurufen unter:
 
 
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