BLOG vom: 08.12.2014
Jurasüdfussliteratur und Gide, Revolutionär des Privatlebens
Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH
Unter den täglichen Blogs, die mein hochgeschätzter Weggefährte Walter Hess dieses Jahr unverdrossen und sorgfältig redigiert ins Netz gestellt hat, ist mir Emil Baschnongas Herbstbetrachtung „An der Pforte zu André Gide“ (20.10.2014) kostbar geworden. Nicht bloss, weil er in phänomenaler Kürze unerhört viel zu sagen wusste. Sondern weil mir dabei wieder einfiel, dass es eine „Fondation André Gide“ mit Sitz in Oftringen AG gibt. Und dass die Tochter von André Gide, eine der aussergewöhnlichsten Frauen, die am Jurasüdfuss lebte, am 20.04.2013, an ihrem Wohnsitz Olten verstorben ist.
An André Gide erinnert ausserdem, wenigstens indirekt, der 150. Todestag von Karl Postl, berühmt geworden unter dem Pseudonym Charles Sealsfield, der bei der St. Niklaus-Kirche Solothurn in unmittelbarer Nähe des Künstlers Frank Buchser und des Bundesrats Josef Munzinger aus der Gründungszeit des Bundesstaates begraben liegt. Postl und Gide haben nämlich wie im 20. Jahrhundert Stefan George und Heinrich Federer gemeinsam, dass sie, berühmtestes Beispiel bleibt Oscar Wilde, zu einer Zeit homosexuell waren, als dies noch streng verboten war. Aus heutiger Sicht müsste die sexuelle Orientierung – „pädophil“ ist übrigens auch eine von ihnen – nicht mehr speziell hervorgehoben werden. Als Literat erinnere ich jedoch gerne an den grossartigen Satz von Ernst Jünger, der es zur Zeit des Nationalsozialismus wissen musste: Zensur verfeinert den Stil. Wohl auch aus diesem Grund sind die homosexuellen Autoren aus der „verbotenen Zeit“ literarisch unerreicht.
Die genannten „Typen“ waren so oder so genial. Gide war neben Wilde vielleicht der genialste. Bemerkenswert an seiner Lebensgeschichte bleibt, dass seine Tochter Catherine ihr Dasein dem bewussten Entschluss von André Gide verdankt, trotz homosexueller Orientierung sich ein Herz zu fassen und einvernehmlich mit dessen Mutter ein Kind zu zeugen. Das klingt zwar auf den ersten Blick „unmoralisch“, was es aus der Sicht des Moralkritikers Gide jedoch nicht sein konnte. Im Sinne Platons war es sogar hochmoralisch. Platon, selber homosexuell, der jedoch mit dem Programm der Sublimierung („platonische Liebe“) forderte, Kinder nicht aus Wollust zu zeugen, sondern aus Verantwortungsbewusstsein der Polis gegenüber, heute würde man sagen, „aus staatsbürgerlicher Verantwortung“. Nur hatte es Platon so wenig wie André Gide mit „Staatskindern“. Das Menschenbild lief auf eine geistige Existenz hinaus. André Gide war auf seine Weise, ohne deswegen in der Art einer schrillen Homosexuellenszene Lärm zu machen, ein Revolutionär des Privatlebens.
Gides Tochter Catherine darf eine höchst gelungene, keineswegs unglückliche hochkultivierte Existenz – auch als Intellektuelle - nachgesagt werden. Zuletzt war sie mit dem Literaturprofessor Peter Charles Schnyder, der in Mulhouse lehrt, verheiratet. Ich füge im Folgenden den Lebenslauf von Catherine Gide an, wie er in www.portal-der-erinnerung.de von mir wiedergegeben wurde. Einen weiteren Nachruf der bedeutenden Frau habe ich für die „Weltwoche“ verfasst.
Catherine Gide, eigentlich Catherine van Rysselberghe, geboren am 18.04.1923 in Annecy, zuletzt wohnhaft gewesen in Olten (Kanton Solothurn, Schweiz), verstorben am 20.04.2013, war eine französische „Femme de lettres“, Autorin, vor allem aber Promotorin und Herausgeberin von Werken ihres Vaters, des französischen Nobelpreisträgers André Gide (1869–1951).
Der schweizerische Jurasüdfuss entlang der Kantone Aargau, Solothurn und Bern gilt als eine Region, wo eine beträchtliche Anzahl vor allem männlicher Schriftsteller Bedeutung erlangt haben. Im 20. Jahrhundert mit Nachwirkung bis heute waren und sind es etwa Carl Spitteler, Gerhard Meier, Otto F. Walter, Beat Jäggi, Jörg Steiner, Peter Bichsel, Hansjörg Schneider, Ernst Burren, Franz Hohler, Urs Faes, Alex Capus und noch andere. Der wohl bunteste Vogel der hiesigen Literaturszene war als gebürtiger Österreicher aus den Vereinigten Staaten zugeflogen: Carl Postl, mit Dichternamen Charles Sealsfield (1793–1864), begraben auf dem Friedhof St. Niklaus in Solothurn und nächstes Jahr für eine Würdigung zum 150. Todestag fällig.
Alle diese Autoren werden jedoch in ihrer weltliterarischen Ausstrahlung überragt von jenem Franzosen, zu dessen Andenken die „Fondation Catherine Gide“ mit Sitz im aargauischen Oftringen gegründet wurde. Deren Vorsitzende war bis vor kurzem Catherine van Rysselberghe-Gide, verheiratet mit Prof. Dr. Peter Charles Schnyder, der sich seinerseits um Ausstellungen und herausgeberische Tätigkeit betr. André Gide verdient gemacht hat, zum Beispiel in der zweiten Jahreshälfte 2012 in Luxemburg. Als Schüler von Pierre-Olivier Walzer (1915-2000), einem kulturhistorisch breit bewanderten Romanisten und Schriftsteller, war Schnyder wohl auch in seiner Eigenschaft als Literat für die Gide-Tochter als letzter Ehepartner ein Glücksfall.
Als bedeutendstes herausgeberisches Werk von Catherine Gide gilt die Erzählung „Le ramier“ (dt. „Die Ringeltaube“, dva 2006), erschienen 2002 bei Gallimard in Paris. Eine homoerotische Erzählung ihres Vaters, von der Tochter aus dem nicht edierten Teil des Nachlasses geborgen. Es handelt sich um die Geschichte eines Jungbauern, dem es gegeben war, wie eine Taube zu „ruchsen“. Nach Auffassung der Herausgeberin enthält die Erzählung nicht einen Hauch von Perversität. Vielmehr handle es sich um einen Ausdruck purer Lebensfreude, welche auf poetische Weise in ein sprachliches Kunstwerk umgesetzt worden sei.
Die Lebensgeschichte der Catherine van Rysselberghe, wie ihr ziviler Name lautete, hört sich ihrerseits an wie ein ziemlich moderner Roman. Dass André Gide ihr Vater war, scheint das Mädchen Catherine erst nach dem Tode von dessen Frau Madeleine Rondeaux (1938) erfahren zu haben; in dem Jahr, da sie vom bereits berühmten Autor als dessen uneheliches Kind anerkannt wurde. Gesetzlich wäre dies zu einem früheren Zeitpunkt gar nicht möglich gewesen. Zu jener Zeit hatte sich André Gide nach einer Reise nach Moskau vom Stalinismus losgesagt, was ihm von linker Seite lange übel genommen wurde.
Der als Homosexueller wenig glücklich verheiratete Gide hatte 1922 mit Elisabeth, der Tochter seines belgischen Malerfreundes Theo van Rysselberghe (1862–1926), einvernehmlich vereinbart, ein gemeinsames Kind zu zeugen. Der Entschluss entsprach der Lebensphilosophie des bekennenden „Immoralisten“ Gide, dessen Werke bekanntlich noch 1951, 190 Jahre nach Rousseaus „Emile“, von der römisch-katholischen Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurden.
Aufgewachsen ist die aus dieser Verbindung hervorgegangene Tochter Catherine hauptsächlich im südfranzösischen Saint-Clair, welches heute zur Gemeinde Le Lavandou (Côte d’Azur) gehört. Gide war auch später noch häufiger Gast der Familie van Rysselberghe. Gerne erteilte er seiner sechsjährigen Tochter Klavierstunden und las ihr „Märchen aus 1001 Nacht“ vor.
Catherine Gide, zu deren Leben einige schöne gemeinsame Fotos eine offenbar alles andere als missglückte Vaterbeziehung dokumentieren, war in erster Ehe mit dem bekannten französischen Germanisten Jean Lambert (1914–1999) verheiratet. Der Übersetzer von Thomas Mann in die Sprache von Balzac, Flaubert und Zola liierte sich jedoch schon 1952 mit der kanadischen Architektin Phyllis Bronfman, bekannt geworden als Phyllis Lambert, eine Ehe, die schnell wieder in die Brüche ging.
Wie der Lebenslauf von Catherine Lambert – so nannte sich Gides Tochter längere Zeit – an den Jurasüdfuss führte, müsste einer ausführlichen, wohl am besten von einer Frau zu verfassenden Biographie dieser „Femme de lettres“ vorbehalten bleiben, beruhend nicht zuletzt auf Gesprächen mit ihrem letzten Ehemann Prof. Dr. Peter Charles Schnyder, Bürger von Gampel-Bratsch und Steg-Hohtenn im Oberwallis. Vom faszinierenden Stoff her wären die Voraussetzungen gegeben, der von Männern verfassten „Jurasüdfuss-Literatur“ etwas europaweit Ausstrahlendes an die Seite zu stellen.
Das französisch-schweizerische Ehepaar widmete sich mit leidenschaftlichem Einsatz dem Andenken des Jahrhundertautors André Gide, der ein Jahr nach Hermann Hesse (1947) und ein Jahr vor dem denkwürdigen amerikanisch-britischen Katholiken Thomas S. Eliot mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Die „Archives- A. Gide SA“ mit rechtlichem Sitz in Oftringen und die „Fondation Catherine Gide“, ebenfalls in Oftringen domiziliert, sind der folgenden Ausrichtung verpflichtet:
„Die Stiftung bezweckt ohne Beschränkung auf geographische und sprachliche Grenzen das literarische und kulturelle Schaffen von Dr. h.c. André Gide (1869‒1951) der Nachwelt zu erhalten. Förderung von insbesondere talentierten jungen Doktoranden, Forschern und Essayisten. Unterstützung der Veröffentlichung wissenschaftlicher, literaturkritischer und literarhistorischer Arbeiten zu und über André Gide und seine Zeit sowie Unterstützung der Veröffentlichung von noch unveröffentlichten Texten, Dokumenten, Briefen, usw., insofern dies dem Allgemeininteresse entspricht.“
In ihren letzten Lebensjahren soll sich Catherine Gide nebst ihren literarischen und musischen Perspektiven um die Botanik in der Schweiz interessiert haben. Dies schaffte wiederum einen Bezug zu ihrem Geburtsort Annecy in Savoyen, wo seinerzeit Rousseau der Madame de Warens begegnet war und mit ihr zusammen begeistert botanisiert hatte. Genauso wäre wohl die Erweckung von André Gide zum Schriftsteller seiner Statur ohne die in ihrer Bekenntniswut unübertroffenen „Confessions“ von Jean-Jacques Rousseau undenkbar geblieben. Als einziges Deutschschweizer Landstädtchen kommt übrigens bei Rousseau Solothurn zu Ehren.
Während der historisch bestbemerkte Homosexuelle unter den Autoren am Jurasüdfuss, Charles Sealsfield, seine letzte Ruhe in Solothurn gefunden hat, liess sich die Stellvertreterin von André Gide auf Erden an der Côte d’Azur beisetzen. Die sterblichen Überreste von Catherine Gide ruhen an der Seite der Gebeine ihrer Grosseltern, Théo und Maria van Rysselberghe, in einem Familiengrab der Gemeinde Le Lavandou (an der französischen Mittelmeerküste).
Die Todesanzeige schmückte ein Zitat von André Gide: „Nathanaël, je t’enseignerai la ferveur“ – Nathanael, ich werde dich Neigung, Lieb‘ und Anbetung lehren. Falls ein Doktortitel der Sehnsucht je verleihbar gewesen wäre, André Gide und seine Tochter hätten ihn verdient.
Hinweis auf Emil Baschnongas Blog über André Gide
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