BLOG vom: 24.05.2014
Elisabeth Frenzel: Germanistin mit „deutschen“ Qualitäten
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Rickenbach/Beromünster LU
Mit der hier veröffentlichten Studie möchte Autor Pirmin Meier nichts schönreden, sondern eine Lebensleistung würdigen. Nach seiner Überzeugung stand und steht der Mensch jederzeit vor dem Gericht der Geschichte. Dies bedeutet aber auch Bemühen um historische Gerechtigkeit und Anerkennung jeder echten Leistung, zumal diese im Vergleich zur heutigen Zeit unter oft weit ungünstigeren Bedingungen erbracht werden musste. Dass die Versuchung des Opportunismus immer nahe liegt und nahe lag, gilt für jeden Tag, den wir zu bestehen haben. Allerdings gibt es auch in der Schweizer Wissenschaftsgeschichte Forscher, denen man aufgrund von politischen Irrtümern und auf gemeine Weise, nämlich total nachträglich und ohne Risiko, Unrecht tat, etwa dem hervorragenden ehemaligen aargauischen Staatsarchivar Hektor Ammann (1894–1967), der als in Schimpf und Schande entlassener angeblicher Landesverräter quasi mit Sippenhaft bestraft wurde. Dabei erreichte bis anhin kein gegenwärtig in der Schweiz aktiver Geschichtsprofessor die Lebensleistung von Hektor Ammann als profunder Wirtschaftshistoriker. Die Würdigung dieser Aargauer Persönlichkeit bleibt einer späteren Studie vorenthalten. Die kürzlich verstorbene Pionierin der deutschen Erzählforschung, Elisabeth Frenzel, ist aber ein interessantes Beispiel. Das „Urteil“ des Verfassers, nicht zu verwechseln mit einem Weltgericht, kann sich noch in diese oder jene Richtung weiterentwickeln.
T.A.
Elisabeth Frenzel, geborene Lüttig-Niese, in Naumburg an der Saale zur Welt gekommen am 28. Januar des Kriegsjahrs 1915, in Berlin verstorben am 10. Mai 2014 nach einem langen Verdämmern, verfasste für sich allein und zusammen mit ihrem Mann Herbert Frenzel (1908–1994) einige für Generationen von Germanisten und Literaturfreunden zum grossen Teil höchst zuverlässige und geschätzte Nachschlagewerke zu Daten deutscher Dichtung und der Motivgeschichte der Weltliteratur. Ohne das Studium dieser lexikalischen, sorgfältig formulierten Werke war auch in der einstigen Exilstadt Zürich (1933–1945), und zwar noch im Jahre 1968, das Akzessexamen für die Zulassung zu den höheren Semestern des Studiums kaum zu bestehen.
Dass man beispielsweise Hintergründe erfuhr über Hans Kohlhase (1500–1540), das Vorbild der weltbekannten Novelle „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist, war bei „Frenzel“ nachzuschlagen. Auch für den gymnasialen Unterricht brachte die Grundlagenarbeit des Ehepaars Frenzel während Generationen eine solide Basis. Dass Autoren, über die man nichtsdestotrotz damals schon sehr gut informiert war, etwa Kurt Tucholsky (1890–1935), zumal einige Vertreter der literarischen Emigration, lange bei Frenzel nicht vorkamen, fiel nicht sofort auf, wurde aber im 21. Jahrhundert, als Adolf Hitler von bedingungslos widerstandsbereiten Nachgeborenen mit dem Risiko von Leib, Leben und Anstellung endgültig besiegt werden musste, heftig kritisiert. Frenzel steht meines Erachtens für die im Faktenbereich nicht selten solide Arbeit, die einerseits im Deutschland des Dritten Reiches, andererseits in der germanistischen Forschung innerhalb der DDR betrieben wurde. Bei Einbezug der ideologischen Hintergründe, die kritisch zu reflektieren waren und sind (war nicht immer der Fall), erwiesen sich die Werke bei richtigem Gebrauch als nützlich.
Der Nutzen war, bezogen etwa auf den Humanismus, die Aufklärung, das 19. Jahrhundert und das erste Jahrhundertdrittel des Weltkriegsjahrhunderts, grösser als etwa für die damalige Gegenwartsliteratur. Wie Germanisten sich damals und heute über das gegenwärtige Schaffen ausliessen und auslassen, war und bleibt jeweils eine höchst zeitgeistige Angelegenheit. Von Kurt Tucholsky las ich in den 1960er-Jahren bei Rowohlt erschienene Gesammelte Werke, in welchen etwa, analog zu Franz Werfel, auch die für mich wertvolle kritische Behandlung des französischen Wallfahrtsortes Lourdes zu konsultieren war. Dazu brauchte ich keinen „Frenzel“. Deren Literaturaufbereitung findet heute, im Hinblick auf vielfach wieder vergessene Werke und Motive, für ideologisch Unbefangene wieder wachsenden Wert, weil deutsche Literatur vor der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht auf „Exilliteratur“ reduziert werden kann. Es gibt jenseits dessen, was der Germanist und Rechtschreibereformkritiker Friedrich Denk „Die Zensur der Nachgeborenen“ nannte, für literarisch Neugierige immer wieder mal was zu entdecken.
Als solide Faktenhuber scheinen sich die Frenzels im akademischen Leben der dreissiger Jahre und später durch zumeist seriös belegte Arbeit bewährt zu haben, mit Verdiensten gegenüber heute vergessenen Autoren wie den für die Paracelsus-Forschung wichtigen und für die Gattung des historischen Romans unzweifelhaft literaturgeschichtlich bedeutenden Erwin Guido Kolbenheyer (1878–1962), über den DIE ZEIT noch 1954 schrieb: „Es fehlt seinen Romanen nicht an Lesern, sein Name wird überall mit dem Respekt genannt, der einem so stattlichen und von solch brennendem Ernst durchdrungenen epischen Werk gebührt, die Literaturgeschichten führen ihn als Repräsentanten der konservativen Revolution rühmend und ausführlich vor.“ Für das Motiv „Paracelsus“ als eines deutschen Revolutionärs der Lutherzeit, u. a. mit Einfluss auf den deutschen Film, etwa Franz Pabst (1943), und die sogenannte Paracelsus-Renaissance des 20. Jahrhunderts, wurde der heute unterschätzte und aus ideologischen Gründen abgewertete Kolbenheyer einflussreich. Der damals gefeierte Erwin Guido Kolbenheyer wurde vor bald 80 Jahren, als Preisvorgänger von Peter von Matt (2014), mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt a. M. ausgezeichnet.
Zu der entsprechenden literaturgeschichtlichen Einordnung wurde die Arbeit von Elisabeth und Herbert Frenzel von gewissem Nutzen, um hier nur einmal ein Beispiel zu nennen. Das „Googeln“ war damals noch nicht möglich.
Der Befund jedoch, dass Elisabeth Frenzel als methodische Basis für ihre Motivgeschichte ausgerechnet den Juden und das Judentum, als 23-Jährige Neudoktorin, gemäss der damaligen akademischen Mode – dem Gender des Jahres 1939 ‒ zu ihrem Leitbeispiel erwählt hatte, wie auch die Redaktionstätigkeit von Herbert Frenzel bei „Der Angriff“, sollte das Ehepaar Jahrzehnte später noch einholen. Das war dann ähnlich peinlich wie etwa die bekannt gewordene Begeisterung von DDR-Star-Autorin Christa Wolf gleich für 2 Diktaturen. Die Frenzels galten auch offensichtlich als belasteter als Bertolt Brecht mit der fast nirgends kritisierten Gutheissung von stalinistischen Massenerschiessungen im Moskauer Exil.
In den 50er- und 60er-Jahren gab es indes noch Unzählige, die in den Zusammenhängen des Dritten Reiches gelebt hatten und sich deshalb kaum geneigt zeigten, hier Urteile oder gar Verurteilungen auszusprechen.
Als Student der Jahre um 1968, mit gelegentlichem Ärger über Mao- und Ho-Fanatiker, welche mich in einem Fall am Besuch einer Vorlesung des vorzüglichen und redlich demokratischen Anglisten, meines militärischen Vorgesetzten Ernst Leisi (1918–2001), hinderten, blieb ich ohne das oben geschilderte Hintergrundwissen für das Schaffen der Frenzels dankbar. Auch heute urteile ich über ihre Forschungen, das Judentum als Motiv der deutschen Literatur betreffend, erst, wenn ich diese Bücher endlich mal gelesen haben werde, was ich im Anfechtungsfall nicht ausschliesse. Es ist anzunehmen, dass diese Studien trotz wahrscheinlich tendenziöser antisemitischer Aufbereitung zum Thema tatsächlich etwas beitragen, dass sie zum Teil immer noch – ich sage nicht unentbehrlich, aber von wissenschaftlichem Interesse ‒ sein könnten, soweit bei jener Arbeit wahre Sätze produziert wurden.
Vielleicht muss ich mein Urteil negativ verändern. Bis auf weiteres bedeuten mir die Nachschlagewerke der Frenzel ähnlich viel wie diejenigen von Gero von Wilpert (1930–2009), einem grundsoliden Literaturhistoriker, dem das Glück zukam, im australischen Sidney als führender Germanist seines Kontinents zu wirken. Wilpert hat das Schaffen von Herbert und Elisabeth Frenzel angemessen und mit Schwerpunkt auf die tatsächlich erbrachten, nicht wegzudiskutierenden Leistungen gewürdigt.
Im Grossen und Ganzen war aber das Germanistikstudium sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR nicht so, dass es zumal im Bereich der Forschung, die schriftlich belegbaren Fakten betreffend, wenn diese nicht auf hinderliche Weise ideologisch besetzt waren, im Vergleich zu heute nicht seine seriösen und ergebnisorientierten Seiten gehabt hätte. Prof. Kurt Goldammer (Marburg D), bestätigte mir, dass bei geschicktem Arbeiten es sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR vorzügliche Nischen für zweifelsfrei wissenschaftliches Arbeiten gegeben habe. Der durchschnittliche Standard war hoch. Für die DDR-Germanistik kann man dies mindestens so gut bestätigen wie für diejenige im Dritten Reich. Beide „Germanistiken“, oft gar von denselben betrieben, mussten jedoch fatale Konzessionen machen, und dabei waren Überzeugungstäter mindestens so häufig wie stille Schaffer und Nischenbewirtschafter.
Was bei Elisabeth Frenzel zur Hauptsache zutreffen mochte, vielleicht von allem etwas, wage ich im Moment nicht in gerechten Proportionen zu beurteilen. Der ideologisch stärker engagierte Herbert Frenzel soll u. a. für den „Angriff“, eine für Goebbels wichtige Zeitschrift, in der auch Ernst Jünger und Reinhold Schneider polemisch kritisiert wurden, gearbeitet haben.
So wie man beim europäischen Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit eines Tages vielleicht nicht ausschliesslich einen Anwalt des gegenüber Kindern offenen Hosenladens sehen wird, bei Walter Jens nicht nur die Kritik an Thomas Mann als „Asphaltliterat“ (da war er etwa im Alter von Elisabeth Frenzel zur Zeit ihrer Dissertation), in Günter Grass nicht nur den SS-Freiwilligen, in Luise Rinser nicht nur die Verfasserin von Hitler-Hymnen, in Joschka Fischer nicht nur den nachtretenden Brutalo-Schläger, so wird auch Elisabeth Frenzel die ausgleichende historische Gerechtigkeit der Geistesgeschichte auf Dauer nicht vorenthalten bleiben.
Ich halte sie, wie eine fleissige wasserschöpfende Magd, was es zu voremanzipatorischen Zeiten noch gab, wie ebenfalls ihren fast 2 Jahrzehnte früher verstorbenen Mann Herbert für Menschen, die sich über alles gesehen für ihre Zeitgenossen zu unterschiedlichen Epochen bei unterschiedlichen Anforderungen nützlich gemacht haben. Dies betrifft vorzüglich den Bereich der Erzählforschung. Vielfach sogar „brauchbarer“ als diejenigen, die sie hinterher mit der Moralkeule zu erschlagen versuchten.
Analog zu einem solchen Urteil erlaube ich mir, etwa im chinesischen Nobelpreisträger Mo Yan einen vorzüglichen Autor zu sehen, bei dem ich zu meiner Sicht Chinas sogar klar mehr, Anderes, oftmals sogar Genaueres erfahre, auch Kritisches, als bei vielen Oppositionellen und Dissidenten. Ehrlich gesagt waren damals und heute aber die wenigsten so mutig wie Solschenizyn in der Sowjetunion oder Hans Grimm im Dritten Reich, der bei einer „Volksbefragung“, die in seiner Stadt nach späterem nordkoreanischem Brauch einstimmig erfolgte, Einspruch erhob, weil doch er und seine Frau nicht zugestimmt hätten. Diesen Mut brachte er auf, unbeschadet davon, dass er weit rechts stand, heute mit seinem Wälzer „Volk ohne Raum“ gewiss nicht mehr als geniessbarer Autor gelten kann. Aber Mut bleibt Mut, und den hat nicht jeder.
Die politischen Irrtümer, die dem Ehepaar Frenzel wohl vorsätzlich unterliefen, würde ich hier nicht verniedlichen. Sie standen zur falschen Zeit auf der richtigen Seite und zur richtigen Zeit vielleicht auf der falschen Seite. Ausserdem bezeugten sie eine verlangte bussfertige Zerknirschung nicht so, wie eine solche zum Beispiel nach dem Vorbild der chinesischen Kulturrevolution in einem sich als „antifaschistisch“ gebenden deutschen Geistesleben als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Ich gehe aber davon aus, dass dem Ehepaar Frenzel in den letzten Jahren und Jahrzehnten von Leuten, die nie mutig sein mussten, gleichsam zur Strafe so viel brauner Dreck nachgeworfen wurde, dass nunmehr und bis auf weiteres endlich wieder mal die Verdienste hervorgehoben werden dürfen. Elisabeth Frenzel muss nicht über ihren Tod hinaus als „Nazisse“ beschimpft werden.
Ich hoffe gern, mit dieser Auffassung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, zumal bei Germanisten meiner Generation, nicht völlig allein zu stehen. Falls Elisabeth Frenzel im hohen Alter den pseudoantifaschistischen Tugendterror nicht mehr mitgekriegt hat, war dies wohl eine Gnade der späten Jahre, in gewissem analogem Gegensatz zu der von Helmut Kohl beschworenen Gnade der späten Geburt.
In der Todesanzeige für Elisabeth Frenzel, Dr. phil., steht zu lesen: „Die Trauerfeier findet am Freitag, 23. Mai, um 11 Uhr in der Dorfkirche Lichterfelde (Mittelinsel), Hindenburgdamm (sic) 101A, 12 203 Berlin, statt. Die Beisetzung erfolgt in aller Stille in ihrem geliebten Castell in Franken.“
Elisabeth und ihr Mann Herbert A. Frenzel mussten für ihre durchwegs schon im Dritten Reich durch Fleissleistungen fundierte Karriere später einen hohen Preis als weithin isolierte Akademiker bezahlen. Zu ihrer Genugtuung vermochte wohl beizutragen, dass sie ausschliesslich wegen sogenannten Gesinnungsdelikten, so gut wie nie wegen faktischen Fehlern verurteilt wurden. Interessant ist, dass Elisabeth Frenzels heute massiv verurteilte Dissertation 1938 nur mit der drittbesten Qualifikation „gut“ beurteilt wurde, während etwa der Schrott (auch ohne Berücksichtigung des Plagiates) von Herrn Karl-Theodor zu Guttenberg (miserabel, habe die Arbeit gelesen) an einer „bayrisch-demokratischen“ Universität zur nicht kleinen Schande, auch des heutigen akademischen Betriebs, mit der absolut bestmöglichen Beurteilung bedacht wurde.
Diejenigen, die über die Frenzels richteten, waren durchwegs im Sinn von heute für die Fortsetzung der akademischen Karriere verlangten politischen Feindbildern „bessere Menschen“ als sie, aber in keinem einzigen Fall bessere Germanisten. Dazu schrieb Herbert A. Frenkel an den Verleger Caspar Witsch aus dem Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch schon am 5. Februar 1951:
„Wir stehen literarisch und menschlich völlig isoliert da, und der Weg, den wir suchen, wird allein durch unsere Arbeit dokumentiert. (…) Die sachliche Beurteilung glauben wir Ihnen am besten mit unserem Manuskript selber ermöglicht zu haben. Nicht umsonst haben wir nach der Erfahrung, dass die geistigen Güter ins Schwanken geraten waren, Wert darauf gelegt, in zäher Suche das Objektive wieder zu gewinnen und durch Basenbeschaffung abzutragen, was an Schiefem aufgebaut worden war. Keine der bisher 400 abgelieferten Seiten ist ohne strengste Prüfung des tatsächlichen Materials zustande gekommen.“
„Abzutragen, was an Schiefem aufgebaut worden war“ ... Das galt möglicherweise sowohl für fremde wie eigene Arbeit. Für Applaus oder wenigstens Entlastung bei der Gesinnungsgermanistik war und blieb es eine Sisyphusarbeit. Das Urteil aber vor dem Gericht der Geschichte bleibt damals wie heute vorbehalten. Blosse Verurteilungen haben wenig mit literarischem und historischem Verständnis zu tun.
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