Textatelier
BLOG vom: 25.10.2014

Die 7 Formen unseres Bewusstseins und wie sie wirken

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Norddeutschland
 
 
Laut Hans-Jürgen Pandel lassen sich 7 Formen des Geschichtsbewusstseins aufzeigen: Zeitbewusststein; Wirklichkeitsbewusstsein; Historizitätsbewusstsein, Identitätsbewusstsein; politisches Bewusstsein; ökonomisch-soziales Bewusstsein und moralisches Bewusstsein.
 
Wenn diese Formen wirken, lassen sie sich nicht ohne weiteres bewusst trennen. Sie vermischen sich, sind nicht immer präsent, sondern auch unbewusst. Inwieweit das Unterbewusstsein eine Rolle dabei spielt, ist nicht auszumachen.
 
Nach Eduard Spranger – ich beziehe mich auf seine Sitzungsberichte aus der preussischen Akademie der Wissenschaften von 1934, die er unter dem Titel „Die Urschichten des Wirklichkeitsbewusstseins“ veröffentlicht hat – wirken auch Urschichten mit. Er schreibt, unsere heutigen Formen des Denkens seien ein spätes, künstliches Entwicklungsprodukt, und unser Denken habe sich erst seit den alten Griechen so geformt. Jahrtausendelang habe die Menschheit anders gedacht. Er macht das vor allem am Wirklichkeitsbewusstsein, also dem Gefühl für das Reale und Fiktive, fest. Es würden sich aber archaische Denkformen als unüberwindbare und unentbehrliche Reste auch im heutigen Denken erhalten haben.
 
Wir müssen von 3 Urschichten im Wirklichkeitserkennen ausgehen, sagt Spranger: Vom ursprünglichen Identitätsbewusstsein (wer bin ich, wozu gehöre ich); dem universalen Ich-Du-Verhältnis und der Unterscheidung von Innerem und Äusseren. Ich bin das Subjekt und lebe in einer Beziehung zum Objekt. Dieses Verhältnis habe sich in unserem heutigen Denken geändert, es komme zu einer fortschreitenden Subjekt-Objekt-Trennung. Das Reale und Fiktive bewege sich dabei auseinander.
 
„Subjekt und Objekt könnten nicht zueinander kommen, wenn sie nicht in der Tiefe identisch wären.“ Beide kämen, so schreibt Spranger, aus demselben Urgrund.
 
Das klingt seltsam. Unser Identitätsbewusstsein trennt genau zwischen dem Ich und der Welt ausser mir, zwischen dem Realen und Fiktiven, zwischen mir und dem Weltgeschehen, zwischen meinem eigenen moralischen Empfinden und dem der Mitmenschen. Wir leben zwar in der Welt, aber wir interpretieren sie auch. Wir haben unsere eigene Vorstellung von der Vergangenheit und von der Gegenwart, so wie sie sich uns offenbart, so denken wir.
 
Wie können da das Subjekt, also das Ich und das Objekt, mithin das, was ich ausserhalb meines Ichs erkenne, identisch sein?
 
Einsichtig ist, dass ich nur so denke, wie ich denke, weil ich als Mitglied einer Familie, einer Gruppe, eines Volkes die Denkweisen mitbekommen habe, die mir seit der frühen Kindheit vermittelt worden sind, etwa die Moralvorstellungen, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der (Klein-)Gruppe, der direkten Umwelt und der Nation, das Wissen über die Vergangenheit und gegenwärtigen Lebenssituation meiner Gruppe und dem Wissen um die Endlichkeit meines Lebens.
 
Da ist aber mehr im Wirken der Urschichten. Es ist uns nicht anerzogen, es ist in uns. Es lässt sich an Erkenntnissen festmachen, die nicht der alltäglich erfahrenen Welt entstammen können.
 
Ich will einige Beispiele nennen. Das Neugeborene verbringt sein Leben überwiegend mit Schlaf. Der Schlaf wird täglich zu ihm gehören, etwa ein Drittel der Lebenszeit. Unser Bewusstsein schläft nicht. Träume und Empfindungen im Schlaf begleiten uns ein Leben lang. Kinder auf der Stufe der so genannten magischen Denkform trennen nicht von der perspektivischen Erlebniswelt, auch Aussenwelt genannt, und dem Erlebnisbewusstsein.
 
Für sie ist die Puppe ein lebendes Wesen, das kleine Mädchen ist die Prinzessin im Märchen selber. „Ich will keine ´zessin mehr sein!“ ruft meine 3-jährige Enkeltochter Johanna und stampft mit den Füssen. Sie identifiziert sich mit ihr, obwohl sie das Wort noch nicht aussprechen kann. Justus, mein Enkelsohn, war das Automobil, das er durch das Wohnzimmer fahren liess, selber.
 
Johann Gottlieb Fichte schreibt in seiner Schrift „Die Bestimmung des Menschen“, „dass wir bei dem, was wir Erkenntnis und Betrachtung der Dinge nennen, immer und ewig nur uns selbst erkennen und betrachten, und in allem unserm Bewusstsein schlechterdings von nichts wissen als von uns selbst und unsern eigenen Bestimmungen.“
 
Damit meint er nicht nur die Kinder, sondern jeden von uns. Die Welt dreht sich um mein Ich. Nicht nur ich baue Beziehungen zur Welt auf, sondern auch die Welt zu mir, die lebende und die tote, die reale und die unreale. Im Märchen spricht das Tier, aber was es sagt, ist nicht die Gedankenwelt des Tieres, sondern meine eigene.
 
„Ich umarme den Baum, ich fühle etwas.“
„Ich spreche zu meinen Blumen und deshalb gedeihen sie.“
„Ohne meinen Talisman, den ich immer um meinen Hals trage, fühle ich mich angreifbar, verletzbar. Nur mit ihm fühle ich mich sicher.“
 
Die Dinge sind Träger des Du-Charakters, gleichzeitig sind sie aber auch in mir. Meine Behausung schützt mich; sie ist wie meine eigene Haut. Mein Hund weiss, was ich denke und vorhabe, er ist ein Stück von mir! In diesem Sinne sagte der Wissenschaftler Helmholtz in seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag:
 
„Ich hatte meine Jugendanlage der geometrischen Anschauung zu einer Art mechanischer Anschauung entwickelt; ich fühlte gleichsam, wie sich die Drucke und Züge in einer mechanischen Vorrichtung verteilen, was man übrigens bei erfahrenen Mechanikern und Maschinenbauern auch findet.“
 
Das von mir bearbeitete Stück Holz, die von mir gebaute Maschine, das Dach, der Garten, den ich gestaltet habe, werden ein Teil von mir. „Ich habe mein Herzblut da hinein gesteckt! Viel Empfindung ist in die Sache geflossen, sie ist ein Teil von mir geworden.“ Das ist es, was damit gemeint wird.
 
Mein Identitätsbewusstsein, mein Bewusstsein der Wirklichkeit, mein Zeitbewusstsein fliessen zusammen in ein Urbewusstsein.
 
Auch wenn wir nichts Produktives oder Künstlerisches herstellen, dieses Urbewusstsein ist immer vorhanden. Sie sehen sich einen Film an und beginnen, so glauben Sie, mit der Protagonistin zu empfinden, so zu leiden wie sie. Wenn sie in Tränen ausbricht, weinen auch Sie, wenn sie triumphiert, jubeln auch Sie, wenn sie stirbt, trauern Sie. Es ist eine Verflechtung zwischen Ihnen, dem Subjekt, dem Betrachter des Films und dem Objekt, der Schauspielerin in der Verkörperung der dargestellten Person eingetreten, eine Identifikation.
 
Sie erleben im Traum, wie Ihre verstorbene Mutter zu Ihnen spricht, Ihnen Ratschläge gibt. Sie wachen auf, erinnern sich und Sie können gar nicht anders, als diese zu befolgen.
 
Es gibt unzählige Beispiele für solche Vorgänge. Wir müssen dazu gar nicht in die mythische Welt der Urvölker zurückgehen, zu den Ritualen und Beschwörungen, zu Voodoo und Trance. Es ist in jedem Einzelnen von uns.
 
Angelus Silesius, wie sich Johann Scheffler genannt hat, schrieb in seinen Epigrammen
„Man weiss nicht, was man ist.
Ich weiss nicht was ich bin.
Ich bin nicht, was ich weiss
Ein Ding und nicht ein Ding:
Ein Tüpfelchen und ein Kreis.“
 
„Sei mehr als ein Mensch.
Erkenne selber dich.
Wer sich erkennen kann,
trifft immer sich oft mehr als einen Menschen an.“
 
„Die Welt, die hält dich nicht:
du selber bist die Welt,
die dich in mir mit dir so stark gefangen hält.“ 
Die Fragen: „Wer bin ich?“ und „Was bin ich?“ erscheinen so in einem ganz anderen Licht.
 
Eduard Spranger, der zwischen 1882 und 1963 gelebt hat, bezog (und konnte es vermutlich auch nicht, weil sie teilweise noch nicht existierten) in der hier behandelten Schrift die Erkenntnisse der modernen Physik, die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, nicht mit ein.
 
Jörg Starkmuth meint in seinem 2010 erschienenen Buch „Die Entstehung der Realität - Wie das Bewusstsein die Welt erschafft“, dass diese Erkenntnisse unser Leben verändern. Er geht davon aus, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, sondern dass wir unsere Wirklichkeit mit unserer universellen Bewusstseinsstruktur selbst erschaffen, aus einem unbegrenzten, multidimensionalen Raum von Möglichkeiten. Er beschreibt, dass der Mensch bei allem, was er tut, die Grundbedürfnisse seiner Instinkte zu befriedigen sucht. Wenn er sich dessen bewusst ist, könne der sein Verhalten steuern, „selbst in die Hand nehmen“.
 
Das mag bei manchen Entscheidungen zutreffen. Dennoch, ich bin fest davon überzeugt, dass wir aufgrund unseres Urbewusstseins oft gar nicht anders können als so zu handeln, wie wir handeln.
 
 
Quellen
Pandel, Hans-Jürgen: „Dimensionen des Geschichtsbewusstseins – Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen“, in Geschichtsdidaktik 12,2 (1987), S. 130‒142.
Starkmuth, Jörg: „Die Entstehung der Realität Wie das Bewusstsein die Welt erschafft“, Verlag Goldmann-Arkana, München, 2010.
 
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