BLOG vom: 07.04.2014
Putin, Hitler-Vergleiche und das unverstandene Russland
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU
Hitler-Vergleiche sind so gut wie nie ein Beitrag zu historischer Aufklärung. Als politisches Totschlagargument dienen sie der Ausgrenzung des Feindes.
Dem meist besonnenen CDU-Schwaben Wolfgang Schäuble ging es aber wohl hauptsächlich darum, eine Schulklasse an die 1938 erfolgte deutsche „Heimholung“ des später wieder tschechischen Sudetenlandes zu erinnern. Sein Vergleich mit der Krim-Aktion Wladimir Putins war umso mehr daneben, als 1945 an den Sudetendeutschen nie gesühnte Kriegsverbrechen in der Grössenordnung von Srebrenica im späteren Jugoslawienkrieg verübt wurden. Das interessiert wegen der Alleinschuld Deutschlands am 2. Weltkrieg ausser den Vertriebenen niemanden. Dieser geläufigen Schulbuchthese widersprach aber im September 2009 in Polen ausgerechnet Wladimir Putin.
Aus politischem Kalkül heraus sah Russlands Präsident beim Jahrestag des Kriegsausbruchs Gründe, westliche Pseudomoral in Zweifel zu ziehen. Während damals Angela Merkel auf der Westerplatte im Gedenken an den Kriegsausbruch wie eine Ministrantin Kerzlein anzündete, las Putin ‒ ohne Manuskript ‒ den Westmächten die Leviten: ihr Versagen in München 1938, ohne das es nach seiner Meinung nicht zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 gekommen wäre. Der mit allen Wassern gewaschene Stratege Putin stand damals einem US-Präsidenten gegenüber, dessen persönliches Wissen um Europa das Niveau eines deutschen Elementarschülers nur um Weniges überschritt. Im Ernst verkündigte Barack Obama, und zwar in einer State-of-the-Union-Botschaft, das Auto sei in Amerika erfunden worden. Damit egalisierte der Nobelpreisträger seinen Vorgänger, der in Unkenntnis von Pelé gefragt hatte, ob es in Brasilien auch Schwarze gäbe. George W. Bush hat immerhin dieser Tage ein überraschend gelungenes selbst gemaltes Porträt von Wladimir Putin ausgestellt.
Bushs Putin-Porträt macht einen weniger amateurhaften Eindruck als jener Schweizer Psychologe, der dem russischen Präsidenten im „Blick“ kürzlich eine narzisstische Störung unterstellte. Und unbestreitbar vermochte US-Aussenminister John Kerry von seiner Internat-Erziehung in der Schweiz stärker zu profitieren als Nordkoreas Kim Jong Un. Angesichts eklatanter Schwächen amerikanischer Präsidenten im Bereich von Charakter und Bildung verbleibt Hillary Rodham Clinton als eine für heutige Verhältnisse glaubwürdige tüchtige Politikerin.
Nachweisbar hat sie schon 1964 Bücher gelesen, was der General und Präsident Dwight D. Eisenhower für nicht nötig erachtete. Aus Hillarys Biographie lässt sich ihr Vergleich Putins mit Hitler gut einordnen. Wen Gefährdungen des Weltfrieden bekümmern, tut gut daran, sich amerikanischen Präsidentschaftsanwärterinnen zuzuwenden. Tea-Party-Idol Sarah Palin, die von Alaska aus regelmässig nach Russland hinüberblickt, macht sich ihrerseits Gedanken über die Krim-Krise. Schon als Gouverneurin von Alaska verwies sie auf diese ihre spezielle Perspektive als Ausweis aussenpolitischer Kompetenz. Diese wird ihr aber bei weitem weniger abgenommen als der Exministerin und Gattin eines früheren Präsidenten. Diese interessierte sich schon im Geburtsjahr von Palin (1964) für Politik, damals ebenfalls auf dem rechten Flügel der Republikaner. Nicht dem liberalen John D. Rockefeller, dem kalten Krieger Barry Goldwater galt damals das Herz der Jungpolitikerin.
Die mit dem Verfasser dieser Zeilen gleichaltrige Hillary Clinton (geb. 1947) wurde für die amerikanische Politik zur Zeit des Kalten Krieges im gleichen Jahr und aus gleichem Anlass politisiert wie dieser, und zwar zu einer nachhaltigen Antikommunistin mit kaum mehr steigerbarer Abneigung gegen die Sowjetunion. Nicht etwa John F. Kennedys Haltung in der Kubakrise (1962) wurde für Hillary bestimmend, sondern die Nomination des aus Osteuropa abstammenden erzkonservativen Juden Barry Goldwater (1909–1999) zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner im Sommer 1964. Sein Programm: die atheistische und imperialistische Sowjetunion eindämmen.
Der damalige Parteitag in San Franzisco, bei dem tollkühn die Befreiung Armeniens und der Ukraine gefordert wurde, generierte in Westeuropa, auch in der Schweizer Presse, hysterische Vergleiche mit Hitlers Reichsparteitagen. Der greise Eisenhower wurde damals in der „Weltwoche“ mit Hitlers Steigbügelhalter Paul von Hindenburg verglichen. Letztlich ging es Goldwater um den Sieg im Kalten Krieg. Was er programmatisch ankündigte, hat sein Gesinnungsfreund Ronald Reagan, vor 50 Jahren ebenfalls Redner in San Francisco, dann als Präsident umgesetzt, den nuklearen Erstschlag zwar nur als Spass vor nicht abgestelltem Mikrophon.
Mit in diese Welt gehörte das damalige Goldwater-Girl Hillary Rodham. Sie wird sich bei ihrem Hitler-Vergleich in reifen Jahren wohl nicht mehr an diese frühe Episode erinnert haben. Goldwaters Jahrhundertstatement machte auch mir Eindruck: „Extremismus in der Verteidigung der Freiheit ist kein Laster, Mässigung auf der Suche nach Gerechtigkeit keine Tugend.“
Nach der Aargauer Dozentin Esther Meier Hamburg, Dozentin für osteuropäische Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, liegt ein Problem des Westens im weitgehenden Unwissen, mit was für einer „Kundschaft“ man es mit der Ukraine im Vergleich zu Putin zu tun habe, zu schweigen vom pseudonationalistischen Anliegen der Unterdrückung der russischen Sprache, welche sogar in den Kaffeehäusern Kiews bisher Standard war. Mit zum Krim-Problem gehört, dass der Beitritt der Ukraine zur Nato so lange nicht möglich ist, als die Krim als besetzt gilt, weil dies den Nato-Statuten widerspräche. Ein weites Feld, zumal vernünftige und erfahrene Politiker wie Helmut Schmidt den Weg der Ukraine in die Nato lieber nicht sehen wollen.
Weil nun aber Russland, dessen Krim-Aktion auf dem Schauplatz von seit Jahrhunderten heissumkämpften „Heimaterde“ schwerlich zu seinen schlimmsten unter den schlimmen Sünden zählt, unverstanden bleibt, der sogenannte Westen aber Mühe hat mit seiner geistigen und politischen Orientierung, kommt es zu hilflosen Hitler-Plattitüden.
Wie geht es wohl weiter? Dazu Radio Eriwan zur Zeit Gorbatschows: „Wie wird die Zukunft Russlands in zehn Jahren aussehen?“ – Antwort des Genossen Generalsekretär: „Im Prinzip gibt es eine Zukunft. Ich weiss aber nicht einmal, wie in 10 Jahren unsere Vergangenheit aussehen wird.“
*
Anmerkung zu Pirmin Meier
Pirmin Meier ist Autor eines Standardwerks über Paracelsus (6. Auflage, Union-Verlag), welches auf Russisch über den Moskauer Aletheia-Verlag Einfluss auf die Paracelsus-Rezeption in Russland gewann. Er befasst sich u. a. mit der Auswanderung von Schweizern in die Krim und an die Wolga im 19. Jahrhundert. Die zitierte Osteuropa-Historikerin Esther Meier Hamburg (*1968) ist seine Nichte und stammt wie Pirmin Meier aus Würenlingen AG.
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