Textatelier
BLOG vom: 01.05.2014

Wut und Verzweiflung: die Missgeschicke eines Jungen

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Ein bekanntes Musikstück ist das Rondo mit der Bezeichnung „Die Wuth über den verlornen Groschen“, das erst posthum veröffentlicht wurde. Der Komponist Robert Schumann schrieb über das Stück seines Kollegen Folgendes:
 
„O es ist die liebenswürdigste, ohnmächtigste Wuth, jener ähnlich, wenn man einen Stiefel nicht von den Sohlen herunterbringen kann und nun schwitzt und stampft, während der ganz phlegmatisch zu dem Inhaber oben aufsieht.“
 
Man kann schon wütend werden, wenn man etwas verliert. Nicht jeder kann so eine Wut in einem Musikstück verarbeiten wie Ludwig van Beethoven. Ich kann die Emotion beim Hören so richtig nachempfinden, dieses Aufstampfen, dieses Auf- und Abgehen, diese Verzweiflung, diese Unzufriedenheit mit sich selbst.
 
Die Reaktionen bei uns Normalsterblichen unterscheiden sich nicht völlig davon, je nach Temperament und Charakter, auch je nachdem, was und wie wertvoll und wichtig das Verlorene war, aber eben nicht unbedingt musikalisch.
 
Mag sein, dass die männliche Spezies stärkere Regungen empfindet, aber Wut ist unabhängig von Alter und Geschlecht.
 
Die Grosseltern hatten zu Ostern Besuch von den Enkelkindern, der Tochter und dem Schwiegersohn. Letztere nutzten die Gelegenheit, um sich kinderlose Zweisamkeit für 24 Stunden in der nächsten Grossstadt zu gönnen und überliessen die Kinder in der Obhut von Oma und Opa.
 
Es war das erste Mal seit der Geburt der 2 Kleinen im Alter von jetzt beinahe 3 und 5 Jahren. Der Junge ist der Ältere und schon sehr verständig, eben beinahe schulreif.
 
Die Oma kam auf die Idee, ihm eine kleine Geldkassette aus Metall mit einem Schloss nebst dem zugehörigen Schlüssel zu schenken, die sich noch bei den Grosseltern befunden hatte, aber in der Generationenreihenfolge zuerst der Mutter der Oma, dann der Oma und schon der Mutter der beiden Kinder vererbt worden, aber nach dem Auszug der Tochter in Vergessenheit geraten war.
 
Hocherfreut nahm Jonas das Kästchen in Empfang. Dinge, die ihm wertvoll erschienen, eine Münze, eine Zeichnung, ein im Wald gefundener hübscher Stein fanden alsbald ihren Weg in das Innere. Die Kassette wurde geschlossen und wieder mit dem Schlüssel geöffnet und wieder geschlossen. Das Händchen umfasste den kleinen Henkel, und der Junge trug sie vom Wohnzimmer ins Schlafgemach und wieder zurück. Noch einmal wurde das Schloss ausprobiert.
 
Es war unverkennbar seine Kassette. Zum ersten Mal konnte er etwas vor dem Zugriff der kleinen Schwester schützen und einschliessen. Wenn da nicht der Schlüssel wäre, der irgendwie auch gesichert werden musste. Also legte er den Schlüssel ebenso in die Kassette. Der Junge schloss den Deckel. Da rastete das Schloss ein. Die Kassette war nicht mehr zu öffnen. Der einzige Schlüssel befand sich darin.
 
Es war keine Wut in dem kleinen Jungen, es war pure Verzweiflung. Immer wieder griff er den Henkel, aber der Deckel bewegte sich keinen Deut.
 
Opa, kannst du sie mir wieder aufmachen?“ Tapfer hielt er seine Tränen zurück. Der Opa versuchte es mit einem Schraubenzieher. Vergebens. Andere Schlüssel erwiesen sich als wertlos. Es war Ostern, Oma und Opa vertrösteten ihn auf den Schlüsseldienst, der aber erst am Dienstag wieder da war.
 
So lange wollte und konnte der Junge nicht warten. „Versuch’ doch noch mal, Opa“, bat er klagend. Der Opa bekam das Kästchen nicht auf, ganz verbiegen wollte er es auch nicht. Tapfer hielt der Junge die Tränen zurück.
 
Dann kam der Onkel des Kleinen zu Besuch. Er war Mechaniker. Vielleicht wusste er, wie man den Deckel aufbekam. Der Onkel versuchte es noch einmal mit einem dünnen Schraubenzieher. Ehe er sich versah, sprang der Deckel auf. Ohne dass er wusste wie, hatte er die Mechanik überlistet.
 
Jonas fiel dem Onkel um den Hals. Dass er wieder an den Inhalt des Kästchens kam, war das schönste Ostergeschenk, das er bekommen konnte. Er war überglücklich.
 
Noch ganz oft leerte er die Kassette aus, füllte sie wieder, schloss sie ab, öffnete sie wieder. Sie gehörte ihm ganz allein. Opa schenkte ihm ein Halsband, an das er den Schlüssel befestigen konnte. So lief Jonas stolz umher, mit dem Schlüssel, der vor der Brust baumelte.
 
Dann gingen er und die Schwester mit Opa noch in den Wald. Dort gab es viel zu entdecken, vermoderte Baumstämme, von denen er das Moos abkratzen konnte, Äste, Mäuselöcher und Kaninchenhöhlen.
 
Die Kassette hatte Jonas im Wohnzimmer in eine Ecke gelegt, den Schlüssel daneben. Das jedenfalls dachte er.
 
Als die 3 wieder aus dem Wald kamen, ging es ans Zähneputzen und dann ins Bett. Am nächsten Morgen spielte die kleine Schwester schon, als Jonas die Kassette in die Hand nahm. Oh Schreck! Der Schlüssel war verschwunden!
 
„Bist du sicher, dass er daneben lag? Hast du ihn nicht in die Jackentasche gesteckt, als du mit Opa in den Wald gegangen bist?“
 
Jonas war sich sicher, er musste hier irgendwo sein. Jedes Kissen wurde umgedreht, in der Spielkiste geschaut, hinter und unter die Couch, unter dem Schrank und unter dem Tisch, im Schlafzimmer.
 
Das war zu viel. Jetzt kamen die ersten Tränen, der Ausdruck stiller Wut und absoluter Verzweiflung. Gestern war es ja noch gut gegangen, und jetzt das!
 
Oma und Opa suchten mit, nur das kleine Mädchen spielte mit der Puppe.
 
Der Schlüssel war nicht aufzufinden. Das Aufhebeln klappte nicht noch einmal. Der Onkel war längst wieder zu Hause, und Opa schaffte es nicht. Das sonst so muntere kleine Kerlchen war nur noch ein Häufchen Elend.
 
Endlich kamen Mama und Papa von ihrem Ausflug zurück. Schön war es gewesen, einmal ganz ohne Kinder.
 
Sofort wurde erzählt, was gestern geschehen war, und von der Kassette. Papa versuchte sich auch mit dem Schraubenzieher, aber es gelang nicht, der Deckel rührte sich nicht.
 
Dann kam Mama auf die Idee, die Kiste mit den Bausteinen, mit denen das Mädchen gestern noch gespielt hatte, auszuleeren und siehe da! Da war er, der Schlüssel! Ganz unten hatte er gelegen! Natürlich wusste die Kleine nicht, wie er dorthin gelangt war.
 
Ob da ein wenig Neid eine Rolle gespielt hat? Wer kann das schon wissen?
 
Egal, Ende gut, alles gut!
 
Quelle
www.koelnklavier.de/quellen/schumann/kr017.html‎
 
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