Textatelier
BLOG vom: 22.10.2014

Zeitgeschichte: „Überfremdung“ bis „Masseneinwanderung“

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH
 
Einleitung der Textatelier.com-Redaktion
In der „Schweiz am Sonntag“ erschien am 19.10.2014 ein schweizweit stark beachteter Artikel von Pirmin Meier zum Thema „Von Schwarzenbach zu Ecopop“, der wegen seines Umfangs von über 12 000 Zeichen stark gekürzt werden musste. Zudem enthält der Artikel in der „Schweiz am Sonntag“ noch eine Verwechslung des Ecopop-Protagonisten Benno Büeler mit dem Aargauer Grünenpolitiker Andreas Thommen, was eine missverständliche Darstellung des Gesprächs zwischen Büeler und Geri Müller betraf. Es bleibt aber dabei, dass für Pirmin Meier sowohl Benno Büeler und Andreas Thommen wie Geri Müller ernst zu nehmende Politiker sind, die weder in die fremdenfeindliche noch in die schmuddelige oder gar antisemitische Ecke abgeschoben werden können. Die Achtung vor Politikern, die sich mutig exponierten, ist für Pirmin Meier ein Hauptkriterium für eine Darstellung in Porträts. Politisch korrekte Langweiler vermochten ihn stets nur beschränkt zu interessieren. Das Textatelier.com bringt nun den Originaltext mit der besagten Korrektur am Schluss.
TA
Das Jahr 1964 war für mich als politisch interessierter Gymnasiast denkwürdig. Unterwegs an die Expo nach Lausanne kaufte ich am Bahnhofkiosk Turgi AG das Buch „Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch. Es herrschte aber nach wie vor Kalter Krieg. Bei der Ankunft von Ungarnflüchtlingen im November 1956, welche ich auf dem Bahnhof von Station Siggenthal im unteren Aaretal als Helden bewundert hatte, gelobte ich mit Jugendfreunden, ein Feind des Kommunismus zu bleiben. Beim US-Wahlkampf 1964 galten meine Sympathien damals nicht dem John-F.-Kennedy-Nachfolger Lyndon B. Johnson, sondern dem Republikaner Barry Goldwater, einem rechtskonservativen Ostjuden, der die Befreiung der Ukraine und von Armenien forderte, aus linker Sicht eine Hetze zum Atomkrieg. Hillary Rodham, heute Hillary Clinton, wie ich: Jahrgang 1947, dachte als „Goldwater-Girl“ damals gleich wie ich.
 
Einer der schärfsten Kalten Krieger in der Schweiz von damals war James Schwarzenbach. Der ehemalige Redaktor der katholischen „Neuen Zürcher Nachrichten“ und der „Zürcher Woche“ hatte aus dem Erbe des Publizisten Johann Baptist Rusch (ex-„Aargauer Volksblatt“) die 1798 gegründete Zeitung „Der Republikaner“ gekauft. Genau genommen gehörte die Zeitung Schwarzenbachs reicher Frau, einer geborenen Bühler (Uzwil SG), weswegen später Ulrich Schlüer diesen Titel nicht übernehmen konnte und die „Schweizerzeit“ gründete.
 
Da nun aber „Der Republikaner“ 1964 vorübergehend eingestellt wurde, vielleicht auch wegen notorischem Ehekrach bei Schwarzenbachs, gründete mein Jugendfreund Herbert Meier 1964 in Würenlingen die Zeitschrift „Abendland“, in der ich gegen 30 Jahre mitschrieb. Einer der ersten Leitartikel trug den Titel „Proletarier-Import“; eine für den jugendlichen Herbert Meier erstaunlich nüchterne Analyse ohne Befürwortung der 1. Überfremdungsinitiative der Demokraten, welche früh wieder zurückgezogen wurde. Für die 2. Überfremdungsinitiative engagierte sich Herbert Meiers Blatt nicht, wohl aber für den Politiker James Schwarzenbach persönlich. Als Verleger des Bestsellers des ehemaligen Kommunisten Viktor Kratschenko einerseits und konvertierter Katholik andererseits war Schwarzenbach für uns Jungrechte eine Orientierungsgrösse. Zusammen mit dem kritischen Historiker Marcel Beck lud ich ihn zu einem Referat ins Benediktinerkollegium Sarnen OW ein, was einigen meiner Lehrer in den falschen Hals geriet. Schwarzenbach war schon vor seiner Zeit als Überfremdungspolitiker umstritten.
 
Im privaten Gespräch diskutierte James Schwarzenbach lieber über Literatur und Philosophie als über Ausländerpolitik. Namen wie Edmund Burke (britischer Philosoph) und Peter Wust (christlicher Existentialist) wurden genannt. Ärgerlich war er für ihn, dass er die später nach ihm benannte 2. Überfremdungsinitiative nicht selber formuliert hatte, sondern sie vom rechtsnationalen Scharfmacher Fritz Meier, genannt Meier-Ellikon (von Ellikon an der Thur) übernommen hatte. Die Unterstellung von Helmut Hubacher, (im Dokumentarfilm von Beat Bieri, ausgestrahlt von SRF am 16.10.2014), Schwarzenbach sei auf den „Überfremdungszug“ aufgesprungen, um „berühmt“ zu werden, wie er seiner Sekretärin gesagt haben soll, ist nicht zum Nennwert zu nehmen. Offensichtlich aber hatte sich bei Schwarzenbach eine nicht geringe Abneigung, ja Hass, auf das Zürcher Establishment, aufgestaut, vom Freisinn bis zur „Neuen Zürcher Zeitung“. Zu Gastarbeitern entwickelte er nie ein emotionales Verhältnis, also auch keinen Fremdenhass.
 
Mit dem Ausländerthema, das er anwaltschaftlich übernahm, konnte er eine aus seiner Sicht eine nötige Unruhe in die Schweizer Politik bringen – nie mit fanatischem Tonfall. „Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer“, sagte er einmal, und gegenüber diesen anderen war er misstrauisch. In der Regel sprach er ihnen das nötige Format ab. Schwarzenbach, der mir gegenüber einen „gesunden Nationalismus“ mehrfach verteidigte, hielt von ökologischem Denken nicht viel. Valentin Oehen und die Arbeitsgemeinschaft für Bevölkerungsfragen, in welcher auch Nichtnationalisten wie Theo Ginsburg aktiv waren, erörterten die „Übervölkerung“ der Schweiz als ökologische Zeitbombe also auf dem Argumentationsniveau der heutigen Ecopop-Bewegung.
 
Ein solches Denken schätzte Schwarzenbach als fanatisch ein. Wenn er selber vor dem Ausdruck „Überfremdung“ nicht zurückschreckte, so war dies in seiner eigenen Kindheit und Jugend noch ein Begriff, den „Schweizerwoche“-Gründer Werner Minder, damals Prokurist von „Trybol“ Neuhausen, sogar für Leitartikel in der Neuen Zürcher Zeitung gut genug war. Am 08.11.1917 zitierte Minder einen Aufruf von Bundespräsident Edmund Schulthess „zur Mitarbeit aller Schweizer und Schweizerinnen, gegen die wirtschaftliche Überfremdung anzukämpfen.“ Im „Journal de Genève“ rief gleichzeitig Redaktor Micheli du Crest im Geist der Schweizerwoche zur „nützlichen Betätigung der nationalen Solidarität“ auf.
 
„Überfremdung“ im demografischen Sinn wurde als Wort erstmals vom Zürcher Armensekretär Alfred Schmid 1900 gebraucht, und zwar in der Schrift „Die Fremdenfrage“. Der christlichsoziale Politiker Johann Jakob Rusch schrieb in den „Republikanischen Blättern“ früh gegen die „Überfremdung“ und hielt sich wie Schwarzenbach von Antisemitismus leider nicht frei.
 
Werner Minder, Grossvater von Ständerat (und Ecopop-Befürworter) Thomas Minder, war der Vorsitzende der volkswirtschaftlichen Kommission der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Unter „Überfremdung“ verstand er jedoch noch vorwiegend, wie heute SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, wirtschaftliche Überfremdung durch ausländisches Kapital, im Sinne der Bekämpfung des „Ausverkaufs der Heimat“. In der Situation des 1. Weltkrieges, vor dem es in der Schweiz auch schon einen hohen Ausländeranteil gab, appellierte Werner Minder an „einen gesunden wirtschaftlichen Egoismus“, worauf auch der klassische Kapitalismus beruht. „Schweizer Ware unterm Weihnachtsbaum“ (1917) war für die Neue Helvetische Gesellschaft jedoch wichtiger als Appelle gegen zu viele Ausländer in der Schweiz.
 
Die Schwarzenbach-Initiative von 1970 und die Masseneinwanderungsinitiative von 2014 sind eher psychologisch als politisch vergleichbar. Kein anderes Thema polarisierte vergleichbar. Zahlreiche Junge trugen gelbe Protestknöpfe „Schwarzenbach ab“, auch solche, die 2014 dann Ja stimmten, wie der als Kommunist fichierte Gastarbeiter im Aargau Sergio Giovannelli, Schwager von Christoph Blocher. Gewichtiger als Schwarzenbachs nicht hetzerisches Plakat „Ja zur Schweiz“ war 1970 für den hohen Ja-Stimmen-Anteil im knapp verwerfenden Aargau und im knapp annehmenden Solothurn die St. Galler Kneschaurek-Prognose von 10 Millionen Einwohnern in der Schweiz, „wovon die Mehrheit lateinische Sprachen sprechen“. Die Ortsplanung von Wettingen AG faselte von einem „Endausbau“ der Gemeinde von 80 000 Einwohnern. Das war damals z. B. auch für den SP-Gewerkschafter Adolf Holzherr zuviel, der sich prompt Schwarzenbach anschloss. Auch Heimatkünstler Eduard Spörri, er schwieg wie die meisten Ja-Stimmer gegen aussen, hatte keinen Bock auf einen solchen „Endausbau“.
 
Viel zitiert ist Max Frischs Satz aus jener Zeit: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, es kamen Menschen.“ Frisch hatte mit seinem Jahrgänger Schwarzenbach in den dreissiger Jahren Abneigung gegen deutsche Emigranten und um 1970 mangelnden Einblick in die Schweizer Arbeitswelt gemeinsam, ein Vorwurf, den Schwarzenbach gemäss Beat Bieris Fernsehfilm mit Recht einstecken musste. Der Satz von Frisch bleibt trotzdem ein Jahrhundertwort.
 
Jenseits von Frisch und Schwarzenbach machte der Aargauer Schriftsteller vom gleichen Jahrgang wie die beiden, Karl Kloter (1911‒2002), als Arbeiter und Betriebskommissionsmitglied bei Siemens-Albis nachhaltige konkrete Erfahrungen mit italienischen Gastarbeitern. Er legte sie im Roman „Salvatrice“ nieder, 1969 im Schweizer Verlagshaus erschienen. Konzipiert als Roman „gegen die Schwarzenbachinitiative“, verleugnete Kloter das auch von Helmut Hubacher im Dokumentarfilm nicht geleugnete Dilemma der einheimischen Arbeiter, einschliesslich Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Kloter beschreibt die Situation in den frühen fünfziger Jahren, als es noch wenige Gastarbeiter gab: „Wir waren noch unter uns. Aber dann begann man, immer mehr nach ihnen zu rufen. Und immer lauter auch. Natürlich folgten sie diesem Ruf bereitwillig. Wie Heuschreckenschwärme überfluteten sie unser Land in kurzer Zeit; in der Industrie, im Gewerbe, in der Landwirtschaft, in der Hotellerie und in den Spitälern waren sie zu finden. Mit ihren riesigen Koffern auf den Schultern, von den sie beinahe zu Boden gedrückt wurde, krochen sie zu Tausenden aus den Zügen, … durch die überfüllten Bahnhöfe, durch unsere Strassen, hinein in unsere Häuser, aus einer anderen Welt kommend in unser Land.“
 
Dies also die Sicht des bedeutendsten Schweizer Arbeiterschriftstellers seit Jakob Bührer. Obwohl es damals noch kein Rassismus-Gesetz gab, musste Kloter für den Heuschreckenvergleich bei politisch korrekten Kritikern büssen. Ein kritischer Lektor hätte dem manchmal schwerfällig formulierenden, aber immer authentischen Autor diese Wortwahl weggestrichen. Dass sie stehen blieb, behält für die Geschichte der Arbeiterschaft in der Schweiz Quellenwert. Die Wahrheit des Empfindens ist eine andere als die Wahrheit der Ideologie. Die Verlegenheit von Helmut Hubacher über einen „falsch stimmenden“ St. Galler Parteifreund war echt. Kloter bezeichnete in seinem Roman „Salvatrice“ viereinhalb Millionen als die Einwohnerzahl der Schweiz, welche für die Harmonie von Mensch und Natur noch am besten wäre. Aber als solidarischer Gewerkschafter war er gegen jede einzelne Ausschaffung, darum gegen die Überfremdungsinitiative von 1970 und gegen die klar extremistische Ausländer-Raus-Initiative von 1974. Als früher Linksgrüner schloss Kloter demografische Überlegungen nie aus. Grundsätze sind aber nicht dasselbe wie Zustimmung zu untauglichen Initiativen. Objektiv gesehen, war auch die Schwarzenbach-Initiative eine untaugliche Lösung. Dass sie von den einstigen katholischen Sonderbundskantonen, nicht gerade von Gastarbeitern überflutet, angenommen wurde, zeigt: Es handelte sich damals um eine Grundsatzabstimmung über schweizerische Identität. Schwarzenbach selber war mit dem Resultat von 46 % hochzufrieden; zeigte sich über die Zahl der Zustimmenden beinahe erschrocken.
 
Dass Christoph Blocher, 1970 ein Gegner Schwarzenbachs, die Masseneinwanderungsinitiative lieber abgelehnt als angenommen gesehen hätte, ist eine Unterstellung und bedeutet vor allem, dass man Ja-Stimmer wie Sergio Giovannelli und unzählige andere, die ihre Meinung eher trotz Blocher an der Urne bekundet haben, keinen Augenblick ernst nehmen will. Das Thema bleibt wohl auch nach Schwarzenbach, Blocher und nach der Ecopop-Initiative, die als „Durchsetzungsinitiative“ zur Masseneinwanderungsinitiative verwendet zu werden droht, auf der Tagesordnung. Zu bedauern bleibt, dass besonnene Stimmen wie die von Karl Kloter, im Dokumentarfilm von Beat Bieri beeindruckend Peter Bichsel, in Lärm und Polemik unterzugehen drohen.
 
Wie ernst, um nicht zu sagen bitter, heute die Diskussion um Ecopop geführt wird, fiel mir als Beobachter einer privaten Diskussion im Bundeshauskaffee zwischen Geri Müller und Ecopop-Protagonist Benno Büeler auf. Es ging heftig zu und ziemlich bitter. Man spürte, dass im ökologisch engagierten Lager eine Art Bruderkrieg im Gange ist. Das Jahrhundertproblem spaltet nicht nur Schweizer Familien; gegenwärtig auch Parteien wie die SVP und die Grünen. Für die CVP, der ich die meiste Zeit meines Lebens nahe gestanden bin (Bruder einst Grossrat, Cousin früherer Generalsekretär) ist typisch, dass wichtige Fragen mit der Ausrede, man gehöre zur Mitte, selten ausdiskutiert werden. Dass FDP-Präsident Philipp Müller andererseits ohne das Thema „Ausländer“ gar nie in die Politik gekommen wäre, passt mit in ein politisches Porträt der Schweiz im Jahre 2014.
 
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Anhang zum Autor
Pirmin Meier (67), historischer Autor, u. a. „Ich Bruder Klaus von Flüe“, war als 17-jähriger Gymnasiast mit James Schwarzenbach bekannt, half im Kanton Aargau die „Republikanische Bewegung“ aufbauen, die er 1973 verliess. Sein damals publiziertes 14-seitiges Memorandum gegen Schwarzenbach wurde schweizweit bekannt und wird auch in der wissenschaftlichen Literatur zitiert. Ausserdem war Pirmin Meier mit dem Arbeiterschriftsteller Karl Kloter (SP) aus Lengnau AG verbunden, dessen Roman „Salvatrice“ (1969) das Dilemma von Schweizer Arbeitern mit südländischer Immigration nicht verleugnet.
 
 
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