BLOG vom: 03.02.2015
Der überforderte Daniel. Wie sich ein Talent entfaltet
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Daniel wuchs in einer gutbürgerlichen Familie in einer mittelgrossen Stadt auf. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern entwickelte er sich langsam. Es dauerte lange, bis er sich auf seinen Beinen fortbewegen konnte und rutschte noch als Einjähriger auf dem Bauch durchs Haus. Besorgte beobachteten dies seine Eltern. So begann sein Leben als Sorgenkind in einer ehrgeizigen Familie. In der Primarschule sass er auf der hintersten Bank. Dort liess ihn sein Lehrer in Ruhe sitzen. Das ABC bewältigte Daniel später als seine Mitschüler. Und das Rechnen bereite ihm Kopfzerbrechen. Völlig unbemerkt blieb seine Begabung im Zeichnen.
Sein Vater half ihm bei den Hausaufgaben. „Reiss dich doch zusammen”, herrschte er Daniel immer wieder an. „Lass ihn doch in Ruhe”, schaltete sich seine Mutter dazwischen. Nach und nach gab der Vater seine Mühen auf. Immer häufiger blieb Daniel sich selbst überlassen. Nachtsüber weinte er unter seiner Bettdecke. Sein Leben war freudlos, und er hatte weder Freunde noch Spielgefährten. Im Garten hob er die Steine und verfolgte das Gewimmel der Ameisen oder wässerte die Blumen mit seiner kleinen Spritzkanne. Das lenkte ihn von seinem Elend ab. „Früher oder später wird ihm der Knopf schon aufgehen”, wandte sich seine Mutter an den Vater, was nur dessen Schulternzucken auslöste. Diesen Satz hatte Daniel zufällig aufgeschnappt. Er gab ihm zu denken. Er verglich sich mit einer Blütenknospe, die sich früher oder später entfalten werde. Sein niedergewalztes Selbstgefühl begann sich allmählich aufzurichten.
Im Botanischen Garten beobachtete Daniel gern die Gärtner bei ihrer Arbeit. Eines Tages fasste er Mut und wandte sich an einen Gärtnerburschen. Er wollte erfahren, wie man Gärtner wird und ob er ihm dann und wann bei seiner Arbeit helfen dürfe. Lachend und geschmeichelt willigte der Bursche ein. Damit war erstmals in Daniels Leben der Ansatz zur Freundschaft gelegt. Eifrig spatete er mit der Schaufel und setzte eine Hacke ein, bis ihm der Schweiss über die Stirne floss, und bettete Pflanzen in die Beete. Dabei lernte er während der Sommerferien die Namen der Pflanzen, einen um den anderen, und ihre Eigenarten offenbarten sich ihm. Daniels Wissensbegier war erwacht mitsamt Leselust, beschränkt auf Bücher über die Gartenpflege.
Dieser Wandel entging seinen Eltern nicht. Vielleicht lässt sich daraus die weitere Ausbildung ihres Sohnes ableiten. „Wer weiss, vielleicht wird aus ihm sogar ein Biologe ...”, meinte sein Vater hoffnungsvoll. „Übertreibe nicht!”, mässigte seine Mutter die väterliche Zuversicht. „Zuerst muss er die Pflichtjahre in der Schule hinter sich haben” fuhr sie fort. „Und ohne Latein wird er kein Biologe … und das Gymnasium ist dein und wohl nicht Daniels Wunschtraum. Wir müssen in seinem Interesse Vernunft walten lassen.”
Im Leben kommt es immer wieder anders als erwartet. So auch diesmal. Daniel hatte sich, wie man sagt, in der Primarschule durchgemausert. Fürs Gymnasium war Daniel weder geeignet, noch spürte er ein entsprechendes Bedürfnis. Ein ganz anderes Talent reifte unbemerkt in Daniel: sein Talent zum Malen in Aquarell. Der Sommer war längst dem Winter gewichen. Daniel suchte regelmässig die Treibhäuser des Botanischen Gartens, mit Skizzenbuch gewappnet, auf und malte beflissen die Kakteen und andere exotische Gewächse. In der lokalen Gewerbeschule besuchte er in seiner Freizeit Zeichenkurse. Dort wurde sein Malgeschick erkannt. Das ebnete ihm schliesslich als 18-Jähriger den Weg zur Kunstakademie. Daniel war überglücklich. Er wurde u. a. auch in der Porträt- und Landschaftsmalerei ausgebildet und gewann verschiedene Auszeichnungen.
Sein Vater war beeindruckt und stolz auf seinen Sohn, so sehr, dass er Daniel ein Studio in der Altstadt einrichtete. Dann und wann stellte Daniel seine Werke in Galerien aus und verkaufte seine Bilder und gewann Aufträge. Er besuchte Kunststädte in Italien und war den Meistern der Renaissance zugetan. Seine Vorbilder erweiterten sich und erstreckten sich auf Käthe Kollwitz, J.M.W. Turner, Giovanni Sergantini, Jean-François Millet und Bernard Buffet.
Daniel war kein Kopist. Er entwickelte unabhängig seinen eigenen Stil. Langsam aber sicher erhielt er erste öffentliche Aufträge in seiner Heimatstadt. Daniel pflegte weiterhin seine Freundschaft mit dem Gärtnerburschen Edouard, der inzwischen den Posten des Stadtgärtners erhalten hatte. Daniel übertrug seiner Schwester Ida die administrativen Belange, wofür er wenig Lust noch Zeit übrig hatte. Wiewohl weiblicher Schönheit nicht abhold, blieb er ein Junggeselle. Seine Treue galt einzig seiner Kunst.
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