BLOG vom: 25.02.2015
Menükarten: Schmausender Kannibale und das Deutsch
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
Heute untersuche ich das 3-Gang-Menü auf einer Speisekarte im Restaurant ...
„Rapunzelsalat
Zigeunerschnitzel mit Bauernomelette
Mohrenkopf.“
… unter Aspekten der Semantik und Semiotik. In der Semantik geht es um die Beschreibung von Bedeutungen, die Semiotik ist die Lehre von Zeichen.
Was sind Zeichen? Wir kennen Schriften als eine Form, die für etwas anderes eintritt, z. B. Buchstaben, die zu Wörtern zusammengesetzt werden und die stellvertretend für einen Wirklichkeitsausschnitt stehen. Wenn ich ein Bild oder das Gericht vor mir sehe, und ich habe eine Erinnerung daran, was ich sehe, mache ich mir eine Vorstellung und denke „Schnitzel“, wenn ich das geschriebene Wort sehe, kann in meinem Gehirn aus der Buchstabenfolge heraus die Vorstellung „Zigeunerschnitzel“ entstehen:
„Ich nenne die Verbindung der Vorstellung mit dem Lautbild das Zeichen" (Ferdinand de Saussure).
Die Vorstellung (nach de Saussure) entsteht als „reziproke Evokation“ wechselseitig „mit gegenseitiger Hervorrufung.“
Die Verbindung der Gegenstände mit der Bezeichnung führt uns zur Semantik.
Beim obigen Speisezettel haben wir es mit Wörtern zu tun, die, aus 2 Morphemen zu einem Kompositum zusammengesetzt, auch selbstständig vorkommen können.
So stelle ich mir unter „Rapunzel“ das Mädchen im gleichnamigen Märchen vor. Unter „Salat“ kenne ich im deutschen Sprachgebrauch unterschiedliche Formen, etwa grünen Salat oder Kartoffelsalat (im Englischen „lettuce“ oder „salad“).
Der Begriff „Zigeuner“ fällt unter die Kategorie „unkorrekter Wörter“, da die Bezeichnung für Menschen diskriminierend sein könnte, sie gehören bestimmten Volksstämmen an, wie z. B. Sinti oder Roma. Bei „Schnitzel“ erinnere ich mich an die „Schnitzeljagd“ mit Schnitzeln aus Papier, die im Wald verteilt wurden, mit der Aufgabe, den Weg und bestimmte Verstecke aufzuspüren. Andererseits kenne ich natürlich verschiedene Arten von Schnitzel aus Fleisch: Jägerschnitzel, Wiener Schnitzel und andere.
Bauer ist eine inzwischen negativ belegte Berufsbezeichnung, ersetzt durch den Begriff Landwirt, aber gleichzeitig kann man sich darunter auch einen Vogelkäfig vorstellen.
Ich habe es mir noch verkniffen, die „Bauernomelett“ (in Deutschland: „das Bauernomelette“) zur „Bauerneierspeise“ zu machen, denn die Speise besteht bestimmt nicht aus Eiern vom Bauern, oder doch?
Das Wort Mohrenkopf fällt ganz unter die Kategorie der politisch inkorrekten Wörter. Ursprünglich kamen die Mohren aus Mauretanien, dann aus Äthiopien, dann waren es „schwarze Mohren“, ein Pleonasmus, denn es wurden nur Menschen mit dunkler Hautfarbe so benannt. Heutzutage wird der Begriff als rassistisch diskriminierend angesehen. Aber: Was hat der Mohrenkopf als Gebäck, das von Leipziger Bäckern Ende des 18. Jahrhunderts kreiert und in dieser Zeit auch „Indianer Krapfen“ genannt wurde, mit dem Kopf eines Farbigen zu tun? Das Urrezept lautete so:
„Es wurden Zucker mit Eidottern zu dickem Schaum geschlagen und der feste Schnee aus Eiweiss sowie Weizen- oder Kartoffelmehl hinzu gemischt. Kleine runde Häufchen dieser Masse wurden rasch auf Papier gebacken, je zwei mittels aufgestrichener Marmelade zusammengesetzt und in eine Schokoladen-Glasur eingetaucht.“
Ich denke an alte Zeiten und erinnere mich an die Märchen Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Der kleine Däumeling, Blaubart, Dornröschen der Gebrüder Grimm und an den Massenmörder Haarmann und den 1982 verurteilten Johann Georg Kroll, die allesamt in Verbindung mit Kannibalismus stehen, geniesse das Menü und frage mich, wie sie wohl schmecken würden, Rapunzel als Salat, ein Zigeuner als Schnitzel, die Hoden vom Bauern und der Kopf eines Mohren…
Aber nur ganz kurz, denn der Koch hat ausgezeichnete Arbeit geleistet, und das Mahl schmeckt zusammen mit einem Burgunderwein („rot wie Blut“) hervorragend!
Quellen
Hinweis auf ein weiteres Blog mit Erwähnung einer Menükarte
Mehr Blogs zur Sprache
29.07.2005: Oft stört mich das Wort „verkaufen“
26.02.2005: Die unsägliche Mühe mit der Ich-Form
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