Textatelier
BLOG vom: 13.07.2014

Fussball-WM 14 (1): Zwangsumsiedlungen, teure Stadien

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Bevor ich über Kuriositäten, euphorische Ergüsse von Journalisten und meine Aktivitäten in einem 2. Teil berichte, möchte ich in diesem 1. Teil die allgemein und auch medial verbreitete Kritik an der Fussball-Weltmeisterschaft 2014 in den Vordergrund stellen.
 
Als ich am Vortag des Endspiels Deutschland gegen Argentinien durch Schopfheim D lief, fielen mir einige Plakate auf, die einen kritischen Text präsentierten. Auf den beiden Schaufensterscheiben eines leer stehenden Gebäudes in der Scheffelstrasse war in schwarzer Schrift „Fifa tötet“ zu lesen. An einer Wand eines Hauses prangte das Plakat mit der Schlagzeile „250 000 Zwangsumsiedlungen in Brasilien“.
 
Ein grosses Transparent auf der Vorderseite des ehemaligen Juz-Gebäudes an der Bahnhofstrasse in Schopfheim hatte folgenden Inhalt: „11 Milliarden für Sicherheit, Stadien, Massenvertreibung, Umweltzerstörung statt für Bildung und Gesundheitswesen.“ Auf einem anderen Plakat war ein Foto eines Polizisten zu sehen, der einer Demonstrantin ins Gesicht sprüht. Text dazu: „Das ist Fifa 2014: 1 Milliarde Euro für Schutzmassnahmen.“ Dann noch ein Plakat: „Was haben Sie lieber? Stadien oder ein gutes Gesundheitssystem?“
 
Auf das Frontglas eines Schaukastens für Vereins- und Stadtnachrichten war ein Plakat geklebt. Im Text war zu lesen, dass auf Kosten von Millionen von Menschen und der Natur und Ablenkung von politischen Entscheidungen von Staaten eine solche Veranstaltung kein Geschenk und sicher nicht notwendig sei. Aber Bildung, sozialer Wohnungsbau und Gesundheitsvorsorge wären notwendig.
 
Schon im Vorfeld der WM war gehörig Kritik geäussert worden. So wurde der Fifa ganz gehörig der Kopf gewaschen. Es gab ja immer wieder Meldungen über Korruption, Geldgierigkeiten, Kungeleien und vieles mehr. Dann wurde die Umsiedlungspolitik der Ärmsten, besonders jene in Rio de Janeiro, angeprangert. Vor Beginn der Spiele wurde vollmundig versprochen, die WM komme auch den Strassenkindern und den Slumbewohnern zugute. Es sollten Schulen und Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich bin überzeugt, dass sich wenig zum Guten wenden wird.
 
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff machte ihrem Ärger über die horrenden Kosten der WM Luft. Sie dachte aber auch an die arroganten Funktionäre der Fifa. Sonst hielt sie sich zurück, da die Brasilianer seit je fussballverrückt sind. Ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva hatte ja die WM hocherfreut ins Land geholt.
 
Die Online-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ kritisierte die WM so: „Die Fifa-Normen passen schlecht zur reichhaltigen Kultur des Landes und seinen sozialen Ungleichheiten. Vielen Brasilianern kommt die Fifa wie eine Kolonialmacht vor.“
 
In einem Blog vom 24.06.2013 berichtete ich von Demonstrationen, die in 100 Städten Brasiliens für Aufruhr sorgten. Fussballfürst Joseph Blatter war schockiert!
 
Wer überreicht den Pokal?
Zunächst hiess es, das brasilianische „Top“-Model Gisele Bündchen und Spaniens Fussball-Idol Carles Puyol würden die Trophäe überreichen. Joseph Blatter befürchtete nämlich Buhrufe. Nun ist es wieder anders: Das Model und der Spanier bringen die Trophäe vor dem Anpfiff auf den Platz. Die brasilianische Präsidentin wird zusammen mit Blatter nun den WM-Pokal überreichen. So ein Wirrwarr!
 
Brasiliens weisse Elefanten
Man muss den Grössenwahn beim Stadionbau kritisieren. Die überdimensionierten Stadien werden nach den Spielen kaum genutzt werden. So wurde in Fortaleza ein Stadion mit 60 000 Plätzen geschaffen. Nach den Spielen werden vielleicht nur wenige Tausend Fans ins Stadion kommen, wenn ihre zweitklassige Mannschaft spielt. Das Weltklasse-Stadion in Natal wird nach der WM nur zu etwa einem Zehntel mit Fans „gefüllt“ sein. 6 der 12 WM-Stadien werden keinen Erstligisten beheimaten. Der Bau der Stadien verschlang insgesamt fast eine Milliarde Euro.
 
„Es ist klar, dass mindestens 4 der 12 Stadien zu weissen Elefanten werden“, sagte der ehemalige Torhüter und Fussball-Weltenbummler Lutz Pfannenstiel. Er besuchte nach der Vorrunde neue Stadien in seiner Funktion als ZDF-Experte.
 
Dass es so kommt, belegen auch die Zustände nach der WM 2010 in Südafrika. Dort sind die bombastischen Stadien nicht alltagstauglich. Das 94 000 Besucher fassende Soccer City Stadion in Johannesburg hat bei Heimspielen der Kaizer Chiefs nur 2000 Fans. Manche Stadien stehen sogar leer; doch Unterhaltskosten fallen gleichwohl an.
 
Die Fifa hat aus vergangenen Weltmeisterschaften wohl nichts gelernt. Geld und Sponsoren sind ja genügend vorhanden. Mein Vorschlag für zukünftige Veranstaltungen: Die WM nur vergeben an Länder, die schon taugliche Stadien haben. Man brauchte diese nur etwas zu modernisieren. Dann würde ich der Fifa und den Sponsoren ins Gewissen reden: Spendet den grössten Teil des Gewinns für den Bau von Schulen, für Bildung und andere soziale Aufgaben in dem Land, wo die Spiele stattfinden!
 
Der grösste Flop dürfte die Vergabe der WM 2022 an Katar sein. Nun wird schon gemunkelt, ob man die Vergabe rückgängig machen könnte. Sollte dies unmöglich sein, wird eine Verlegung vom Sommer in den Winter in Erwägung gezogen. Die WM könnte dann zwischen 15.11.2022 bis 15.01.2023 stattfinden. Dann bräuchte man die Stadien in den heissen Sommermonaten nicht zu kühlen!
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Was ein Blogger kommentierte
Gerd Richard Bernardy teilte mir seine Ansichten zur Fussball-WM in einer E-Mail mit:
 
„Wenn man es genau betrachtet, sind Fussballmeisterschaften (Europa- oder Welt-) Auseinandersetzungen zwischen Nationen. Es wird nicht von der ‚deutschen Mannschaft’ oder entsprechend der aus dem jeweiligen Land gesprochen, sondern von ‚Deutschland’ usw.
 
Also: die Nation wird mit der Mannschaft gleichgesetzt, identifiziert. Eine Auseinandersetzung kann ein Streit sein, wie jetzt der Streit um die Aktivitäten von Geheimdiensten in ,befreundeten’ Nationen, ein Grenzkonflikt, um nur 2 Beispiele zu nennen, aber auch ein Krieg.
 
Wenn ich als deutscher Staatsbürger mit der argentinischen Mannschaft sympathisiere und nicht mit der deutschen, werde ich von Mitbürgern als Verräter ‚an der deutschen Nation’ angesehen. Noch schlimmer ist es, wenn mich das ganze Geschehen überhaupt nicht interessiert, eine schöne Metapher ist ‚kalt lässt’. Dann bin ich in den Augen vieler Mitbürger ‚kein Deutscher’!
 
Denn: eine Auseinandersetzung mit einer anderen Nation, also über die eigenen Grenzen hinweg, muss ‚vaterländische Gefühle’, sprich: Patriotismus, aufkommen lassen!
 
Dass damit die Idee eines ‚vereinten Europas’ ad absurdum geführt wird, interessiert in diesen Zeiten niemand, zeigt aber auch, dass der Nationalismus nie aussterben wird. Die ‚Sippe’ verspricht eben ‚Sicherheit’, und die muss verteidigt werden, und sei es mit Fussballspielen!
 
Und das ‚Wir-Gefühl’ (‚Wir sind Papst’, ‚Wir sind Weltmeister’, usw.) lässt das Selbstbewusstsein nicht nur bei denjenigen wachsen, die wenig davon haben. ‚Mit geschwellter Brust’ daherzugehen, ist ein schönes Gefühl und macht stolz! Ach so, wie beginnt die ‚verbotene’ erste Strophe der deutschen Nationalhymne? ‚Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der (Fussball-) Welt!’“
 
Was GR Bernardy sagte, dem stimme ich, auch ein Deutscher, vollumfänglich zu.
 
Rolf P. Hess seinerseits schrieb mir von Cebu (Philippinen) die folgende E-Mail mit versöhnlichem Unterton:
 
„Solche Spiele haben faszinierende Auswirkungen!
 
 
Ich habe auch gelesen, wie schwierig es wäre, wenn die Brasilianische Präsidentin den Pokal an die Deutschen überreichen müsste. Wohl auch an Argentinien. Das Buhen ist vorprogrammiert. Das sind politische Herausforderungen!
 
Ist doch herrlich, dass wir das alles als Zuschauer geniessen dürfen.“
 
 
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