Textatelier
BLOG vom: 29.12.2014

Das eifersüchtige Biest und das Ende eines alten Mannes

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Das Adagio des 5. Klavierkonzerts von Ludwig van Beethoven schallte durch das Haus. Er liebte es schon seit vielen Jahrzehnten. In seinem Haus konnte er die Musik so laut machen wie er wollte. Er lebte alleine, für ein kurzes Intervall allein.
 
Er hatte sich mit seiner Lebensgefährtin zerstritten. Wieder war es ihre krankhafte Eifersucht. Immer, wenn er von seiner verstorbenen Frau sprach, ging seine Partnerin hoch. Ihr zuliebe hatte er sogar den Kontakt zu seiner Tochter abgebrochen; sie duldete kein anderes Wesen in seiner Nähe. Sie beherrschte ihn schon seit 7 Jahren. Es gab Zeiten, da konnte und wollte er nicht mehr. Dann wehrte er sich. Sie drohte immer, ihn allein zu lassen, und er gab klein bei. Das letzte Mal bestand er darauf, er wolle seine Tochter Maria und seinen Schwiegersohn zu Weihnachten einladen. Sie schrie und tobte. Er sagte: „Dann kannst du ja gehen!“ Sie antwortete: „Dann gehe ich sofort!“ „Dann geh’ doch!“, kam aus seinem Mund. Einfach so. Direkt danach bereute er, es gesagt zu haben. Aber da war sie schon dabei, ihren Koffer zu packen. Er liess sie gehen.
 
Am Nachmittag rief er seine Tochter an und erzählte ihr, dass es aus sei. Ob er zu Weihnachten und Neujahr zu ihr kommen dürfe. Sie sagte zwar zu, aber er spürte in ihrer Stimme, dass sie nicht besonders erfreut darüber war. Er konnte sie sogar verstehen. Sie musste ziemlich gelitten haben, schliesslich hatte er sie verleugnet, schändlich verraten. „Sein Mädchen“ hatte ihn nämlich lieb und ihm seine Liebe besonders nach dem Tod der Mutter gezeigt. Er hatte Angst davor, die Feiertage allein in seinem Haus verbringen zu müssen.
 
Schweren Herzens entschloss er sich, seine Lebensgefährtin anzurufen. Wieder entschuldigte er sich, war damit einverstanden, nur mit ihr Weihnachten zu feiern. Am Samstag, also in 6 Tagen, wollte sie wieder zurückkommen. Sie war bei einer Schwester untergekommen, und die wollte sie nicht sofort wieder verlassen. Er war sich nicht sicher, ob es nicht auch Rache von ihr war, weil er nicht sofort ihren Willen akzeptiert hatte und ihn deshalb warten liess.
 
Nach dem Gespräch hatte er einen Schwächeanfall. Er stürzte und stiess mit seinem Kopf an die Kante des Küchenschranks. Es tat höllisch weh, und er fühlte, wie die Beule wuchs und sah im Spiegel, wie ein grosser roter Fleck erschien.
 
Er rief seine Tochter an und sagte, es sei wieder alles in Ordnung. Sie komme zurück. Er erzählte ihr von dem Sturz. Seine Tochter sagte ihm, es sei besser, wenn er zum Arzt gehen würde. Er verharmloste. So schlimm sei es doch nicht. Das Gespräch war kurz. Er spürte den Kloss im Hals seiner Tochter.
 
Das Adagio schallte in seinen Ohren. Langsam stieg er die Treppe empor. Fast wäre er oben angekommen gewesen, da wurde ihm schwindelig. Seine Füsse rutschten aus, und er fiel hart auf die Treppe. Das Rondo des Klavierkonzerts begann. Auch in seinem Kopf ging alles rund. Es hämmerte in ihm im Takt der Musik. Er fühlte, wie seine Sinne schwanden. Sein Urin rann ihm am Bein entlang. Dann verlor er sein Bewusstsein.
 
Noch einmal kam er zu sich, starrte auf das Treppengeländer und wollte schreien. Aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Er dachte an seine Tochter, dann an seine Freundin. Dunkel umgab ihn.
 
Er sah ein Licht, und dann schwebte er über seinem Körper. Bis auch diese Erscheinung verging.
 
Am folgenden Tag hatte seine Tochter Besuch von Freunden. Sie erzählte ihnen, dass ihr Vater den Streit mit der Lebensgefährtin beendet habe und doch Weihnachten nicht mit Tochter und Schwiegersohn verbringen wollte. Sie wusste, sie waren nicht willkommen, wenn „das Biest“, so nannte die Tochter sie, bei ihm war.
 
So vergingen die Tage. Es war normal, dass Tochter und Vater nur sporadisch, etwa 1‒2 mal in 2 Wochen, am Telefon miteinander sprachen. Er durfte das nur zu den Zeiten, an denen die Partnerin nicht anwesend war.
 
Und der Geist des alten Herrn schwebte über dem Leichnam, der, nachdem die Leichenstarre sich wieder gelöst hatte, langsam in Verwesung überging. Die Heizung lief auf Volltouren, denn im Winter fror er immer jämmerlich. Leichengeruch legte sich auf alles im Haus.
 
Irgendwann einmal, wohl vor einer längeren Reise, die die beiden miteinander unternahmen, hatte er einen Lichtschalter installiert, der das Licht ab der Dämmerung und bei Dunkelheit unregelmässig für einige Stunden ein- und ausschaltete. So dachten Passanten, die auf dem Bürgersteig vorbei liefen, dass jemand anwesend sein musste. Auch die Nachbarn schöpften keinen Verdacht. Sie lebten für sich, denn mit ihr war „nicht gut Kirschen essen“, und er war immer brummig und unnahbar.
 
Einige Tage darauf kam, wie jedes Wochenende, die polnische Putzfrau. Sie war schon lange seine Putzfrau, hatte einen Schlüssel. Sie steckte ihm immer heimlich, wenn es die Lebensgefährtin nicht sah, eine kleine Flasche Wodka zu, die er in seiner Hosentasche verschwinden liess.
 
Die Lebensgefährtin duldete sie, schliesslich musste sie dann nicht selber sauber machen, und sie war nur 2 Stunden pro Woche im Haus.
 
Die Putzfrau schloss die Tür auf und schreckte zurück. Der unerträgliche abstossende Leichengeruch durchdrang alles. Sie erkannte die Beine des alten Mannes oben an der Treppe. Sie schloss die Tür und rief den Notdienst an.
 
An diesem Tag erhielt die Tochter unerwarteten Besuch von 2 Polizeibeamten. Als sie an der Tür klingelten, überlegte sie zuerst, ob sie mit dem eigenen Auto etwas angestellt hatte. Die Polizisten baten, ins Haus kommen zu dürfen. Dann forderten sie die Tochter und den Schwiegersohn auf, sich zu setzen. Sie fragten, wann sie den Vater zum letzten Mal gesehen oder mit ihm telefoniert hatten. Bei einem ungeklärten Todesfall sei es üblich, den Leichnam zu obduzieren, um eine Gewalttat ausschliessen zu können. Die Polizisten rieten streng davon ab, den Toten noch einmal sehen zu wollen, so stark war die Verwesung fortgeschritten.
 
Ein paar Stunden nach dem Besuch rief die Lebensgefährtin bei der Tochter an. Sie konnte und wollte es nicht glauben, was sich ereignet hatte. Sie hatte zwar mehrmals versucht, ihren Partner telefonisch zu erreichen, aber sich nichts dabei gedacht, als sie ihn nicht ans Telefon bekommen konnte. Sie war in ihrem fortgeschrittenen Alter leicht dement und vergass schnell, was sie kurz vorher getan hatte.
 
Es dauerte 2 Wochen, bis die Behörden den Leichnam freigaben. Der Staatsanwalt sah von einer Obduktion ab. Es gab keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod.
 
Es entstanden noch einige Meinungsunterschiede mit der Partnerin des Verstorbenen, die die kleine Abschiedsfeier nach ihren Vorstellungen gestalten wollte. Das lehnte die Tochter aber aus verständlichen Gründen ab. So teilte sie der alten Dame den Termin der Einäscherung zuerst nicht mit. Sie wollte sie nicht dabei haben. Wenigstens die letzte Ehre sollte nicht durch die Anwesenheit „dieses eifersüchtigen Biestes“ gestört werden.
 
Wenige Tage vor Weihnachten, fast 3 Wochen nach Eintritt des Todes, war der Tag der Einäscherung gekommen. So tragisch es auch war, im Grunde hatte der Vater sich ein schnelles Ende gewünscht. Der Gedanke, in ein Altersheim zu kommen, lange zu leiden oder dahin vegetieren zu müssen, hatte ihn geängstigt.
 
Die Trauerfeier war schlicht. Seine Tochter war sicher, dass er es so gewollt hätte. Und die wundervollen Klänge der Musik Beethovens ertönten und wurden zu einer bleibenden Erinnerung an ihren Vater. Die Lebensgefährtin war dennoch gekommen, verschwand aber danach wieder. Zum Beerdigungskaffee ging sie nicht mit. Sie spürte wohl die eisige Kälte, die von der Tochter zu ihr hinüberwehte. Danach erst begann die Trauer so richtig, die beide unabhängig voneinander spürten. Dem Verblichenen ging das nichts mehr an. Er hatte sein Leben gelebt, mit allen seinen Höhen und Tiefen, richtigen und falschen Entscheidungen, und daran war nichts mehr zu ändern.
 
 
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