Textatelier
BLOG vom: 18.08.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (12)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
An den Anfang des folgenden Blatts der „Lebensbeichte“ mit der Zahl 15 hat der Verfasser folgendes Zitat geschrieben:
 
„Abram Maslow: ‚Der Tod und die Tatsache, dass er jederzeit kommen kann, machen Liebe, leidenschaftliche Liebe, vermutlich erst möglich. Ich frage mich, ob wir leidenschaftlich zu lieben vermöchten, ob wir überhaupt in Ekstase geraten könnten, wenn wir wüssten, dass wir niemals sterben werden.’“
 
Er nimmt einen weiteren Aspekt zum Thema Leben und Tod hinzu, die Liebe. Hier ist zweifellos die körperliche Liebe gemeint. Aber bringt er hier nicht etwas durcheinander? Beim Liebestod sterben die Liebenden den Freitod, und davon konnte bei den Geschehnissen hier keinesfalls die Rede sein. Nur die Attribute – falls man sie so nennen kann – sind vorhanden. Der Onkel verstiess mit seinem Tod gegen die christliche Lehre, für die der Tod eine Gnade ist, und Gnade könne man nur gewährt bekommen, nicht aber sich selbst geben. Der Freitod ist gewissermassen ein Tribut an die Vanitas, die Vergänglichkeit des Lebens. Nicht lange, und der Kopf des Onkels wird ein Totenschädel sein, und dieser weist darauf hin.
 
Ich war gespannt, ob der Verfasser in diesem Blatt einen Hinweis darauf geben wird, wie er das Zitat gemeint hat:
 
Mir fiel die Lebensweisheit ‚Essen hält Leib und Seele zusammen’ ein. Auf Platon geht die Vorstellung zurück, der Leib sei das Gefängnis der Seele. Ob der Mensch eine Seele hat oder ob sie eine reine Erfindung ist, darüber mag man streiten. Für mich besteht der Mensch aus Körper und Geist, und damit beides zusammen funktioniert, ist das Essen notwendig. So stimmte ich Elisabeth zu. Wir bestellten uns ein Fischgericht im ‚Fischrestaurant Off’ am Bodensee. Elisabeth wählte Bodenseefelchen und ich Schaumklösschen vom Bodenseehecht. Auf die Kosten müssten wir nicht achten, der Onkel habe ihr einen Hundertmark-Schein überlassen, meinte Elisabeth. Ich dachte an die Henkersmahlzeit, die eigentlich der Delinquent einnimmt und nicht der Henker. Ich verwarf den Gedanken schnell; ein Henker war ich auf keinen Fall, ich war nur ein Gehilfe. Nichts weiter.
 
Wir vermieden es, über den Nachmittag zu sprechen. Elisabeth erzählte von ihren Plänen. Sie wollte studieren. Sie liebte ihre Heimat, den Bodensee und sah ihre Zukunft hier. Die Gegend lebt vom Tourismus und den wollte sie fördern. Sie wollte Touristik-Management studieren und hätte dafür gute Möglichkeiten in Baden-Württemberg oder in der Schweiz. Die Berufsaussichten seien hervorragend. Mit diesem Studium könne sie dann überall arbeiten, bei Reiseveranstaltern, im Hotelwesen, auch im Ausland. Jetzt fühle sie sich frei, nicht mehr verpflichtet, ihren Eltern beizustehen.
 
Ich erzählte ihr, dass ich mich in meinem Beruf nicht ausgelastet fühlte. Wer weiss, was mir noch ‚über den Weg laufen’ würde.
 
Die Gerichte schmeckten hervorragend. Der Wein dazu mundete und trug dazu bei, die Gerichte zu geniessen und die Gedanken an den Onkel beiseitezuschieben.
 
Ein wenig torkelnd liefen wir beide zum Hotel. Elisabeth huschte, nach dem kurzen Hinweis, dass sie ein paar Minuten brauche, in ihr Zimmer, und ich ging in meins.
 
Ich putzte mir die Zähne und legte mich aufs Bett. Dann klopfte es an die Tür; sie trat ein und wir küssten uns leidenschaftlich.“
 
Nach diesem Stichwort war ein Hinweis auf Dostojewskij eingefügt. Ich schlug die Seite auf, fand die Unterstreichungen und las:
 
Und niemand, niemand darf wissen, was zwischen Mann und Frau geschieht, wenn sie einander lieben. Die Liebe ist ein göttliches Geheimnis und muss vor dem fremden Auge verborgen bleiben, was auch immer geschehen mag. Reiner wird sie dadurch, schöner, man achtet sich dann gegenseitig mehr, auf der Achtung aber beruht vieles.“
 
Damit schob der Verfasser der „Lebensbeichte“ den Voyeuren einen Riegel vor. Was geht es den Leser an, wie sich die beiden liebten? Ist die Vorstellung davon nicht Ausdruck genug? Vielleicht wird sich ein später Hotelgast, der an der Zimmertür, hinter der geliebt wurde, vorbeihuschte, über ein Geräusch gewundert haben, das aus dem Raum kam, ein dunkles Röhren und ein mit hoher Stimme ausgestossenes „Ja, ja“ und ahnend gedacht haben, sie haben sie gleichzeitig erreicht, die Extase, „la petite mort“. Nie wird dieser Hotelgast erfahren, wie genau er das Geschehen damit beschrieb.
 
Und dieser Hotelgast, ein Niederländer, hat, als ein Liebhaber des Sprachspiels, ein neues deutsches Wort in Übersetzung des hübschen niederländischen Ausdrucks „binnenpretje“ kreiert: „Innerlichkeitsschmunzeln“. Das war es, was ihn an diesem Abend überkam, allein in seinem Zimmer, ganz ohne Neid.
 
Mich als Leser der „Lebensbeichte“ und der „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ von Fjodor Dostojewskij hat die geschilderte Handlung dazu verführt, Vermutungen anzustellen, die über die Niederschrift weit hinausgehen. Ja, ich muss bei der Erwähnung des Niederländers zugeben, dass mich meine Phantasie ein wenig gepackt hat. Der vermeintlich am Hotelzimmer vorbeigehende Gast entspringt meinem Hirn und hat wohl mit der Realität nichts zu tun. Vielleicht ist das nur natürlich. Denn alles Geschriebene vermengt sich im Gehirn des Lesers mit seinen eigenen Erfahrungen und Empfindungen, und irgendwann wird die Grenze überschritten. Der Leser weiss später nicht mehr, ob der Vorfall, der ihm ins Gedächtnis kommt, im Roman gestanden hat, er ihn wirklich gelesen oder ob er ihn nur hinzugesponnen hat und er quasi aus seinem Unterbewusstsein in die Geschichte gerutscht ist.
 
Fortsetzung folgt.
 
 
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