Textatelier
BLOG vom: 16.11.2014

Weinbergschnecke: Deckel zu, der Winter kann kommen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
 
In jungen Jahren habe ich gern die Weinbergschnecken und Bandschnecken beobachtet. Mit hochgestreckten Augenfühlern krochen sie im Schneckentempo vorwärts und hinterliessen Schleimspuren. Die Weinbergschnecke kann ihre Stielaugen unabhängig ausrollen und einziehen. Kommt der Winter, klappen sie ein Schalendeckel vor ihr Schneckenhaus und überwintern. In der Schweiz ist ihr Kalkgehäuse dickwandiger als in England. Die Amseln müssen härter pickeln, um an den Leckerbissen zu kommen.
 
Diese Kriecher sind kurzsichtig, und ihre Punktaugen vermögen angeblich nur zwischen Hell und Dunkel zu unterscheiden. Ob das stimmt oder nicht, das weiss ich nicht. Stossen sie auf ein Hindernis, ziehen sie ihre Augenfühler augenblicklich ein.
 
Die Weinbergschnecken paaren sich stundenlang und befühlen einander; dabei verwandeln sie ihre Augenfühler zu Tastfühler auf ihrer Partnersuche. Ein Vergleich mit dem menschlichen Sexgebaren liegt nahe.
 
Die Gärtner hassen die Schnecken, besonders wenn sich diese an Salaten gütlich tun. Die Zähnchen an ihren Zungen raspeln über Nacht die Salatköpfe ratzekahl. Mit Giftkörnchen oder Flaschenbier werden sie rabiat getötet. Mir genügt es, den Kopfsalat in Töpfen mit engem Plastikgeflecht gegen diese Eindringlinge abzudecken.
 
In Schneckenfarmen werden heute Weinbergschnecken für die Pfanne gezüchtet. In Frankreich geniesse ich hin und wieder die in Knoblauch eingebetteten „Escargots” (Schnecken) als Leckerbissen, mit Vorliebe von Wein begleitet.
 
Die schmucken Spiralen der Schneckenhäuser haben die Ornamentik und den Symbolismus in vielen Kulturen befruchtet. Diese Spiralen werden langsam während des Schneckenwachstums aufgestockt. In die Kurven des Gehäuses sind oft pigmentierte Bänder eingelassen. Ich sehe sie als Geländer, die sich einer Wendeltreppe entlang winden. Die Gemeine Gartenschnecke trägt ein solches Rundbogenmuster. Entwerfer von Schmuck, Tapeten und Stoffe haben solche Schneckenmuster aufgegriffen und variiert. Andere Anwendungsbereiche finden sich im Internet, etwa unterm Eingabetitel „Images for Schnecken Ornamentik”.
 
Hans Andersen hat den Schnecken, erinnere ich mich, ein Märchen gewidmet, betitelt „Die glückliche Familie”. In meinem Prachtband „Andersens Märchen”, 1900 vom Paul Neff Verlag, Stuttgart, veröffentlicht, habe ich dieses Märchen, anmutig von Hans Tegner illustriert, wiederum gelesen.
 
Hier raffe ich dieses Märchen stichwortartig:
 
Die glückliche Familie
Das herrliche Klettenblatt diente den Schnecken zur Speise. Aber im alten Herrenhof waren die Schnecken ausgestorben. Die weissen, schmackhaften Schnecken wurden allesamt gekocht. So gedieh und wuchs die Klette zur riesigen Hecke. Doch sie barg das letzte kinderlos gebliebene Schneckenpaar. Sie nahmen ein gewöhnliches Schnecklein auf und erzogen es wie ihr eigenes Kind. Diese Schnecke blieb klein und wollte nicht wachsen. Die Mutter jedoch befand, dass ihr Schnecklein wachse – und der Vater pflichtete ihr bei. Ein heftiger Platzregen trieb die Schneckenfamilie in ihre Häuser.
 
Doch das Schnecklein blieb klein. Es kam die Zeit, dass es eine Frau finden sollte. Das Paar erkundigte sich bei den Ameisen. Sie erwähnten ihre Königin, die in ihrem Ameisenschloss mit 700 Gängen lebte. Die Schneckenmutter wollte davon nichts wissen. Ihr Zögling gehört nicht in einen Ameisenhaufen.
 
So beschloss die Mutter, bei den Mücken nachzufragen, die das Klettenland am besten kannten. In einem Stachelbeerstrauch lebe ein Jüngferchen ganz allein und war so klein wie das Schneckensöhnchen. Dieses wurde zur Braut erkürt. Die Hochzeit fand statt, und die Mutter hielt eine rührend schöne Festrede.
 
Die Eltern hinterliessen dem kleinen Paar als Erbgut den ganzen Klettenwald beim Herrenhhof. Das Paar wurde mit vielen Kindern gesegnet. Die Herrschaft wollte keine kleine schwarz gekochte Schnecken essen, selbst nicht in silberner Schüssel serviert, und so vermehrten sie sich zur glücklichen Familie und genossen unbehelligt die leckeren Kettenblätter.
 
 
Hinweis
Diese Geschichte ist leicht im Internet auffindbar, zum Beispiel unter
 
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