Textatelier
BLOG vom: 22.09.2014

Frank A. Meyer will „etwas retten, das nicht mehr existiert“

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH, über Frank A. Meyer – Ringiers Chefpublizist im Kampf mit der Windmühle „Neoliberalismus" und sein Engagement für den „Citoyen“. Eine Auseinander-Setzung.
 
 
Die am stärksten beachteten Publizisten opponieren dem Zeitgeist, den sie dabei gleichzeitig repräsentieren. Vieles mag man Frank A. Meyer vorwerfen, nur eines nicht: Dass er dem Risiko ausweiche, zwischen Stühle und Bänke zu geraten. Die vielfach schadenfroh nacherzählte Anekdote um Otto Stich (1927–2012), dieser verzichte auf einen Arbeitslunch mit Frank A. Meyer, weil er als Bundesrat beim Arbeiten nicht esse und beim Essen nicht arbeite, hängt mit dem Elefantengedächtnis des Finanzministers zusammen. Dieser vergass es nämlich nicht, dass Meyer es mit Helmut Hubachers „Viererbande“ gehalten hatte, für welche die Wahl Lilian Uchtenhagens in den Bundesrat eine Priorität ohne Alternative war. Stich war bekanntlich anstelle Uchtenhagens gewählt worden.
 
Zu einem aussergewöhnlichen Profil im Journalismus gehört es, zu normaler Umstrittenheit hinzu verhasst zu werden und Neider auf sich zu ziehen. Anerkennung und Bewunderung auf der einen Seite. Ablehnung bis zu Hohn und Häme gehören mit dazu.
 
Als eine Art Ziehsohn von Altverleger Hans Ringier mit Vertrauensverhältnis zu dessen Nachfolgern Michael und Ellen Ringier gelang es Frank A. Meyer mit geistiger Energie, Geschick und kontinuierlicher Präsenz, dem einstigen Heftli- und Boulevardverlag so etwas wie ein publizistisches Profil zu verpassen. Natürlich konnte der „Blick“ nicht neu erfunden werden, und das deutsche Magazin „Cicero“ dient eher einem achtenswerten Prestige als dem Geschäft. Wichtiger ist, dass ohne eine informelle Orientierungsgrösse einem wirtschaftlich starken und international vernetzten Verlagshaus das Wegdriften in die gesellschaftliche und politische Meinungslosigkeit gedroht hätte. Selbst auch im deutschen Verlagshaus Axel Springer genügte es nicht, den Boulevard ausschliesslich nach primitiv demoskopischen und rein populistischen Massstäben zu bewirtschaften.
 
Die Rolle von Chefpublizisten bei Ringier und Springer
Ohne publizistische Ausrichtung verliert ein Verlagshaus, in dem sich gleichzeitig Medienmacht und geschäftliche Ausrichtung manifestieren, langfristig an Glaubwürdigkeit. Das würde auch weniger Kraft bedeuten. Parteipolitisches im engeren Sinn war und ist kaum wichtig. Eher schon eine Profilierung nach einigen Standards von Demokratie und Menschenrechten. Bei Springer wurde in der Nachkriegszeit zusätzlich ein von Amerika her mitbestimmtes Deutschlandbild wichtig, in dem deutsch-jüdische Aussöhnung, Solidarität mit Israel, Westorientierung und ein nach dem Grundgesetz orientierter demokratischer „Verfassungspatriotismus“ wegleitend wurden. Zum letzteren Schlagwort bekennt sich im Orelli-Füssli-Porträt „Was unsere Demokratie jetzt braucht –Gespräche mit Jakob Augstein“ auch F. A. Meyer. Dass die Rolle eines profilierten Meinungsmachers mit massiver Umstrittenheit einhergeht, bei der Schreibzunft stärker als beim Publikum, war bei den führenden Publizisten der Springer-Presse normal. Ähnlich zuverlässig verhasst wie Meyer in der Schweizer Publizisten-Szene der vergangenen Jahre war Springers Leitstimme in den sechziger und siebziger Jahren, der Journalist und Schriftsteller Hans Habe (1911– 977). An ihm lässt sich, analog zu Frank A. Meyer, die Funktion eines publizistischen Leitwolfs aufzeigen. Für diesen Befund spielt die höchst unterschiedliche politische Ausrichtung der beiden kaum eine Rolle.
 
Der ehemalige amerikanische Presseoffizier Hans Bekessy (HaBe) praktizierte über Jahrzehnte eine brillante „Schreibe“, analog dem bei Buckleys amerikanischem Magazin „National Review“ zum Kalten Krieger ausgebildeten einstigen Ossietzky-Weggefährten William S. Schlamm (1904–1980), der zunächst bei Henri Nannens „Stern“, später in der „Welt am Sonntag“ die mitunter ätzende politische Kolumne, den provokativen Sonntagskommentar, erstmals auf klassische Höhe brachte. Später übernahm anstelle des exzessiven Kalten Kriegers Schlamm der politisch vorsichtigere, dafür in der persönlichen Polemik umso giftigere Hans Habe diese Funktion. Wie bei „Sonntagsblick“ jenseits von FAM oft nur der Sport als Substanz übrig bleibt, zeigte in den Springer-Blättern jeweils Hans Habe treffsicher in seinen „Zielscheiben“ auf, was Sache ist. Medienpolitisch und beim Ziehen von Fäden war Habe nicht unähnlich wie Frank A. Meyer seinerseits erfolgreich. Über Habe, der lange von Ascona aus publizierte, formulierte ein wenig gelesener deutscher Kollege: „Das Wasser stinkt, die Luft ist rein. / Hans Habe muss ertrunken sein.“
 
Unbeschadet der Praxis des Gehasstwerdens und des Hassens war Hans Habe zweifelsfrei ein Demokrat und ein durch und durch bürgerlicher Republikaner, wie Frank A. Meyer ein Freund Israels und mit prominenten Politikern in gesellschaftlichem Austausch. Habes Stärke war, für Millionen lesbar wie seine Bestsellerromane, die präzis formulierte Kolumne. Ein publizistischer Nachfolger desselben unter den israelfreundlichen Antilinken ist Henrik R. Broder, dessen Islamkritik mit derjenigen von Meyer weitestgehend übereinstimmt.
 
Steht guter Journalismus immer links?
Einen Vergleich mit Hans Habe, Henrik R. Broder oder dem Meisterkolumnisten der antitotalitären Polemik von 1937 bis 1980, William S. Schlamm, würde F. A. Meyer vermutlich zurückweisen. Die drei Abkömmlinge des jüdischen Feuilletons werden, bei unterschiedlicher Radikalität, eher einer demokratisch-radikalen Rechten als der Linken zugeordnet. Auf Seite 194 seines Kolumnenbandes mit Gesprächen senkt nun aber Frank A. Meyer den Kopf, schliesst die Augen und betet:
 
„Der gute Journalismus steht immer links. (…) Aus diesem Grund gibt es kaum Rechtsintellektuelle. Das kultivierte Denken ist nicht rechts.“
 
Die zugeklemmten Augen betreffen etwa die angelsächsische, französische, russische, jüdische, auch schweizerische und zumal bernische Publizistik. Bei aller Anerkennung seiner Lebensleistung würde ich nicht behaupten, dass Frank A. Meyer in Sachen Mut, Eigenrisiko, träfer Formulierungsfähigkeit, auch analytischer Tiefenschärfe bei unvermeidlicher Beschränktheit da und dort, in Wortschatz und Humor, Uli Dürrenmatt, dem Grossvater von Friedrich Dürrenmatt, Herausgeber der „Buchsi-Zitig“, überlegen wäre. Dieser war als erzkonservativer Demokrat klar rechts von der heutigen SVP positioniert, stärker „gegen die Reichen“, was früher weder bei Rechten noch bei Linken ohne gelegentliche antisemitische Entgleisungen abging. Meyers Selbstverständnis von exklusiv linkem gutem Journalismus hängt wohl damit zusammen, dass ihm für das faszinierende Grübeln in Zeitungsarchiven wie auch für die Lektüre missliebiger Blätter und Autoren die Zeit nach seinem 70. Geburtstag möglicherweise zu knapp geworden ist. Über Rechtsintellektuelle würde sich eine „Cicero“-Sondernummer trotzdem lohnen. Es darf vor ihnen stärker gewarnt werden als vor Frank A. Meyer.
 
Common sense zwischen Minger und Ritschard
Ein sogenannter „Scheissliberaler“ auf dem Weg des geringsten Widerstandes war der autodidaktisch gebildete Sohn eines Bieler Uhrmachers nie. Seine Kritik an der Klasse der von ihm als „neoliberal“ bezeichneten Manager, Banker und entsprechenden Politikern liest sich in vielem wie ein neoprotestantischer Aufruf zu mehr innerweltlicher Askese, zumal mehr Bürgersinn. „Gemeinsinn“, wie es die FDP in ihrer umstrittenen neuesten Wahlwerbung verbalisiert. Zum „Common sense“ eines Demokraten von schweizerischem Zuschnitt passt sein öffentliches Kopfschütteln im „Sonntagsblick“ (14.09.2014) über den Befund einer Bank, ein Landwirt passe von den beruflichen Voraussetzungen her nicht einen Bankrat.
 
Als Seeländer erinnert sich Meyer gut an Bundesrat Rudolf Minger (Mitglied der Landesbehörde von 1929–1940). Er starb wie Thomas Mann im August 1955, als der Knabe Frank wie der im Tempel debattierende Jesus knapp 12 Jahre alt war. Beide, der „provinzielle“ kleindemokratische Seeländer, und der progressive deutsche Bildungsbürger mit europäischem Horizont, scheinen bei Meyer als Orientierungspunkte gegeben. Bei einer Bundesratswahl erhielt er mal gegen ein Dutzend Stimmen, und nach Thomas Manns etwas elitärem Begriff des Bürgers mag er sich lieber orientieren als nach dem Solothurner Beizenhocker Peter Bichsel, der hartnäckiger als einst Gottfried Keller ein „kleiner Schweizer“ geblieben ist. Mit Bichsel zusammen gab F. A. Meyer eine seiner wertvollsten Publikationen heraus (Willi Ritschard, Ringier 1984), eines der wenigen zeitgeschichtlichen Bücher über einen Bundesrat, das den Altpapierwert übersteigt.
 
In 46 Jahren wurde Frank A. Meyer im eigenen Land und noch ausgeprägter in Deutschland zum vielleicht bestbeachteten Schweizer Journalisten. Die Gespräche mit Jakob Augstein (und Marc Walder) sind mehr als Selbstdarstellung. Im Vordergrund stehen Reflexionen über die Demokratie als „System der Ent-Täuschungen“, also der mittleren Unzufriedenheit, welche für ein System von Kompromissen selbstverständlich sei. Diese Perspektive ist zweifelsohne schweizerisch.
 
Wittgensteins Vetter - ein „Demokratieverächter“?
Zum Wesen des Politischen gehört die Differenzierung in Freund und Feind. Mit der Staatslehre von Carl Schmitt, von dem diese These stammt, geht Meyer wohl noch weniger eins als mit der Klassenkampftheorie von Karl Marx, dessen Analyse er als „sehr stark“ bezeichnet, ohne sie zu teilen.
 
Als Meyers politische Vogelscheuche hat meist der „Neoliberalismus“ herzuhalten, konkret Friedrich August von Hayek (1899–1991), der Cousin des Philosophen Ludwig Wittgenstein und mit dem gleichaltrigen Wilhelm Röpke, einer der Gründer der „Mont Pélerin Society“. Ihm ruft der Ringier-Chefpublizist übers Grab hinaus den Schandnamen des Demokratieverächters nach. Davon ist mir zwar 1971 bei der ersten Lektüre seines Hauptwerks „Der Weg zur Knechtschaft“ nichts aufgefallen. Wie Meyer bediente sich Hayek bei seinem Engagement einer deutlichen Sprache, die man dann und wann eher journalistisch als philosophisch nehmen muss. Milton Friedman verlautbarte im Vorwort: „Der Kampf um die Freiheit muss immer wieder gewonnen werden. Die Sozialisten in allen Parteien, denen Hayek dieses Buch gewidmet hat, müssen wieder einmal überzeugt oder niedergerungen werden, wenn sie und wir freie Menschen bleiben wollen.“ Das Postulat des Niederringens ist auch F. A. Meyer und seinem Gesprächspartner Jakob Augstein ein Anliegen, nur gilt es jetzt umgekehrt dem „Marktradikalismus“. Das liest sich dann so:
 
„Der Marktradikalismus ist zu Teilen ein Faschismus. Er definiert den Menschen ausschliesslich als Produzenten und Konsumenten von Gütern. Er erniedrigt den Menschen zum rein ökonomischen Faktor. Das Raffinierte am Marktradikalismus ist, dass er vorgibt, das Individuum im Blick zu haben, die es über den Markt zu manipulieren gilt. Darin erblicke ich einen faschistischen Zug des angelsächsischen Marktradikalismus.“ Der Begriff „Faschismus“, der beim ideologisch bornierten Teil der deutschen Linken traditionell den verpönten Ausdruck „Nationalsozialismus“ ersetzen muss, erhält hier, wie es in der Politik zum Gemeinplatz geworden ist, semiotisch die Funktion einer Chiffre der Diskussionsverweigerung.
 
Die sogenannte Erniedrigung des Menschen zum rein ökonomischen Faktor hängt bei Hayek erkenntnistheoretisch mit einem positivistischen Ansatz zusammen. Methodisch gesehen eher ein naturwissenschaftliches Denken. „Wirklich ist, was der Fall ist“, formulierte als Logiker Hayeks Vetter Wittgenstein, für den „Werte“, selbst die zum Nihilismus umgewerteten von Friedrich Nietzsche, endgültig aufgehört haben, Diskussionsgegenstände der Philosophie zu sein. Im Geist des Wiener Neopositivismus spricht man zum Beispiel im Zusammenhang mit der Natur nicht mehr von Schöpfung. Es gilt die Poppersche Losung: Leben sei Problemlösen. Beim Lösen konkreter Probleme findet stets eine Reduktion statt. Beim Kaufen und Verkaufen geht es also um den Homo oeconomicus, nicht um Mystik und Sinn des Lebens, so wie in der modernen Krebstherapie die soziologischen und anthropologischen Fragestellungen des Patienten Fritz Angst („Fritz Zorn – Mars“) nun mal nicht inbegriffen sind. Die Beantwortung solcher Wertfragen wird von der medizinischen Wissenschaft nicht mitgeliefert. Analog verhält es sich in der Ökonomie beim Popanz „Neoliberalismus“. Ein einfaches Beispiel, nicht aus dem Buch von Meyer, ist fällig.
 
Weltanschauliche Fragen dürften zum Beispiel die Verkäuferin einer Ledertasche an der Bahnhofstrasse nicht interessieren, wie die „Täschli-Gate“ Affäre mit Opra Winfrey eindrucksvoll demonstrierte, wiewohl es sich vermutlich um ein Missverständnis handelte. Streng neoliberal wäre es, beim Verkauf einer Ledertasche oder eines Maschinengewehrs oder eines Computers weder die „Rasse“ (was es sowieso nicht gibt), noch die Religion, noch das Geschlecht, noch die politische Haltung, noch den moralischen Status der Kundschaft ins Spiel zu bringen. Weder der Mulattin Opra Winfrey, noch der Frau von Kim Jong Un, ja nicht einmal einer deutschen Sportlerin, welche mit einem NPD-Mitglied liiert war, sollte eine 30 000 Franken teure Tasche vorenthalten bleiben. Auch die tierschützerischen Gesichtspunkte werden streng liberal dem angeblichen Gewissen der Kundschaft überlassen.
 
Kriterien „jenseits von Angebot und Nachfrage“
Solche Überlegungen gelten jedoch auch im Neoliberalismus nur prinzipiell. Für Hayeks Jahrgänger und Weggefährten Wilhelm Röpke (1899–1966) galten beim Geschäften stets noch Kriterien „jenseits von Angebot und Nachfrage“, wie der Titel von Röpkes schönstem Buch hervorhebt. Nur sollten diese Kriterien nicht durch das Gesetz vorbestimmt, sondern dem gesellschaftlichen Konsens vorbehalten bleiben. Also statt der heutigen Diskussion über Sanktionen gegen Wladimir Putin freiwillig vereinbarter, ev. kartellähnlicher Verzicht auf „Todfeindhandel“, wie ausgerechnet Neoliberale vor 60 Jahren den Osthandel in einem Anfall von Panik zu nennen beliebten. Da hingegen von Südafrika weder Gefährdung des Weltfriedens noch ein Unterlaufen des Wirtschaftssystems ausgingen, wurden diesbezügliche Boykotte abgelehnt. Südafrikaboykotte fand übrigens der Schweizer SP-Präsident und Schaffhauser Industriepolitiker Walther Bringolf in einem vor Ort recherchierten Buch von 1968 ebenfalls nicht zielführend.
 
Zu den liberalen Prinzipien gehört es nun aber zweifelsfrei, die Wirtschaft so unideologisch wie möglich zu betrachten. Dazu konnte sich die katholische Kirche mit ihrem jahrhundertelangen Zinsverbot schwer durchringen, Marxisten ausserhalb des modernen China noch schwerer. Einen ersten Schritt zu ökonomischer Aufklärung wagte der in Konstanz 1417 gewählte Papst Martin V. mit einer noch vorsichtigen Lockerung des Zinsverbotes, wie es heute im islamischen Banking mit ideologischen Umwegen praktiziert wird. Demgegenüber ist die neoliberale „Reduktion“ des Wirtschaftspartners auf den Homo oeconomicus bloss ein Resultat der seit dem Nominalismus stattgefundenen Entwicklung zu mehr wissenschaftlichem Denken. Selbstverständlich ist, dass auch der Homo oeconomicus Vertragspartner und in dem Sinn mündiger Mensch ist.
 
Neoliberalismus – eine Gegenreligion?
Mit Faschismus haben aber Hayek oder andere „Neoliberale“ so wenig am Hut wie mit Uriella oder mit den meisten Päpsten. Dabei setzen jedoch Jakob Augstein und Frank A. Meyer wohl illusionäre Hoffnungen in die prinzipienethische Kapitalismus-Kritik von Papst Franziskus betreffend. Ohne Kenntnis der Rhetorik einer Barockpredigt wittern sie bei päpstlichen Formulierungen wie „die Tyrannei der vergötterten Marktes“ eine „zeitgemässe Analyse" eines heute zur „tyrannischen Gegenreligion" erhobenen Kapitalismus. Jakob Augstein versteigt sich sogar zum Bekenntnis: „Ich wäre jetzt gern katholisch.“ Eine solche Aussage („Es isch zum Kartholischwäärde!“) war unter dem Regime des aufgeklärten Absolutismus im alten Bern noch bei Busse als Blasphemie verboten.
 
An Meyers und Augsteins Projektionen über Faschismus und Katholizismus ist so viel richtig, dass dem angeblich neoliberalen „Glauben an den Markt“ bei beiden historischen Popanz-Bewegungen erst recht keine Bedeutung zukommt. Weder ist der Neoliberalismus gläubig, noch hat der angebliche Glaube an den Markt irgendetwas mit Faschismus oder Nationalsozialismus zu tun. Wilhelm Röpke verwies schon 1930 in seinem berühmten Appell an das niedersächsische Landvolk auf die Unvereinbarkeit marktwirtschaftlicher Prinzipien mit den propagandistischen Absichten der Nationalsozialisten. Deswegen ging er als einer der ersten Ökonomen ins Exil nach Genf.
 
Die Hoffnungen von Frank A. Meyer und des neben ihm jugendlich wirkenden Jakob Augstein auf den Papst könnten sich indes schon bald zerschlagen. Das in populärem Stil abgefasste apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“ (2012) kommt analytisch schmal einher und wird, wie Insider andeuten, schon bald durch eine neue Sozialenzyklika abgelöst. Neben den Befreiungstheologen, die derzeit den Papst hofieren, darunter als bedeutendster der deutsche Soziologe und Priester Josef Sayer, einst Geistlicher in Peru, wächst der Einfluss des nach Rom berufenen Präsidenten der päpstlichen Universität von Buenos Aires, Erzbischof Victor Manuel Fernandez. Immerhin scheint Papst Franziskus – in der Hitze des Gefechts – sein letztes Schreiben zur Freude der Journalisten noch weitgehend selber verfasst zu haben. Erzbischof Fernandez, der als bedeutendster südamerikanischer Sozialethiker gilt, steht stärker als die Befreiungstheologen auf dem Boden der seit 1891 als Alternative zum Klassenkampf entwickelten katholischen Soziallehre.
 
Die katholischen Auffassungen über Wirtschaft und Recht sind seit dem diesbezüglich einflussreichsten Jesuiten Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) mit der Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips aus liberaler Sicht nicht unvernünftig, jedoch ähnlich wie die Lehre von Ehe und Empfängnisverhütung längst nicht mehr von relevantem politischem Einfluss. Gemäss F. A. Meyer verfügt Papst Franziskus „über das analytische Besteck, um die neoliberale Ideologie wirklich zu sezieren.“ Dies ist kaum der Fall. Insofern die Ideologie des Marktes als „Religion“ bezeichnet wird, liegt eine Fehlanalyse vor. Wenn schon, dann wäre es ein Glaube ohne Religion, und erst noch einer, dem im Ernstfall, wenn es um Leben und Tod geht, die Gläubigen sofort abhandenkommen. Im Gegensatz zum Islam, der real existiert, ist der Neoliberalismus vielleicht als seminaristische Theorie greifbar, auch als Thema von Wirtschaftspodien. Es ist aber nicht so, dass diese Theorien, ähnlich wie die ihnen entsprechenden vier Wirtschaftsprinzipien der Europäischen Union, von irgendjemandem im realen Ernstfall geglaubt würden. Im Augenblick eines Flugzeugabsturzes sage ich vielleicht „Allah!“ oder „Jesus!“, aber definitiv empfinde ich das Ereignis nicht als einen Sieg des Marktes. Falls in Europa ein Glaube Zukunft hat, sind es die fünf Säulen des Islam. Aber wohl kaum die neoliberalen vier unverhandelbaren Prinzipien der europäischen Union.
 
„Cityoen“ contra Besitzbürger
Unbeschadet von Fehlanalysen bleibt es dabei, dass der Papst wie auch Meyer einen ethischen Diskurs führen. Bei Meyer geht es nicht um den Gegensatz zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sondern um den Gegensatz zwischen „Citoyen“ und „Bourgeois“. Dieser Gegensatz, der historisch in Jean-Jacques Rousseaus Genf noch weitgehend eine Einheit bildete, scheint bei Meyer hochmoralisch konnotiert. Der Citoyen ist so etwas wie der Idealbürger, der Bourgeois der Besitzbürger. Der Sozialhilfe- und Subventionsempfänger, der im Umverteilungsstaat jenseits von Missbrauch streng auf seine Rechte und Ansprüche pocht, steht anscheinend dem Typus des Citoyen immer noch näher als etwa Vertreter der Bourgeoisie wie Uli Höness oder die Familie Steffi Graf, welche dem Staat zwar einerseits Millionen abliefern, weitere Millionen aber lieber vor dem Fiskus ins Trockene gebracht hätten. Desgleichen stehen Erben grosser Vermögen in Frankreich ähnlich am Pranger wie früher in der Schweiz Dienstverweigerer und Vaterlandsverräter.
 
Der Forderungsdruck hängt mit dem Sozialstaat zusammen, der im Gegensatz zum Neoliberalismus nicht nur als Ideologie existiert. Die explodierenden Kosten fallen unterdessen sogar in der Schweiz derart ins Gewicht, dass dies im September 2014 von Ringiers Boulevard-Blatt „Blick“ tagelang zum Thema gemacht wurde.
 
Für Frank A. Meyer ist der Sozialstaat, womit er gesinnungsethisch wahrscheinlich Recht hat, eine der höchsten Errungenschaften der Kultur. So ähnlich sieht es auch Peter Sloterdijk. In der unvermeidlichen Krise des Sozialstaates aber plädiert der Philosoph für mehr Wertschätzung gegenüber den Gebern, während Ringiers Chefpublizist etwa mit dem Sprachgebrauch „Gauner“ verbal konsequent die Kriminalisierung unwilliger Nettozahler betreibt. Andererseits erkennt Meyer in Perversionen einer unkontrolliert losgelassenen Sozialindustrie, so mit Fr. 29 000.– monatlich für Sondersettings bei einem jugendlichen Kriminellen, „Carlos“, klar die Gefahren, die aus solchen oft sogar legalen Absurditäten für das Gesamtsystem des Sozialstaates heraufbeschworen werden.
 
„Kein unangenehmer Mensch, kein Journalist“
Zu den Qualitäten eines anregenden Gesprächsbandes trägt bei, dass der Dialog zwischen Augstein und Meyer auf Augenhöhe stattfindet. Stärker als Meyer stellt sich Augstein nicht bloss dem Auflagenverlust, auch dem Bedeutungsverlust der Printpresse. Fast grenzt es an Blasphemie, wenn Jakob Augstein auf Seite 189 Frank A. Meyer das fragwürdige Kompliment macht, „kein unangenehmer Mensch, aber ebenso wenig ein Journalist zu sein.“ Er sei vielmehr Aphoristiker und Essayist, ein Schriftsteller ohne dicke Bücher. Dem hält Meyer entgegen, dass er früher mal journalistische Porträts verfasst habe. Übrigens exzellente, wie der Kritiker hinzufügen möchte. Danach folgen ein paar Zeilen, die FAM, solange er noch selber recherchierte, nie unterlaufen wären:
 
„Ich lege meine Kolumnen oft wie eine Lupe auf eine scheinbar kleine Sache. Wie beispielsweise eine Entscheidung der Luzerner Kantonsregierung, die beschloss, Berufsschulen und Gymnasien für jeweils zwei Wochen im Jahr zu schliessen. Dank des eingesparten Geldes sollten Steuern gesenkt werden, und zwar mit dem Ziel, neue Unternehmen anzusiedeln.“
 
Als einer von Luzerns Bildungshistorikern mit Einblick in die Verhältnisse vor Ort kann ich nur staunen, wie Frank A. Meyer von Berlin aus ohne weitere Rückfragen einen solchen Kommentar machen konnte. Es handelte sich nämlich um eine nicht durchgeführte Schnapsidee: Ausgeburt einer Bildungsbürokratie, die dann und wann verzweifelt um ihre Existenzberechtigung ringt. Das Ziel, dank zwei Wochen Schulschliessung neue Unternehmungen anzusiedeln, ist in dieser Absurdität auch vom Hinterletzten dieser Funktionäre so nie formuliert worden.
 
Dass aber die Kritik an „Usura“, dem verantwortungslosen und vor allem geistlosen Umgang mit Geld und Reichtum, das kritische Hauptanliegen des Buches, jederzeit eine politische Auseinandersetzung wert ist, wird hier nicht bemäkelt. Im Gegenteil. Am stärksten macht Frank A. Meyer auf mich Eindruck in seinem Bestreben, dem Begriff „bürgerlich“ nach Möglichkeit einen positiven Sinn abzugewinnen. Schon sein Vater, ein fleissiger Uhrmacher und bekennender Sozialdemokrat und Gewerkschafter, trug aus Berufsstolz eine Krawatte beim Arbeiten, wollte also ein „Bürger“ sein. In einer Haltung dieser Art manifestiert sich die von Max Weber charakterisierte protestantische Ethik. „Er will etwas retten, was kaum noch vorhanden ist“, schrieb mir dazu ein Schweizer Politbeobachter über Frank A. Meyer.
 
Eine Schlusspointe dieser Art würde Frank A. Meyer weder mir noch dem „Schweizer Monat“ durchgehen lassen. Jakob Augstein gegenüber bekannte er: „Ich habe in meinem ganzen Leben keinen meiner Artikel und ihre Zahl geht in die Tausende – mit Hoffnungslosigkeit enden lassen. Oft hätte mir ein resignativer Schluss eine Pointe ermöglicht, aber ich funktioniere nicht so. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man etwas tun muss. Sie tun ja auch etwas. Sie rollen, um mit Camus zu reden, mit Ihrer Zeitung („der Freitag“, P.M.) jeden Donnerstag einen Stein auf den Berg.“
 
Hinweise
Alle Zitate oder Zusammenfassungen aus:
Frank A. Meyer: „Es wird eine Rebellion geben. Was unsere Demokratie jetzt braucht – Gespräche mit Jakob Augstein“, orell füssli Verlag, Zürich 2014.
Frank A. Meyer: „Willi Ritschard“, Ringier, Zürich 1984.
Friedrich A. von Hayek: „Der Weg zur Knechtschaft“ 2. Auflage, verlag moderne industrie, München 1971.
Ludwig Wittgenstein: „Tractatus logico-philosophicus“, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am M. 1999.
Walther Bringolf: „Gespräche über Südafrika“, Artemis, Zürich 1968.
Papst Franziskus (Jorge Mario Bergoglio SJ): „Evangelii Gaudium, Apostolisches Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“, Rom 2013
Wilhelm Röpke: „Jenseits von Angebot und Nachfrage“, 4. Auflage, Rentsch-Verlag, Erlenbach-Zürich 1959.
 
Das Titelmotto verdankt der Autor einem Mailwechsel mit Klaus J. Stoehlker. Das spöttische Zitat über Hans Habe stammt von dessen Tessiner Nachbarn Robert Neumann (1897–1975).
Von Pirmin Meier ist in Neuausgabe soeben erschienen: „Ich Bruder Klaus von Flüe – Eine Geschichte aus der Inneren Schweiz“, 3. Auflage, Unionsverlag, Zürich 2014 (gilt nach Mystik-Kenner Alois M. Haas als beste Interpretation von Leben und Visionswelt des Schweizer Nationalheiligen).
 
Pirmin Meiers Hauptwerk und Bestseller „Paracelsus, Arzt und Prophet“, wurde in der 6. Auflage (Unionsverlag Zürich 2013) dem Andenken von Otto Stich gewidmet, womit die einleitende Anekdote dieses Beitrags noch mit einer zusätzlichen kleinen Pointe versehen ist.
 
Hinweis auf weitere Lebensbeschreibungen von Pirmin Meier
 
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