BLOG vom: 19.05.2014
Das Nein zum Gripen – ein Akt der politischen Hygiene?
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Rickenbach/Beromünster LU, zu den demokratiepolitischen Hintergründen der eidgenössischen Volksabstimmungen vom 18.05.2014
Zu denjenigen, welche die Volksabstimmungsresultate jenes Mai-Sonntags durchwegs richtig voraussagten, zähle ich den fast unschlagbaren Instinkt-Politiker Thomas Minder eher als den demoskopischen Polit-Analytiker Claude Longchamp. Für Longchamp ging es nämlich an diesem Tag, wohl noch ausgeprägter als für die Schweizer Armee, um Sein oder Nichtsein. Wären die Gripen-Kampfflugzeuge angenommen worden, hätte die Polit-Demoskopie, wie sie seit der Minarett-Initiative zu beobachten war, wohl endgültig begraben werden müssen. Die bezahlten Kaffee-Satzleser können endlich wieder aufatmen.
Meinungsmacher neben den Schuhen
Beeindruckend ist die Bilanz: In 4 fundamental wichtigen Abstimmungen der letzten 14 Monate standen die grosse Mehrheit von Bundesrat und Parlament sowie auch eine erdrückende Mehrheit der Parteien und öffentlichen Meinungsmacher einschliesslich der grossen Zeitungen kolossal einflusslos neben den Schuhen:
-- Abzockerinitiative von Thomas Minder
-- Masseneinwanderungsinitiative
-- Pädophileninitiative
-- Gripen-Referendum (unterstützt von Tages-Anzeiger und Nordwestschweiz).
In diesem Ausmass und in so kurzer Zeit war in früheren Epochen eine Serie solcher Abstimmungsresultate gegen den Mainstream undenkbar. Ich vermute, dass die Meinungsmacher, wegen den freieren, wenngleich „weniger qualifizierten“ Diskussionen im Internet, aber wohl auch noch aus anderen Gründen, die vertiefte Analyse verdienen, sich heute mit der Erosion ihrer Macht und ihres Einflusses abfinden. Es gibt keine glaubwürdigen oder wenigstens über Autorität verfügenden Meinungsleader mehr.
Persönlich habe ich eine knappe Annahme des Gripen-Kredits als wahrscheinlich eingeschätzt. Im Staatskunde-Unterricht, wenn man denselben an einer Polizeischule erteilen darf, gilt die Sicherheit als primäre und insofern selbstverständliche Staatsaufgabe. Kein Vergleich etwa zur Subventionierung des Musik-Unterrichts oder der Förderung der Wanderwege als Bundesaufgabe, zu schweigen von den jetzt angenommenen möglichen Zuschüssen für Hausärzte, die im Gegensatz zu Kleinverdienern jetzt mit einem „Mindestlohn“ rechnen dürfen. 200 000 Franken jährlich sind da schon was anderes als 4000 Franken für Leute am unteren Rand der sozialen Hierarchie.
Gemäss dem sozial engagierten Priester Al Imfeld gibt es, sogar in der Schweiz, neben echten Sozialproblemen ein sich allmählich einschleichendes Faulheitsproblem. Drittweltkenner Imfeld hat sich mit dieser unpopulären Aussage, bei welcher er aus Erfahrung sprach, etwas gar verwegen aus dem Fenster gelehnt. Imfeld erhält übrigens, als einziger mir bekannter Weltpriester in der Schweiz, nach eigenen Aussagen keine kirchliche Pension.
Von allen Vorlagen, die dieses Jahr 2014 zur Abstimmung gelangten, hätte ich diejenige zur Luft-Sicherung aus staatspolitischen Gründen und als Verteidiger der bewaffneten Neutralität am wenigsten ablehnen wollen. Ich vermutete sogar, die Lage rund um die Ukraine vermöchte die Vorlage trotz Ueli Maurer, der meistens nur Gleichgesinnte überzeugt, noch zu retten. Es hat nicht sollen sein.
Wichtiger als Landesverteidigung ist die direkte Demokratie, die sich abermals bestätigt hat.
Ich erlebte bis jetzt noch nie eine Abstimmung, für die ich mich geschämt und die im Vergleich zu meiner Meinung anderslautende Mehrheit für dumm eingeschätzt hätte. Der Entscheidung gegen den Gripen kommt derzeit eine fundamentale Bedeutung zu für die in der Schweiz flächendeckende Zufriedenheit mit dem Prinzip des Volksentscheids. Es dürfen nämlich nicht immer nur dieselben gewinnen!
Doppelt und dreifach wertvoll sind Entscheide, da die Sieger, wie bei der Abzocker-Initiative und jetzt beim Gripen, über krass weniger Geldmittel verfügen als die Gegenseite. Das Schweizer Volk ist und bleibt nämlich nicht käuflich.
Nach der an eine Ohrfeige grenzenden Kolossal-Ablehnung der Mindestlohn-Initiative, ein Indiz auch für den total unschweizerischen Charakter eines bedingungslosen Grundeinkommens ...
... nach der Durchsetzung der Pädophileninitiative als Fusstritt in den Hintern des schweizerischen Justizstaates und aller vermeintlichen Besserwisser ...
... nach der persönlichen Beleidigung und Radikalzumutung, welche die Zuwanderungsinitiative für massgebliche kulturelle, intellektuelle, politische und wirtschaftliche Eliten in der Schweiz bedeutete,
... war ein substanzieller Sieg für den sich traditionell moralisch etwas „besser“ fühlenden Teil des Schweizer Stimmvolks überfällig. Nicht zu unterschätzen ist, dass das Nein zum Gripen tatsächlich die Nichtanschaffung dieser Flugzeuge bedeutet, während beispielsweise die Ausschaffungsinitiative und, wie es sich herausstellen könnte, die Zuwanderungsinitiative wegen juristischen und politischen Komplikationen und mangels Willen zur Durchsetzung praktisch ohne die von der Stimmbürgerschaft entweder erhofften oder befürchteten Konsequenzen bleiben wird.
Der Glaube ans Gute
Mit dem Gripen-Nein gab es endlich wieder eine Abstimmung, wo nicht die „niederen Instinkte“ (EU-Spitzenkandidat Martin Schulz) den Ausschlag gaben, sondern der Glaube an das Gute, die Ablehnung des Prinzips Gewalt samt der Geldverschwendung, welche eine Institution, deren Notwendigkeit man nicht mehr einsieht, zu bedeuten scheint. Auch bedeutet die Nichtanschaffung von Kampfflugzeugen nach der Meinung des deutschen Militärexperten Manfred von Opel automatisch mehr Druck in Richtung sicherheitspolitischer Zusammenarbeit bzw. Abhängigkeit von den Nachbarn, was wenigstens in dieser Hinsicht die „Öffnung“ der Schweiz zu EU und NATO begünstigen könnte. Unter den Nein-Stimmern dürften diejenigen, welche eine technisch bessere und erst noch billigere Lösung erhofften, zu vernachlässigen sein.
Die entsprechende Analyse wird zeigen, dass eine Frauenmehrheit und die Westschweiz den linken Parolen zum Erfolg verholfen haben. Wobei freilich die Damen, sofern sie nicht bei den Grünen aktiv sind, in Sachen Pädosexualität noch weniger Spass verstehen als die Herren der Schöpfung, so wie die Frauen seinerzeit wohl auch der Minarettinitiative nicht unmassgeblich zum Erfolg verholfen haben. Mit all diesen Resultaten kann man leben, dieselben bei wohlwollender Deutung sogar als Sieg der praktischen Vernunft einschätzen.
Mit zur Analyse gehört , dass bei der gut ausgebildeten jüngeren Generation die Zeit längst vorbei ist, da ein wesentlicher Anteil der Lehrer und Lehrmeister Offiziere waren; gar dass etwa in den meistfrequentierten Bildungsinstitutionen von „geistiger Landesverteidigung“ gesprochen werden könnte.
Als Gymnasiallehrer habe ich die Erfahrung gemacht, dass in einer Maturaklasse, mehrheitlich Mädchen, das Wort „Major“ als militärische Funktion gänzlich unbekannt war! Man vermutete, vom Englischen her, es könnte Bürgermeister bedeuten. Vor 50 oder gar 70 Jahren wussten in der Schweiz bereits mit Zinnsoldaten spielende Kindergartenschüler, dass ein Major ein hoher Militär ist usw. Wir leben neuerdings in einer Bildungs- und Kulturwelt, in der das Militär nicht mehr wichtig ist; so wie andererseits in Sachen religiöser Allgemeinbildung weder das Vaterunser noch die Zehn Gebote vorausgesetzt werden können. Hier machen sich SVP-Leute, welche in der Schweiz noch wie ich einst in meiner Jugend das Abendland verteidigen wollen, nicht kleine Illusionen.
Mit jedem Resultat zu leben verstehen
Diese Feststellungen sind nicht im herkömmlichen Sinn als kulturpessimistische und patriotische Unzufriedenheit mit einem Abstimmungsresultat zu werten, am allerwenigsten als Unzufriedenheit mit der direkten Demokratie. Dass es im Jura ein anderes Staatsverständnis gibt als im Appenzell oder im Entlebuch, ist offensichtlich. Das muss nicht im Blocherschen Sinn als Westschweiz-Schelte artikuliert werden. Wer die direkte Demokratie akzeptiert, und zwar nicht bloss zähneknirschend, sondern als Ausdruck konkreter Freiheit, muss mit jedem Resultat leben können. Und zwar nicht, weil das Volk angeblich immer recht hat. Aber das Volk weiss klar anzugeben, welche Probleme dringend sind, welche weniger dringend.
Zum Beispiel wissen wir, dass die Problematik einer jährlichen Einwanderung in der Grössenordnung von eher 100 000 als 80 000 Personen, dem Doppelten der gesamten Alemanneneinwanderung in der Spätantike, grösseres Unbehagen bereitet als die Frage, wie wir uns am besten gegen einen terroristischen Angriff in der Luft wehren könnten.
Signal Pädophileninitiative
Der Justizstaat wiederum hat mit Maximalkosten von Fr. 53 000 monatlich für den teuersten Häftling (es war nicht „Carlos“) sowie unglaublichen sonstigen Unbegreiflichkeiten der letzten Jahre in den Augen des Normalbürgers und der Normalbürgerin seinen Grenznutzen zugunsten der Täter erreicht. Jetzt wären eigentlich einmal die Opfer dran, finden viele. Dieses Signal der Ja-Stimmer der Pädophileninitiative ist verständlich. Ohnehin haben die Gegner meistenteils geschwindelt, als sie ihre Sorge um die sexuelle Selbstentfaltung der 15- bis 18-Jährigen, um die sogenannte Jugendliebe, ausdrückten. Genau so wenig ging es bei der Masseneinwanderungsinitiative darum, allfällige nicht eingebürgerte Secondos bei der Stellensuche zu benachteiligen.
Kritik am Parlamentsbetrieb
Die wirklich zu lösenden Probleme sind bekannt, mit Ausreden kann man dem Souverän nicht mehr kommen. Er ist in der Regel weniger manipulierbar als Parlamentsfraktionen. Dass Christoph Blocher, auch für mich nicht immer ein angenehmer Politiker, bei seinem Rücktritt am Schweizer Parlamentsbetrieb Kritik geübt hat, war eher in der Form als in der Sache unangemessen. Im Prinzip kann man in einem 600-seitigen Standardwerk, „Parlament – Ort der politischen Entscheidung?“ (2012) von Prof. Dr. Quirin Weber das Grundlegende von Blochers Aussagen in etwas differenzierterer Form nachlesen. Auch Blocher-Kritiker Franz Steinegger gab im „Blick“ zu, dass man Blocher bei seiner Parlamentskritik nicht einfach nur unrecht geben könne.
Die Zürcher Kircheninitiative
Der genannte brillante juristische Autor Quirin Weber, auch Spezialist für Religionsverfassungsrecht, äusserte sich mir gegenüber zufrieden über den extrem eindeutigen Ausgang der Mai-Abstimmung über die Zürcher Kircheninitiative. Der feudale Zwang zur Kirchensteuer für Unternehmen bleibt, der Sozialindustrie zuliebe, erhalten. Bei einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat würde man sodann an den Universitäten keine Religionsverfassungsrechtler mehr gebrauchen. Über das Jahrhundert-Traktandum der Beseitigung der Kirchensteuer kann jedoch nicht progressiv abgestimmt werden, solange darüber nicht endlich mal grundlegend und grundsätzlich diskutiert wird. Dazu sind, dank einem von Quirin Weber und Adrian Loretan verantworteten Gutachten der Universität Luzern, in Richtung öffentlichrechtlicher Anerkennung des Islam als Landeskirche, samt der Hindernisse dieser Anerkennung, jetzt verdienstlicherweise die theoretischen Grundlagen geschaffen worden.
Kulturkampf im Kindergarten
Nach der Meinung des besten Spezialisten und Spitzen-Kriminologen für Pädosexualität, Dr. Frank Urbaniok (Zürich), kann man mit der Pädophileninitiative leben. Sollte dies zutreffen, kann sich eine solche Einschätzung vielleicht bei der Ablehnung des Gripen, worüber ich auf Anhieb nicht glücklich war, ebenfalls bewahrheiten. Die Annahme der Initiative „Mundart im Kindergarten“ im Kanton Aargau schliesslich ist ein weiterer Hinweis darauf, dass in der Schweiz nicht nur mehr oder weniger unterdrückte politische Auseinandersetzungen stattfinden, sondern nach wie vor auch Kulturkämpfe. Ich bin froh, musste ich dank meinem ausserkantonalen Wohnsitz über diese Vorlage nicht abstimmen.
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