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BLOG vom: 19.04.2014

Statt Literaturpapst wurde Karlheinz Deschner Kirchenkritiker

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Rickenbach/Beromünster LU, über den verstorbenen Religionskritiker Karlheinz Deschner.
 
Hinweis: Pirmin Meier hat das Leben und Wirken des Religionskritikers Karlheinz Deschner in einem ausführlichen Blog am 13.04.2014 im grösseren Zusammenhang gewürdigt. Für eilige Leser veröffentlichen wir hier eine Kurzfassung der Analyse aus der Feder desselben Autors, die auch neue Gedanken und wenig bekannte Informationen enthält. Diese Kurzfassung ist indessen eine ungekürzte „Langfassung" des Nachrufs von Pirmin Meier auf Karlheinz Deschner in der „Basler Zeitung" vom 16.04.2014 „Kirchenkritiker statt Literaturpapst", bei welchem Text der Einwand Jacob Burckhardts gegen polemische Geschichtsschreibung das letzte Wort war. Auf diesen zwar berechtigten Einwand gibt es aus dem Geiste Deschners wiederum eine durchaus glaubwürdige Antwort.
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Das Hauptwerk des Basler Theologen Karl Barth (1886–1968), die Kirchliche Dogmatik“, umfasst 14 Bände. Mit philosophischen Eigentoren wie „Erotische Liebe ist Verleugnung der Humanität“ (Bd. 4,2) aus dem spätesten System protestantischer Theologie steht Dogmatik dieser Art heute neben den Schuhen. Zu den Autoren, die mit kirchlicher Sexualmoral gnadenlos abgerechnet haben, gehört der meistgelesene polemische Autor deutscher Sprache: Karlheinz Deschner. Am 08. 04.2014 ist er in Hassfurt D kurz vor seinem 90. Geburtstag verstorben.
 
Deschner hat, auf literarisch ansprechendem Niveau, sogar Heimatliteratur über Franken geschrieben. Unbeschadet des meines Erachtens unsäglichen Titels „Dornröschenträume und Stallgeruch“ hält Deschner-Kennerin Gabriele Röwer, seit Jahrzehnten seine kritische Wegbegleiterin, die Heimatstudie für sein schönstes Buch. Dass Darstellungen über Lokales, weil besser überprüfbar, ernster zu nehmen sind als Gesamtdarstellungen über eine ganze Zivilisation in einem Zeitraum von 2500 Jahren, gehört heute zu meinen wenigen gesicherten Überzeugungen als Historiker. Die grossen Ideen, auch negative, wie die von der Grässlichkeit des Katholizismus oder des Kommunismus, sind universal. Die Tatsachen aber finden immer vor Ort statt.
 
Zu seinen wichtigen, aber nicht bekanntesten Publikationen gehört der frühe Roman „Die Nacht steht um mein Haus“, den man, weil er es auf keinen literarischen Kanon gebracht hat, leicht unterschätzt. Der Philosoph Rigo Söder (Luzern) sieht hierin schon Perspektiven des späteren Deschner als Ethiker und Gesellschaftskritiker vorweggenommen, so den Gestus der Anklage, noch dazu eine im Vergleich zu Rousseau moderne bahnbrechende Naturvision, auch respektable Fragestellungen, unser Handeln betreffend.
 
Angefangen hat Deschner mit unerschrockener Literaturkritik. Der promovierte Germanist rechnete Hermann Hesse, Werner Bergengruen, Gerd Gaiser, Ernst Jünger, Max Frisch und anderen präzis Sprachpfusch und Sprachkitsch vor, trat dagegen für Robert Musil, Hermann Broch und Hans Henny Jahnn ein. Wie bei der Religionskritik bekam er trotz Einseitigkeit in vielem Recht. Aber die Kathedra des Literaturpapstes war schon vergeben. Deschner überlebte Marcel Reich-Ranicki um ein halbes Jahr.
 
Dafür erreichte der einstige katholische Internatsschüler dank flächendeckender Kirchenkritik ein Millionenpublikum. Barth liest heute bei uns fast niemand mehr, wiewohl er über Religion und Politik viel zu sagen hätte. Als der junge Deschner sich als Kriegsfreiwilliger engagierte, war Barth von Basel aus wegleitend für den christlichen deutschen Widerstand. Polemische antikirchliche Werke, zum Teil ansprechend dokumentiert, über pädophile Kleriker und perverse Mönche, erschienen im 3. Reich in hoher Auflage. Barths Appelle an das Gewissen wurden dagegen nur insgeheim verbreitet.
 
Schandtaten mit kirchlichem Hintergrund lassen sich in Deschners 2013 mit Band 10 abgeschlossener, aber nur bis Ende des 18. Jahrhundert reichender „Kriminalgeschichte des Christentums“ (Rowohlt) in hoher Dichte nachlesen. Ein Überblickswerk dieser Art, mit gut einem Dutzend weiterer einschlägiger Buchpublikationen ergänzt, so 1962 mit „Abermals krähte der Hahn“, entsprach einem Bedürfnis Ungezählter. Das 20. Jahrhundert wurde von Deschner jedoch schon wiederholt behandelt, auch in Buchform, betreffend die umstrittene „Politik der Päpste". Hierzu ist das letzte Wort ohne die entsprechende Einsichtnahme in vatikanische Archive noch längst nicht gesprochen.
 
Zwar beruhen Deschners historiographische Pamphlete, seine bevorzugte Textsorte, auf Literaturstudium, kaum auf Knochenarbeit in Archiven und mit Handschriften, gar Papyrologie und archäologischer Nachkontrolle wie bei Jesus- und Paulus-Biograph Carsten Peter Thiede (1952–2004). Aber die Resultate des Kirchenkritikers sind ergiebig, so die Frühgeschichte des Christentums betreffend. Selbst Jesus wird nicht geschont, dessen Exorzismen und Höllendrohungen, wie die Bibel generell, die Mentalität „nomadisierender Ziegenhirten“ ausgedrückt hätten. Dass solches Gedankengut noch „die offiziellen Codices von Europa und Amerika“ beeinflusst, empörte ihn. Die gar noch ausschweifender „nomadisierenden“ Muslime hat Deschner dem Kollegen Salman Rushdie überlassen.
 
Als Generalist hat der Autor ein anregendes, oft provozierendes Überblickswerk geschrieben. Ein Beispiel für den polemisch-didaktischen Fokus auf das Schändliche:
 
„Wie denn nur beispielhalber die Ritter des Deutschen Ordens, verpflichtet, ein Leben ,allein im Dienste ihrer himmlischen Dame Maria’ zu führen, alles vögelten, was eine Vagina hatte, Ehefrauen, Jungfrauen, kleine Mädchen und, wie wir nicht ohne Grund vermuten dürfen, weibliche Tiere. Wie es ja auch im Vatikan, lange, sehr lange, recht locker zuging, etwa – einer für viele – Papst Sixtus IV., Erbauer der Sixtinischen Kapelle und eines Bordells, noch seine Schwester und Kinder besprang, sein Neffe, Kardinal Pietro Riario, sich buchstäblich zu Tode koitierte und auch noch, Ehre wem Ehre gebührt, eines der schönsten Grabdenkmäler der Welt bekam.“
 
Vielleicht wird, nach dem Prinzip selektiver Historie, über gewisse Präsidenten der USA und Frankreichs mal ähnlich „Geschichte geschrieben“. Die rund 1000 Spitalgründungen der Johanniter und Deutschritter, zum Teil durch Ablässe finanziert, gehören indes zu den respektablen Leistungen unserer Zivilisation. Informativer als die sexualwissenschaftlich unvollständige Wahrheit des Koitierens via Scheide bleiben das Pflegewesen der Johanniter, deren Medizin-Prinzipien und die sensationelle chirurgische Technik einzelner Deutschritter, die Kirchenkritiker Paracelsus in Basel 1527 in einer Vorlesung rühmte. Dabei gab es aber kaum eine klerikale Schweinerei, die das revolutionäre Genie nicht ebenfalls kenntnisreich brandmarkte.
 
Der konstitutiven Beschränktheit polemischer Geschichtsschreibung hat Basels Jacob Burckhardt entgegengehalten: „Ohnehin sollten wir gegen das Mittelalter schon deshalb den Mund halten, weil jene Zeiten ihren Nachkommen keine Staatschulden hinterlassen haben.“
 
Dass allerdings Deschner, geprägt vom Motto des Priesters und Widerständlers Johannes Ude, „Ich kann das Unrecht nicht leiden“, über unzählige und nicht zu leugnende Abscheulichkeiten der Religions- und Kirchengeschichte den Mund nicht gehalten hat, wird ihm von einer respektable Leserschaft verdankt, darunter neben Ausgetretenen von weit mehr kirchlich Engagierten und Interessierten als man denken würde. Im Vergleich zu oft langweiligen theologischen Werken behält die „Chronique scandaleuse“ jenseits von hier formulierten Einwänden mehr als nur Unterhaltungswert.
 
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