Textatelier
BLOG vom: 21.11.2014

Vom Gedanken zum fertigen Text: -ieren ist menschlich!

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Haben Sie schon einmal Wörter „ge-iert“?
 
Die Buchstabenfolge „-ieren“ ist in der deutschen Sprache nicht selten.
 
Sie gibt es sowohl im Wortstamm als auch als Endung für Verben, die aus Nomen entstanden sind: „Lack – lackieren, Block – blockieren, Massage – massieren, Schock – schockieren, Spende – spendieren, Schmiere – schmieren“ und andere. Die Buchstabenfolge im Wortstamm ist nicht immer so einfach ableitbar. In dieser Jahreszeit kommt Frost vor. Viele Zeitgenossen frieren dann. Einen Verlust zu beklagen, heisst, es gab etwas zu verlieren.
 
Bei allen diesen Wörtern sprechen wir aber nicht von der Fremdwortendung „-ieren“. Wer das denkt, der „iert“, pardon: der irrt sich!
 
Ich wende mich den Verben zu, bei denen „-ieren“ ein Suffix ist. Sie sind oft, nicht immer, von Fremdwörtern abgeleitet, die in die deutsche Sprache eingeflossen sind. Es gibt sehr viele davon. Die entsprechenden Nomen enden häufig auf „-ion“ und „-ung“.
 
Fremdwörter haben es in sich, oft muss man sie definieren (von lat. definare, Bedeutung), oder sie werden in ganz unterschiedlichen Situationen benutzt.
 
Ein hübsches Beispiel ist das Verb „passieren“. Schon die Herkunft ist faszinierend: französisch passer, über das Romanische (vgl. italienisch passare) zu lateinisch passus.
 
Das Wort leitet sich vom Nomen „Pass“ ab.
Der (Reise-)pass: gekürzt aus passbrif, passport , frz. passeport = Geleitbrief, Passierschein, zu: passer = überschreiten (passieren) und port = Durchgang.
 
Der Pass zwischen 2 Bergen: frz. pas (vgl. italienisch passo, niederländisch pas), lateinisch passus = Schritt.
 
Der Pass, den ein Fussballspieler genau zu einem anderen spielt, ist englischen Ursprungs.
 
Der Pass, ein Weg durch den Wald, stammt aus der Jägersprache.
 
Für das Verb gibt es noch andere Möglichkeiten der sprachlichen Verwendung:
Es ist passiert, es ist geschehen: frz. passer.
 
Jeder Koch hat schon einmal etwas passiert, z. B. Spinat.
 
Der Tennisspieler passierte den Ball direkt am Gegner vorbei.
 
Und wenn ich eine Brücke, eine Grenze, einen Grenzposten hinter mich lasse, habe ich sie auch passiert.
 
Wie oft ich Wörtern mit dem Suffix „-ieren“ begegne, habe ich mir klar gemacht, als ich diesen kleinen sprachlichen Exkurs verfasst habe und mir bewusst geworden ist, welcher Weg vom Gedanken bis zum fertigen Text durchschritten oder passiert werden muss:
 
die Motivation motivieren (von frz. motiver, interessieren);
die Inspiration – inspirieren (von lat. inspirare, einhauchen);
die Information – informieren (von lat. informare, bilden, gestalten);
die Orientierung – orientieren (von frz. orienter, sich zurechtfinden, sich erkundigen);
die Recherche – recherchieren (von frz. rechercher, genauer aufsuchen);
das Exzerpt – exzerpieren (im 17. Jh. aus dem lat. excerpere, herauspflücken);
das Zitat – zitieren (von lat. citare, aufrufen, genau wiedergeben);
die Interpretation – interpretieren (von lat. interpretare, auslegen, erklären);
die Präzision – präzisieren (von frz. préciser, genauer beschreiben);
die Assoziation – assoziieren (von spätlat. associare, zusammenfügen, binden);
die Strukturierung – strukturieren (von lat. structura, zusammenfügen);
das Konzept – konzipieren (vom lat. Verb concipere, erfassen, verfassen);
die Edition – editieren oder edieren (lat. edere, herausgeben, ändern, bearbeiten);
die Redaktion redigieren (frz. rédaction, abfassen, einen Text in Ordnung bringen);
der Lektor – lektorieren (von lat. lector, [Vor-]Leser mit vielfältigen Aufgaben);
die Publikation – publizieren (lat. publica, veröffentlichen);
die Akzeptanz – akzeptieren (von lat. acceptare, annehmen);
die Prämierung – prämieren (von lat. Pretium, Lob, mit einem Preis auszeichnen);
die Zensur – zensieren (von lat. censere, beurteilen).
 
Schreiben übers Schreiben ist auch Schreiben, nur nicht so schön!“
 
(Manfred Hirsch, (*1926), deutscher Philosoph, Philologe, Lehrer, Journalist, Kinderbuchautor, Aphoristiker und Schriftsteller.
 
 
Quelle:
 
Hinweis auf weitere Blogs zur Sprache
 
Hinweis auf weitere Textatelier.com-Arbeiten zur Sprache
Hinweis auf weitere Blogs von Faber Elisabeth
Gebänderte Prachtlibelle
Neuntöter – ein Spießer unter den Vögeln
Schwarzblauer Ölkäfer oder Maiwurm
Marienkäfer als Mittel gegen Läuse
Der Kleiber – ein Hausbesetzer
Der Star in der Welt der Singvögel
Szenen aus dem Spatzenleben
Flatternde Farbenpracht
Erdmännchen wachsam und gesellig
Libellen – Die Kunst der Flugtechnik
Sumpf-Herzblatt, Lotusblume und ein fliegender Storch
Das Freiburger Münster aus meiner Sicht
Wunderschöne Aufnahmen von Pflanzen bei Frost
Tierbilder 2020: Ein durstiges Eichhörnchen, bedrohter Spatz
Wenn der Frost Pflanzen zauberhaft verwandelt