BLOG vom: 15.05.2014
H.R. Giger: Jahrhundert-Schweizer und Aussenseiter zugleich
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Rickenbach/Beromünster LU. Er würdigt den weltweit bekanntesten Schweizer Kulturschaffenden im globalen und schweizerischen Kulturbetrieb.
H. R. Giger, eigentlich Hansruedi Giger, war in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, zuletzt in bedeutenden Ausstellungen im neuen Jahrtausend, als multimedialer Meister eines manieristisch weiterentwickelten hochplastischen Surrealismus zum Schweizer Kulturschaffenden mit der wohl grössten weltweiten Ausstrahlung geworden. Seit dem Hinschied von Le Corbusier gab es kaum mehr ein vergleichbares Weltecho zum Tod einer Grösse mit helvetischem Hintergrund.
Giger wurde als Sohn einer Apothekerfamilie in Chur am Agathatag (5. Februar) des Kriegsjahres 1940 geboren. Verstorben ist er zum Datum des Eisheiligen Pankraz, nämlich am 12. Mai 2014. Im Kanton Freiburg, der Heimregion seines weltbekannten Museums in Gruyères, bedeutete dieser Todesfall seit dem Hinschied des ähnlich genialen Jean Tinguely (1991) einen markanten Verlust für das künstlerische Leben.
Im Bergstaat Alaska sieht man dies ähnlich wie im Greyerzerland. „Peninsula Clarion“, das Qualitätsmedium in der einstigen russischen Siedlung Kenai im äussersten Nordwesten Alaskas, würdigte aus Anlass der Todesmeldung das Museum H. R. Giger im Greyerzerland fast so ausführlich wie die die Welschfreiburger „La Liberté“ und die „Freiburger Nachrichten“.
Bundesrat und Kulturminister Alain Berset liess amtlich bekanntgeben:
„H.R. Giger war ein diskreter Künstler mit Weltformat, der nicht im Mittelpunkt stehen wollte, aber Fans aus aller Welt anzog. Er inspirierte Künstlerinnen und Künstler zu verschiedenen Ausdrucksformen. Im Kunstmarkt spielte H. R. Giger nicht mit, aber der Markt kam zu ihm. Er schuf auf singuläre Art faszinierende Welten, seltsam und unheimlich – in ihnen finden sich Spuren der namhaftesten Künstlerinnen und Künstler des 20. Jahrhunderts. Die Schweiz hat eine lange Tradition in der bildenden Kunst sowie im Design, und H. R. Giger trug zu deren weltweiten Anerkennung bei. Er war ein Künstler, der stets überraschte und sich nicht durch vorgefertigte Definitionen von Kunstgattungen einschränken liess, … ein Wegbereiter des zeitgenössischen Kunstschaffens.“
In der NZZ unter „Verschiedenes“ gewürdigt
Dem feingebildeten Politiker Berset aus dem freiburgischen Belfaux war das Museum Giger nicht nur vom Hörensagen bekannt. Hatte „Bern“ eine seiner würdigsten Hommagen auf einen Künstler verlautbart, zelebrierte gleichentags (14. Mai) die Neue Zürcher Zeitung Kultur-Snobismus vom Feinsten mit der Platzierung des Giger-Nekrologs auf der Seite „Verschiedenes“ bzw. „Panorama“. Nebst Hinweisen auf die Schädlichkeit des Rotweins und die Erpressung von Uli Hoeness erfährt eine erstaunte Leserschaft, Giger sei ein „Schweizer Enfant terrible“ gewesen. Ein empfindsamer Künstler leide nun halt mal unter Verkennung. Der Verstorbene hinterlasse ein immenses, unheimliches Werk, das es neu zu entdecken gelte. Die Poster-Trivialisierung und -Banalisierung von Gigers Universum hätten sich als Bumerang erwiesen.
In Amerika, dem Land mit dem markantesten Einfluss auf die Schweizer Gesetzgebung, hatte sich die Todesnachricht von „Alien“-Künstler Giger fast wie ein Lauffeuer verbreitet. Desgleichen in Japan, dem Vereinigten Königreich, in Frankreich, Deutschland, Polen und dem Rest der Europäischen Union. Unterdessen würdigte man beim Schweizer Kultur-Establishment den im Vergleich zu Giger klar mit besserem Schulsack ausgestatteten, bedeutenden Gelehrten Adolf Muschg als „vom Daimon beseelt“. Zum Beweis dazu dienten der NZZ anstelle der nicht nur in Alaska wenig interessierenden Professorenromane um Parzival, Japan und Blocher gepflegtes Zitieren aus dem Lateinischen, Berufungen auf Kant sowie Hinweise auf Kunstwerke, welche für den Kunstgeschmack des einstigen Büchner-Preisträgers Zeugnis ablegen. Fast gleichzeitig mit der Beweihräucherung des pensionierten Jubelseniors war aber in Oerlikon ein Jahrhundertgenie, weltweit stärker beachtet und geliebt als alle noch lebenden Schweizer Autoren, in seinem Heim ohne gepflegten Rasen in Oerlikon eine häusliche Treppe hinabgestürzt. Die Verletzungen waren so schwer, dass in einem Zürcher Hospital wenige Stunden danach nur noch sein Tod festgestellt werden konnte.
Schatten der Resignation
Gemäss Aussagen von Gigers Witwe Carmen Scheifele Giger habe es noch kurz vor diesem fatalen Unfall Anzeichen gegeben, der Künstler könne sich von einer lähmenden Resignation, die ihm in den letzten Monaten und Jahren das Schaffen verleidete, allmählich wieder aufraffen. Zum Erscheinen der Publikation „Alien Tagebuch“ hatte Verleger Patrick Frey über den Verfasser am 28. September 2013 vermerkt:
„Er ist alt. Er arbeitet nicht mehr. Das ist für einen Künstler problematisch. Er hat angedeutet, dass er genug habe. Dementsprechend hat er etwas Abgeklärtes und Zurückgezogenes. Aber er war früher schon ein schüchterner Mensch. Schon als er in Hollywood war, wollte er immer zurück nach Hause zu seinen Katzen. Er will nicht hinaus in die grosse Welt und schätzt die Geborgenheit seines kleinen Reiches in Oerlikon. Ein Reich, das die meisten von uns nicht als gemütlich empfänden. Eher als düster und morbid. Das ist grade in der aktuellen Situation berührend. Mit seinen Werken hat er einen düsteren und erotischen Limbus geschaffen. Ein Reich zwischen Leben und Tod. Andere Menschen haben Angst vor dem Ungewissen. Giger hat diese Ängste auf eine unglaubliche Weise als Werk umgesetzt. Und jetzt, wo sich sein Leben dem Ende zuneigt, scheint er sich immer mehr dorthin zurückzuziehen.“
„Selbstmord ist etwas ganz Furchtbares“
Der Tod eines Geschwächten kam – für Eingeweihte – nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. „Krise“ bedeutet in der alten Krankheitslehre „Entscheidung“. Eine gesundheitliche Krise kann den Tod bedeuten. Dies hatte Giger schmerzlicher denn je am Pfingstmontag 1975 erfahren, als seine schwermütige Muse und langjährige angebetete Freundin, die Schauspielerin Li Tobler (1948–1975) mit einem Fünfmillimeter-Revolver, mit dem sie mal auf der Bühne aufgetreten war, ihrem Leben per Kopfschuss ein Ende gemacht hatte. Giger, ansonsten bereit, dem Tod kultisch zu huldigen, hat jene tragische Tat nie akzeptieren können:
„Li hatte so ein hübsches Gesicht. Da hineinzuballern, ist verrückt, oder?“, bekannte er dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL: „Und wenn man mit einem verdammten Revolver in sein Gesicht schiesst, passiert ganz sicher etwas. Selbst wenn man überlebt, sieht man entsprechend aus, ist auf einem Auge blind oder ähnliches. Selbstmord ist etwas ganz Furchtbares, und man merkt erst zu spät, dass ein Mensch wirklich diese Absicht hat.“
Li Tobler, aus dem Bekanntenkreis des frühen Giger-Freundes und Schauspielers Paul Weibel, hat einige wenige Abende bei Badens Theatertruppe „Die Claque“ im dortigen Kornhauskeller gespielt. 9 Jahre lang war sie die wichtigste Frau im Leben des Künstlers. Für Giger, der wie sein Förderer Salvador Dali seine Muse Gala, Li Tobler, über deren Tod hinaus zur makabren Schönheit stilisierte, war weniger die Selbsttötung der Geliebten unerträglich als vielmehr das Attentat auf die Schönheit. Dies konnte und wollte er nie akzeptieren. Die Schönheit hat nach Hölderlin 2 Töchter, die Religion und die Kunst. Der katholisch sozialisierte Giger entschied sich für das zweite. Insofern war ein Vergehen an der Schönheit für ihn die Sünde schlechthin. Weniger der toten Geliebten, eher sich selber hätte er ein Vergehen dieser Art nie verzeihen können.
Katholische Sozialisation
In der Bischofsstadt Chur wurde die katholische Sozialisation für Gigers künstlerische Entwicklung gemäss wiederholten persönlichen Aussagen keine Kleinigkeit. In Churs Kantonsschule, wo er sich mit dem Latein übel abquälte und es im Gegensatz zum einstigen Vorzugsschüler Muschg nicht zum Humanisten im Gebrauch der Sprache brachte, blieben ihm die für sein späteres Werk prägenden Bildungserlebnisse weitgehend vorenthalten. Nicht aber – weit früher ‒ im damals von Ordensschwestern geführten Kindergarten.
Niemals zu vergessen war für ihn, wie er mehrmals betonte, im Kindergarten das Gesicht des leidenden Jesus. In streng erzieherischer Absicht wurde es den Zöglingen anheim befohlen. Dass jede Ungezogenheit eines frechen Buben ein Peitschenhieb am Leibe oder doch wenigstens ein Blutstropfen auf der Stirn Jesu sei, war über Jahrhunderte ein Standard, welcher die Kultur noch stärker bildete als das um Auswege und Ausreden nie verlegene Gewissen. Solches oder Ähnliches haben in der Schweiz Heinrich Federer, Silja Walter, Otto F. Walter, Hugo Loetscher, Niklaus Meienberg, Thomas Hürlimann, Arnold Stadler, Martin Stadler und andere so mitgekriegt, dass es in ihrem Werk deutlich genug nachwirkt. Selber kann ich auf die Erfahrung von 3 Jahren Kindergartenpädagogik in der von Giger geschilderten Art zurückblicken. Eine erste Vorschule für das bessere Verständnis christlicher Mystik. Im Zentrum der Erziehung stand das Herz, symbolisiert im Herzen Jesu. Es war mit Dornen eingefasst.
Wenn die respektable Autorin Simone Meier, die sich seinerzeit mit 2000 verkauften Büchern „in den Buchhimmel der Schweizer Jungautorinnen“ geschrieben hat, in ihrem Nachruf davon berichtet, die als Kindergärtnerinnen tätigen Churer Nonnen hätten die „Kinder mit Bildern von Christus am Kreuz geplagt“, fehlt bei berechtigtem guten Willen zur Kritik ein tieferer Durchblick in die katholische Ästhetik. Dies gilt für bildnerische Gestalter noch in weit höherem Ausmass als für Literaturschaffende.
Der in den katholischen Kosmos eingeweihte Hansruedi Giger sollte sich früh in der Lage sehen, weit Entsetzlicheres Kunst werden zu lassen als den Kopf eines konventionellen Christus. Dass er nach eigenem Eingeständnis von geistlichen Kindergärtnerinnen tiefer geprägt wurde als von humanistisch gebildeten Gymnasiallehrern, ist mit ein Befund, warum Hansruedi Giger nicht Illustrator langweiliger Lehrmittel nach Vorschriften pädagogischer Korrektheit wurde, sondern der H. R. Giger, den wir zu kennen glauben.
Falls Giger Gott je gedankt hat, dann gewiss dafür, dass die Kindergärtnerinnen von Chur ihm zu seiner ästhetischen Erziehung nicht nur süsse Herzchen und liebliche Osterhasen und schmutzlifreie, antiterroristische Samichläuse vor die Nase gesetzt haben. An Grausamkeit sind gemäss dem Bündner Schriftsteller Jürg Federspiel die Bibel und Grimms Märchen durch „Holocaust“-Dokumentationen nur knapp zu übertreffen. Psychisch schwächere Kinder mussten bei der sogenannten Erziehung unabhängig von der jeweils herrschenden Ideologie schon immer Schweres ausstehen. Für künftige Genies im Bereich optischer und plastischer Gestaltung, zu denen Giger gehörte, produzierte in Europa oder Südamerika eine katholische Erziehung mit allem, was dazu gehört, nebst manchmal fatalen Nebenfolgen ein durch fast nichts zu ersetzendes Arsenal an Anregungen und kreativen Ideen. Die Kunstgeschichte bringt dazu eindrucksvolles Beweismaterial.
Ohne das dem Knaben jenseits von aufgeklärter Schonung präsentierte Kopfbild des leidenden Jesus wäre für Giger der zerschossene Schädel seiner Geliebten künstlerisch wohl noch viel weniger zu bewältigen gewesen. Nichts scheint mehr daneben, als einem wahren Künstler mit Psychologie beikommen zu wollen. „Ich brauche keine Psychologen. Die Psychologen brauchen mich“ gehört zu den eindrücklichsten Aussagen Gigers, von Simone Meier in ihrem Nachruf verdienstlich zitiert.
Das Geissenpeter-Syndrom
H. R. Giger wurde, wie auf einer suboptimal beratenen amerikanischen Website zu lesen steht, „im kleinen Schweizer Dorf Chur“ geboren. Dies war wohl weniger ein Hinweis auf das „Welschdörfli“ oder die „Dörflibar“, eher schon auf die Wahrnehmung des Alpenlandes in der globalisierten Welt. Alpenländische Genies sind irgendwie „Geissenpeter“, wie es schon Stefan Zweig in seiner Biographie über den magischen Materialisten und Spätalchemisten Franz Anton Mesmer, einen Geistesverwandten Gigers, ausgedrückt hat: „Den nächsten Winter verbrachte er in Frauenfeld, einem kleinen Bergdorf in den Alpen.“ Im Vergleich zu Wien, Paris und New York, wo Giger ein grosses Publikum fand, mögen Chur und Frauenfeld unbeschadet ihrer beeindruckenden prähistorischer Vergangenheit, kleine „Käffer“ sein. Es passt auch in ein bestimmtes biographisches Schema. Heidi kommt von den Bergen, verirrt sich in eine Grossstadt, kehrt dann wieder heim und kann brauchen, was „es“ gelernt hat.
Nicht nur in der Schweiz, Paris, Wien, Graz, London, auch in den Vereinigten Staaten war eine allenthalben auszumachende Gemeinde von Giger-Begeisterten von der Todesnachricht am Morgen des 13. Mai 2014 konsterniert. Eine erste Würdigung erschien in der bereits zitierten Zeitung von Alaska „Peninsula Clarion“. Die Leserschaft im ehemaligen Goldgräberparadies erfährt einiges über Gigers fast nur nächtliches Arbeiten, seine Pionierrolle als Gestalter von Rock-Alben, zu deren weltweit erster Garnitur er gehöre, seinen Spannungen mit etablierten Museen und seiner tiefen, alle anderen Frauenbeziehungen überstrahlenden Bindung an seine Bündner Mutter Melli. Die Verwandten und Angehörigen der Familie von Ex-Gouverneurin Sarah Palin sollen zur Kenntnis nehmen, was für eine Provokation die ersten Werke Gigers in jungen Jahren für seine kleinstädtischen Nachbarn bedeutete.
Dass Giger-Motive für die Kunst des Tätowierens von Bedeutung sind, kann unter dem Gesichtspunkt moderner globaler Volkskultur nicht als Kleinigkeit abgetan werden. Für die Presse in Alaska war Giger der erste Schweizer Künstler, von dessen Leben und Tod nicht nur in einer kurzen Notiz Kenntnis genommen wurde. Mit dem Surrealisten, Innenarchitekten Maler, Zeichner, Plastiker, Filmgestalter, Buchautor und Museumsgründer war für sie ein Jahrhundertkünstler dahingegangen.
Im angeblich kleinen Dorf Chur, der ältesten Stadt der Schweiz, Geburtsort der von Malerin Angelika Kauffmann und Architekt Peter Zumthor, senkte sich tiefschwarze Trauer auf die „Giger-Bar“ im Churer Quartier Kalkbühl, diesen progressiven Focus der Bündner Haupt- und Bischofsstadt. Auch auf dem Schloss St. Germain in Greyerz, von Giger in den neunziger Jahren aufgekauft, über Jahre sodann im „Limelight“ in New York, in London und Tokyo gab oder gibt es durch äusserst originelles Stuhl-Design gekennzeichnete „Giger“-Bars. Einigen Giger-Bars sei jedoch, wie die Presse in Alaska hervorhebt, eine nur kurze Lebenszeit beschieden gewesen.
Hansruedi Giger, wie wenige Schweizer und Europäer auf der ganzen Welt zu Hause, war nichtsdestotrotz ein Alpensohn, liess kurz vor seinem Tod nicht bloss in Paris und Linz eine ganz besondere Werkschau zeigen. Selbst auch der Landenberg von Sarnen, die Stätte ehrwürdiger Landsgemeinden und gleichsam Geburtsort des Weissen Buchs von Sarnen und damit Wilhelm Tell, wurde zum Ausstellungsort erwählt. Das bedeutendste von Gigers Schweizer Projekten, „The mysterys of San Gottardo“, gelangte jedoch nicht zu Filmreife.
Vollendetes und grandios Unvollendetes
Mit zum Leben und Schaffen von H.R. Giger gehörte neben phantastischen Vollendungen ein Kranz unvollendeter Visionen, die trotzdem irgendwie epochemachend blieben. Zum Beispiel das Filmprojekt von Alejandro Jodorkowsky zur zehnstündigen Visualisierung von Frank Herberts Roman „Der Wüstenplanet“, in dem Salvador Dali, Gloria Swanson, Pink Floyd, Magma und andere Superstars der Weltkulturszene im Rahmen eines gestalterischen Programms von H. R. Giger hätten auftreten sollen. Dieses Projekt wurde dann später von David Lynch übernommen; von „Dune“, einem weiteren grossangelegten Plan von Jodorkowsky und Giger, blieb am Ende nur ein 2013 vollendeter Dokumentarfilm über das Projekt übrig. Statt im portugiesischen Sinn von „Capellas imperfeitas“ (unvollendete Kapellen) könnte man bei nicht wenigen Projekten mit Giger von „unvollendeten Kathedralen“ sprechen.
Unter den vollendeten Werken, die ihn weltberühmt gemacht haben, nehmen „Alien“ unter der Regie von Ridley Scott (1979), „Poltergeist II“, „Alien 3“ sowie „Species“ eine überragende Rolle ein, weil sich in ihnen die Genres des Fantasyfilms, des Weltraumfilms, des modernen Horrorfilms und darüber hinaus die Strukturvorstellungen unzähliger späterer Computergames konstituierten. Hier spielte Giger als Spezialist für die speziellen Effekte den Part des Genies vom Dienst. 1980 wurden diese Bemühungen mit einem hochverdienten Oscar ausgezeichnet. Der wohl bis heute nachhaltigste Schweizer Oscar, wiewohl Giger diesen mit vier anderen Mitproduzenten teilen musste.
Fruchtbarkeit der Gebärmaschinen
Was diese Werke über all das hinaus, was an ihnen „gekonnt“ ist (dafür war Giger immer massgeblich zuständig), für die Filmgeschichte und für die Weltkulturgeschichte wert sind, kann derzeit wenig sicher beurteilt werden. Mit Sicherheit waren die Sparten neuen Kinos, denen Giger seine Berühmtheit verdankt, innovativ. Persönlich konnte ich in keinem dieser Wegweiser in Richtung einer globalisierten Kultur den weltliterarischen Rang, die philosophische und zeitkritische Tiefe und das reine unvermischte Genie der besten Werke von Stanley Kubrick und Federico Fellini sehen. Trotzdem hatten „Alien“ und Co. wohl mehr mit der Kunst des 21. Jahrhunderts zu tun als die Werke der genannten Meister, die wie viele ihrer Vorgänger noch vergleichsweise von einer vormodernen, zum Beispiel dem Niveau eines Shakespeare oder Voltaire oder Flaubert verpflichteten Ästhetik geleitet blieben. Der nächste Schritt, bei Kubrick und Fellini zwar mehr als einmal nicht bloss angedeutet, führt in die Gigersche Fruchtbarkeit der Gebärmaschinen. Im Sinne von Günter Anders Kunst also in die Richtung der Abschaffung des Menschen. In diesem Zusammenhang schrieb Kunstkritiker Fritz Billeter im Katalog „1968. Zürich steht Kopf“, nicht nur Gigers Filmarbeiten, sein gesamtes bildnerisches Werk sei „erotisch aufgeladen mit einer Tendenz zum Furchtbaren und Sadistischen“.
Es wäre ein Irrtum, diese bei Billeter negativ gewerteten Aspekte als abschliessendes Gigersche Programm einzuschätzen. In einer Welt des Unmenschlich-Monströsen kommt dem Humanen eine insulare Sonderstellung zu. Dieser nachzuspüren, bliebe eine der Aufgaben der Forschungen um Giger. Dass dieser den Schweizer Mythenforscher Sergius Golowin, von der zünftigen Wissenschaft in der Regel nicht zitiert, seinen „geistigen Vater“ nennen wollte, wohl nicht nur als Vermittler der Gedanken- und Drogenwelt eines Timothy Leary, zeigt in eine andere Richtung als die einer mechanischen und technischen Kunstwelt. Dieser Fingerzeig mag dazu beitragen, Gigers letzte oder zweitletzte Oase, das Schloss Greyerz, als kulturellen Zusammenhang und Traditionsbezug im Zeichen des Vogels von Greyerz, des Kranichs, als Perspektive der Hoffnung zu verstehen.
Barbara Gawrysiak und das Schloss Greyerz
Gigers Museum im Schloss Greyerz, dem von ihm käuflich erworbenen Schlossteil St. Germain, macht – im Prinzip unvollendet – den Eindruck der Dokumentation von Bruchstücken einer grossen Konfession, um hier mal eine Goethe-Formel zu bemühen. Vielleicht mehr Bruchstücke als Konfession.
Die kulturelle Grosstat des Giger-Museums geht auf die Initiative der Auschwitz-Überlebenden, Porschefahrerin, Lehrerin, Sexologin und zeitweiligen Giger-Muse Barbara Gawrysiak zurück. Mit Unterstützung des Konservators und Vitraux-Pioniers Etienne Chatton organisierte sie in den 1990er-Jahren eine von 120 000 Besuchern gewürdigte Giger-Ausstellung. Greyerz, das schweizerische Transsylvanien, nach meinen Recherchen das letzte Refugium des Vampirismus in der Schweiz, sollte für Giger nach Chur und Zürich eine 3. Schweizer Heimat werden. In sein Museum investierte er, einschliesslich des ihm ermöglichten Kaufs, Millionen.
An der Bildungsgeschichte Gigers, die über die Kunstgewerbeschule mit Architektur und Industriedesign führte, mit Atelierarbeit in Zürich Seebach und frühen Ausstellungen zu einer Epoche, da das „Atomzeitalter“ noch positiv konnotiert war, fällt auf, dass das Herkömmliche und Schulmässige bei ihm rein technischen Bildungswert haben, die grossen Erlebnisse auf einer anderen Ebene zu suchen sind. Als sich Giger 1988 und 1990 als Plakatgestalter an den beiden „St. Galler Symposien für Alchemie“ engagierte, erinnerte er sich daran, dass sein Vater Apotheker gewesen war. In St. Gallen erfolgte 1531 auch der Durchbruch des Paracelsus zum Alchemisten, keine Kleinigkeit, ein Zusammenhang, auf den Giger möglicherweise durch Golowin aufmerksam gemacht worden war. Das 1990er-Symposium, bei dem ich Giger leider nicht persönlich getroffen habe, war für mich ein Weg zu einem besseren Verständnis von Alchemie aus St. Galler Quellen. Diese wurden jedoch von den Veranstaltern praktisch nicht genutzt.
Geld und Alchemie
Mehr als Sergius Golowin, Timothy Leary und Albert Hoffmann bedeutete mir damals Prof. Hans Christoph Binswanger mit seinem Buch über Geld und Alchemie (1985), einer historischen Gesellschaftskritik des Kapitalismus über das Verständnis der Alchemie. Giger ging es in dieser Sache indes nie um historische oder gar politische Kritik, vielmehr um ein freies Spiel seiner Phantasie. In einer Geisterbahn, seit der Churer Kindheit eines seiner liebsten Motive, muss nicht philosophiert werden. Lieber blieb er bei der Gestaltung. Darüber zu philosophieren, überliess er anderen.
Trotzdem war Gigers von zahlreichen schön gestalteten Büchern mitgeprägte Arbeit von einem nicht zu unterschätzenden Reflexionsgrad begleitet. Über alles gesehen hätte der Status des Philosophen das, was er tat, eher beschränkt als zur Vollendung seiner Ausschweifungen geführt. Glücklicherweise hat er nie durch das Unterschreiben von Manifesten oder Protesten zur Verbilligung seines Schaffens beigetragen. Gemäss seiner langjährigen Freundin Barbara Gawrysiak hat er sich auch kaum je politisch geäussert. Glaubensbekenntnisse scheint er partout nicht abgelegt zu haben. Mit seiner ihn seit Jugendtagen begleitenden Freude am Schiessen, unterbrochen durch den Selbstmord seiner Freundin, hat er die Damenwelt selten behelligt. Für den Feminismus hatte er schlechthin nichts übrig, vermied jedoch in dieser Sache geschäftsschädigende verbale Provokationen. Das Werk blieb diesbezüglich Zumutung genug.
Seinem Schaffen wird oft eine gesellschaftsanalytische Aussage unterstellt. Da er jedoch mit dem Allerweltsdenken nicht übereinstimmen mochte, äusserte er sich nie so, dass man es gegen ihn hätte verwenden können.
Einige Wegmarken
Seinem schwarzen, geschliffen surrealen, den Surrealismus bis zum Manierismus übersteigernden „plastifizierenden“ Stil ist Giger treu geblieben. Das kam abermals zum Vorschein, als 2010 auf dem Landenberg in Sarnen eine seiner letzten Schweizer Ausstellungen ausserhalb von Greyerz eröffnet wurde. Zu sehen waren Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Schmuck.
Wegmarken gesetzt hat der Künstler auch im Festival des Fantastischen Films Neuenburg, das im internationalen Wettbewerb den H. R.-Giger-Preis „Narcisse“ vergibt. Vor 7Jahren erhielt Giger den ersten mit 30 000 Franken dotierten Willy-Reber-Kunstpreis. Verliehen wurde er in seiner Geburtsstadt Chur im Rahmen der Jahresausstellung im Bündner Kunstmuseum.
Giger durfte in Amerika, nicht zuletzt in Hollywood, von der Hochprominenz, auch von der Presse, ein zum Teil gigantisches Lob einheimsen, oft gar als Ersatz für den finanziellen Erfolg. Nach Roger Federer dürfte sein Name der in Amerika heute bekannteste aus der Schweiz sein. Für das ganz grosse Geld, nach Günter Anders das einzige objektive Kriterium für den Wert von Kunst, hat es trotz allem nie gereicht. Gegenüber Schweizer Kulturschaffenden hat er sich nicht nur nie überheblich, sondern meistenteils sogar überaus kollegial verhalten.
Um das Potential eines Filmemachers wie Fredi M. Murer wusste er sehr wohl. Als 1969 der Jahrhundertstreifen „Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick in die Kinos kam, hatte er für Murers Science-Fiction-Film „Swiss Made 2069“ das Kostüm des Ausserirdischen entworfen. Meine Tochter, die vor rund 20 Jahren als Maturandin einen Rat von ihm wollte, rief er über meine Privatnummer persönlich an. Ich hielt ihn, was nicht zutraf, für einen ihrer Verehrer.
Hansruedi, wie er von seinen Freunden genannt wurde, H.R. Giger, war über sein frühes Interesse am anderen Geschlecht hinaus zweimal verheiratet, einmal unglücklich für weniger als 2 Jahre, das andere Mal, alt und weise genug, so lange, bis der Tod durch Treppensturz dem späten Glück ein Ende machte. Carmen Scheifele Giger, der Witwe, kommt als Direktorin des H. R.-Giger Museums in Greyerz wie um ihre Verdienste für den späten, leider aus gesundheitlichen Gründen von der Resignation bedrohten Künstler ein auch von der Öffentlichkeit höchst schätzenswertes Verdienst zu. Bedeutend bleibt das Engagement von Verleger und Autor Patrick Frey. In der „Weltwoche“ schrieb er im Herbst 2013:
„Giger ist ein grosser, von der Kunstwelt viel zu gering geachteter Künstler, vor allem aber ist er seit 40 Jahren der künstlerische Hohepriester eines Kults. Und beides hängt zusammen. Vieles nennt sich ,Kult’ in der Kultur der Gegenwart. Aber nur bei Giger ist das Wort ganz ohne Anführungszeichen zu gebrauchen. So richtig klar geworden ist mir das wieder bei der Buchvorstellung im Giger-Museum in Greyerz, als sich blutjunge Gothic Girls aus New York Gigers Unterschrift nicht nur ins Buch, sondern auch auf den Unterarm schreiben und anschliessend tätowieren liessen.
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