Textatelier
BLOG vom: 21.09.2014

Macht und Freiheit, ein ungleiches Paar in der Demokratie

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Vor einer Woche habe ich eine Nachhilfeschülerin angenommen. Sie steht ein Jahr vor ihrem Abitur (Matura) und hat eine schlechte Note im Fach Deutsch. Momentan wird in ihrem Unterricht Franz Kafka behandelt, speziell sein Roman „Der Prozess“. Der Protagonist Josef K. wird von einer anonymen Macht, dem Gericht, aus seinem „normalen“ Leben herausgerissen. Er kommt nicht mehr davon los. Am Ende steht der Tod.
 
In einem Schülerhandbuch heisst es dazu: „Kafkas vieldeutige Parabeln sprechen uns heute ganz besonders an, fühlen wir uns doch häufig auch als ‚manipulierte‘ Opfer ohne eigene Entscheidungsfreiheit und -möglichkeit.“
 
Das „philosophie Magazin“ widmete sich im Oktober/November-Heft des Jahres 2013 dem Thema: „Wie werde ich (ein bisschen) freier? Wir haben so viele Möglichkeiten wie noch nie, trotzdem führen wir uns ständig eingeengt. Welche Wege führen in ein selbstbestimmtes Leben?“
 
Darin wird der Widerspruch aufgezeigt, dass wir zwar in einer Zeit der Demokratie, des Wohlstands und der Toleranz leben, uns aber „ständig eingeengt, fremdbestimmt, unter Zwang“ fühlen. Diesem Widerspruch sind die Beiträge zum Thema gewidmet. Offensichtlich geht es in erster Linie um das individuelle Gefühl der Freiheit und nur am Rande um die Erfahrung von Freiheit im Gefüge der politischen Macht. Diese Frage klingt zwar in Zitaten einiger Philosophen an, wird aber nicht weiter ausgeführt. Es kommen einige Personen zu Wort, die meistens unter Freiheit Wege verstehen, sich sozusagen selbst zu verwirklichen. Die Kommentatorin, Frau Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik, führt aus:
 
„Die Freiheit, die der Einzelne als Mitglied einer Gemeinschaft erfahren kann, schlägt in Unfreiheit um, wenn in dieser Gemeinschaft kein Raum für Unterschiede und Abweichungen bleibt."
 
Das verstehe ich so, dass auch diejenigen akzeptiert werden sollen, die sich einer Minderheit zuordnen, egal wie sie sich auch definiert.
 
Weil wir im lebendigen Austausch mit der Welt auch in eine Distanz zu uns selbst, und das heisst immer auch: zu unserer jeweiligen Rolle an einer sozialen Praxis (ob in der Familie, bei der Arbeit oder als Bürger) treten können, kann sich die Frage nach dem individuell wie sozial Guten überhaupt als Frage stellen. Die Erfahrung eines solchen Aus-sich-Heraustretens ist mit anderen Worten eine Bedingung der Möglichkeit für die Veränderung des sozialen Miteinanders, das uns schon immer bestimmt.“
 
Die Demokratie als Regierungsform, die es dem Individuum „zumindest prinzipiell erlaubt“, alles öffentlich zu kritisieren, wird von der Philosophin lobenswert hervorgehoben.
 
Distanz zu sich selbst“, „Erfahrung des Aus-sich-Heraustretens“? Ich weiss nicht, ob ich ganz verstehe, wie das gemeint ist. Ich versuche, die Aussagen an Beispielen zu verifizieren.
 
Das erste Beispiel ist aus der heutigen Zeit. Edward Snowden war als Mitarbeiter im Geheimdienst der USA zur Erkenntnis gelangt, dass dort ungehindert geheime Überwachungspraktiken stattfinden. Deshalb beschloss er, mit seiner Erkenntnis an die Öffentlichkeit zu gehen. Er rechtfertigte seinen „Verrat“,
 
weil er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, dass die US-Regierung die Privatsphäre, die Freiheit des Internets und grundlegende Freiheiten weltweit mit ihrem Überwachungsapparat zerstöre.“
 
Er fühlte sich als Bürger einer Demokratie und seinem Gewissen verantwortlich:
 
„Dann merkt man, dass man bereit ist, jedes Risiko zu tragen, ganz egal, was dabei herauskommt, solange die Öffentlichkeit selbst entscheiden darf.“
 
In den USA drohen ihm jetzt vermutlich bei einer Verurteilung bis zu 25 Jahre Haft für seine Tat. „Die Öffentlichkeit“ oder das, was er darunter versteht, darf nicht selbst entscheiden, dafür sind Gerichte zuständig, die nach dem Gesetz urteilen werden, sollte er es wagen, US-amerikanischen Boden zu betreten.
 
In den Roman „ Der Prozess“ von Franz Kafka steht eine Parabel, die der Autor auch unabhängig und in andere Werke aufgenommen hat, die sogenannte „Türhüterparabel“ oder „Das Gesetz“. Darin wird geschildert, wie der Hauptperson „der Zugang zum Gesetz“ verwehrt wird, obwohl es für jeden Menschen, so der letzte Satz in der Parabel, einen individuellen Weg gibt, denn der Eingang, der verschlossen blieb, war nur für ihn bestimmt.
 
Ich ziehe eine Parallele zu Edward Snowden. Eigenen Angaben zufolge habe Snowden zuvor mehrfach vergeblich versucht, sich mit seinen Bedenken bei offiziellen Amtsträgern Gehör zu verschaffen.
 
Das Machtgefüge agiert, so könnte man meinen, unabhängig von der Regierungsform. Für das Individuum ist es nicht durchschaubar, denn es wird von vielfältigen Interessen getragen.
 
Mir fällt Dietrich Bonhoeffer ein, ein lutherischer Theologe, der wegen seines Widerstands gegen das III. Reich bekannt wurde und auch in der heutigen Zeit als Vorbild gilt. Der Mitarbeiter der NS-Abwehrstelle in München entschloss sich, gegen das Naziregime aktiv zu werden:
 
„Man muss damit rechnen, dass die meisten Menschen nur durch Erfahrungen am eigenen Leibe klug werden. […] Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen.“
 
Bonhoeffer erfährt in der Diktatur, verhaftet nicht wegen Aktivitäten im Widerstand, sondern wegen angeblicher „Wehrkampfzersetzung“, die Konfrontation mit einem nicht einschätzbaren juristischen Verfahren, an dem am Ende die Exekution steht.
 
Sehr bekannt geworden ist sein Gedicht, das er kurz vor Weihnachten 1944, ein paar Monate vor seinem Tod, aus seinem theologischen Verständnis von „Macht“ heraus aus dem Gefängnis an Angehörige geschickt hat. Ich zitiere die erste und die letzte Strophe: 
1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
 
7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag. 
Zu Beginn des Briefes schreibt Bonhoeffer:
 
„So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid immer ganz gegenwärtig. […] Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heisst: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“
 
Er bezieht sich dabei auf ein Kinderlied, das aus der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ stammt, die von Clemens von Brentano und Achim von Arnim zum Anfang des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde.
 
Es liest sich seltsam, wenn ein Theologe sich „gute unsichtbare Mächte“ als Engel vorstellt, die fähig seien, zu behüten, und wodurch man sich geborgen fühlen dürfe. Er bezieht sich aber dabei auf den Psalm 91 in der Bibel im Alten Testament, in dem es heisst:
 „Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“
 
Macht und Mächte werden also weltlich und religiös gesehen. Wenn Bonhoeffer „gute Mächte“ anführt, kann angenommen werden, dass er bei den Mächten ohne das Beiwort „gut“ von irdischen ausgegangen ist, aber das ist spekulativ.
 
In allen Fällen handelt es sich um Mächte, die irgendwie nicht greifbar, ja „unsichtbar“ sind. Und immer geht es auch um die Freiheit, entweder sich ihnen auszuliefern, gegen sie zu agieren, von den Mächten der Freiheit beraubt zu werden oder um sich unter dem Schutz einer „überirdischen“ Macht zu stellen. Freiheit und Macht lässt sich nicht trennen, es gibt immer eine Beziehung zwischen dem, was jeder Mensch sich individuell darunter vorstellt.
 
Denn beide Begriffe sind diffus und nicht einfach zu definieren. In der oben erwähnten Liedersammlung findet sich ein weiteres Volkslied, das sich damit auseinandersetzt. Es heisst: „Die Gedanken sind frei“. Darin wird besungen, dass es über die physische Freiheit hinaus eine geistige gibt, die der Gedankenfreiheit. Die erweiterte Fassung beinhaltet ein Zwiegespräch zwischen einem Mädchen und einem Gefangenen, also jemandem, dem eine nicht näher bezeichnete Macht die physische Freiheit genommen hat: 
Und sperrt man mich ein
Im finsteren Kerker,
Dies alles sind nur
Vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
Zerreissen die Schranken
Und Mauern entzwei,
Die Gedanken sind frei. 
Gedankenfreiheit als letzte Zuflucht. In Friedrich Schillers Drama „Don Karlos“ wird sie vom Marquis Posa vom spanischen König Philip II. gefordert. Gemeint ist damit die Freiheit, in weltanschaulicher und politischer Hinsicht zu denken, was man will.
 
Auch wenn Gedankenfreiheit als Menschenrecht definiert wird, so ist sie doch nur dort möglich, wo es einen Rechtsstaat gibt. Denn die Konsequenz aus einer verbürgten Gedankenfreiheit ist es, diese Gedanken, auch ohne Sanktionen fürchten zu müssen, äussern zu können und zu dürfen. Das ist aber nicht möglich, wenn die Machtstrukturen nicht durchschaubar sind.
 
Das sind sie nicht in Kafkas Prozess und auch nicht im Nazideutschland. Ob sie es im Fall Edward Snowden sind, ist ebenso unsicher, zu viele Institutionen sind involviert. Keine Unterschiede gibt es in dem Fakt, dass vermeintlich gegen jeweils geltendes Gesetz verstossen worden ist, auch wenn das Gesetz menschenverachtend ist oder war.
 
In demokratischen Ländern scheint es eher möglich zu sein als in totalitären, diktatorischen, monarchisch-hierarchischen oder in von einer Religion dominierten Ländern, (Gedanken-)Freiheit zu leben. Es ist aber festzustellen, dass in unserer globalisierten Welt nicht zuletzt auch dort Macht ausgeübt wird, wo gegen staatliche Interessen Freiheiten verwirklicht werden. In nicht-demokratischen Ländern ist ein Auflehnen gegen die Macht „in Distanz zu sich selbst“ in der Konsequenz oft tödlich, aber auch bei bestimmten, Missstände aufdeckenden veröffentlichten Anklagen in den demokratischen Ländern können Sanktionen die Folge sein.
 
Gute Mächte“ sind eine Illusion, an die sich nur gläubige Menschen klammern dürfen. Der Glaube daran kann Seelenfrieden bringen.
 
In demokratischen Staatswesen ist die Gedanken- und Meinungsfreiheit erforderlich, um die Demokratie zu bewahren. Sie ist verletzlich und immer gefährdet, wenn sie von Menschen mit Einfluss angegriffen und unterhöhlt wird. Deshalb ist ein Abwägen, ob eine abweichende Meinung nicht nur gedacht, sondern auch öffentlich vertreten werden muss, das Eingehen auf die Erfahrung des „Aus-sich-Heraustretens“, immer überlegenswert. Das muss keine „grosse“ Tat sein, auch ein öffentlicher Auftritt, etwa im Internet, hat seinen Sinn.
 
 
Quellen
philosophie MAGAZIN Nr. 06/2013, Philomagazin Verlag Berlin.
„Von Wort zu Wort“, Schülerhandbuch Deutsch, Cornelsen Verlag, Berlin 2006, S.201.
Kafka, Franz: „Sämtliche Werke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2008, S. 238 ff.
Diekhans, Johannes, Völkl, Michael, Hrsg.: „Einfach Deutsch, Franz Kafka, Der Prozess ‒ verstehen“, Bildungshaus Schulbuchverlage, Braunschweig, Paderborn, Darmstadt, 2014.
Internet: Wikipedia: Kafka, „Der Prozess“; Edward Snowden; Dietrich Bonhoeffer, „Von wunderbaren Mächten“; „Des Knaben Wunderhorn“.
 
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