Textatelier
BLOG vom: 16.03.2015

Sondermüll-Geschichten: belogen, betrogen und eingelullt

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH

Die Sondermülldeponie Kölliken SMDK wird in diesen Jahren abgetragen, wie ein Auflauf aus dem Backofen, Löffel für Löffel, Schaufel für Schaufel. In absehbarer Zeit wird nur noch die Riesenhalle übrigbleiben, deren abschüssiges Flachdach von Halbbögen getragen wird. Wahrscheinlich wird auch diese Variante einer Kathedrale das Zeitliche segnen, wenn man sie nicht als Lagerraum nützen will. Doch der undichte Boden über dem Suhrental-Grundwasserstrom wird eine solche Weiterverwendung nicht zulassen. Der Schutzbehälter könnte höchstens als Mahnmal an die schrägen Zeiten des gedanken- und sorglosen Umgangs mit Chemiegiften dienen, an damals, als das Volk in seinem aus dem vormaligen umweltschützerischen Tiefstschlaf erwachte und zu den Brutstätten des radioaktiven Abfalls abkommandiert und abgelenkt wurde, mit tatkräftiger Unterstützung der Basler Chemischen. Das fand an keiner Fasnacht auch nur den Hauch einer Erwähnung.
 
Als betagter Mensch hofft man auf nachfolgende, intelligentere, einsichtigere, jüngere Generationen. Und diese meine Hoffnung hat sich für einmal erfüllt. 4 Aarauer Kantonsschülerinnen, Livia Ackle, Milena Hunziker, Carmen Knüsel und Esther Sandmeier von der Klasse G3B der Alten Kantonsschule Aarau, haben in einer persönlichen, mit exakten Quellenangaben versehenen Arbeit, die beinahe wissenschaftlichen Kriterien genügt, die Geschichte der SMDK aufgerollt: „Sondermülldeponie Kölliken – Ein totgeschwiegenes Problem.“ Die Arbeit, die mir leider nur auszugsweise vorliegt, vermittelt einen guten Überblick über die damaligen, verdrängten Vorgänge.
 
3 mögliche beziehungsweise unmögliche Standorte standen für eine grossangelegte Mülldeponie theoretisch zur Auswahl: der leere Steinbruch in Mellikon, der aus Gewässerschutzgründen nicht in Frage kam, die Tongrube in Küttigen, die aber vor der 3. Möglichkeit, der Tongrube der Tonwerke Keller AG in Kölliken kapitulieren konnte. Selbst der Kölliker Bezirkslehrer Peter Diem machte sich in selbstloser Weise für den Lagerort Kölliken stark; er verfolgte dann aber die Einlagerung kritisch.
 
Den Kölliker Dorfbewohnern kam das Auffüllen des grossen Lochs (400 000 m3), eine Wunde in der Landschaft am oberen Dorf-Ende, zupass. Sie waren dahingehend informiert, dass es sich einfach um Kehricht handeln würde; der tolerante Gemeinderat erklärte sich mit einem geringen Sondermüll-Anteil einverstanden.
 
Mehrere Fachleute waren zum grandiosen Fehlurteil gelangt, die Grube sei dicht, und es kam ihnen nicht im entferntesten in den Sinn, dass sich das Loch, wäre es tatsächlich dicht gewesen, allmählich durch den Regen aufgefüllt hätte und überlaufen wäre – Richtung Grundwasser. Wohin denn sonst? Auch die Möglichkeit, dass aggressive Chemikalien mit Ton reagieren und die Dichtigkeit beeinträchtigen, vergassen die Experten halt. Die Erkenntnisse wurden aus rudimentären geologischen Messungen gewonnen (genauere Messungen gab es erst nach der Grubenschliessung am Ende der 1990er-Jahre). Das Gelände sollte seine ursprüngliche Form zurückerhalten und wieder landwirtschaftlichen Zwecken oder als Bauzone dienen können. So wurde die Grubenauffüllung zu einem Aspekt des Landschaftsschutzes geadelt, obschon der Lagerort ähnlich unbrauchbar wie die Experten war.
 
Als die Schleuse offen war, rollte der Sondermüll an, teilweise in undichten, jedenfalls bald durchrostenden Fässern. Diese Giftabgänge sind natürlich auch eine Form von Kehricht, wenn auch einer solche von der hochproblematischen Sorte. Die tüchtigen Mannen von der Feuerwehr Kölliken hatten alle Rohre voll zu tun, die selbstständig entstehenden Grubenbrände zu löschen.
 
Das Sondermülldeponie-Konsortium zahlte 6 CHF pro Kubikmeter eingelagertem Abfall an die Grubenbesitzerin, die Tonwerke Keller AG, die keine Verantwortung mitzutragen hatte. Erst 1994 kaufte das Konsortium das Deponiegelände auf. Das Geld hatte sich aus den 30 bis 60 CHF zusammengeläppert, die pro Kubikmeter Abfall zu zahlen waren, eine attraktive Lösung für die Industrie.
 
Die Basler Chemische Industrie BCI besteht nicht nur aus Novartis und Roche, sondern auch aus der entschwundenen Ciba-Geigy (heute: Novartis-Bestandteil), der Säurefabrik Schweizerhalle und verschiedenen weiteren Chemie- und Pharmaunternehmen mit ihren wechselvollen Geschichten im Fusionszeitalter. Kölliken löste ihr Abfallproblem, bis wegen der zunehmend deutlicher zutage tretenden Grundwasserverseuchung der Gemeinderat Kölliken die Notbremse ziehen musste.
 
Damals war Gerhard Vogel Gemeindeammann in Kölliken. Laut dem Schülerinnen-Bericht sagte er (2014): „Das Ganze war ein schleichender Prozess. Die Fachleute haben uns eingelullt, und sie sagten, dass jeder Kubikmeter, der in dieser Sondermülldeponie nicht für Sondermüll genutzt werde, verschwendet wäre.“ Das war nur ein Aspekt der auf Lug und Trug fussenden Tragödie, die mit der Deponiebewilligung am 24.05.1976 begonnen hatte. Das Wort „Sondermüll“ wurde laut der damals in Kölliken wohnhaften Hertha Schütz-Vogel, welche die Sache ins Rollen brachte, amtlicherseits mit der fadenscheinigen Begründung umgangen, dass die (offensichtlich für dumm verkauften) Bewohner ohnehin nicht verstanden hätten, was damit gemeint sei.
 
Diese intellektuell unterschätzten Bewohner beobachteten immerhin, dass nach der offiziellen Deponieeröffnung (16.05.1978), die ich persönlich mitzuerleben das Missvergnügen hatte, nicht allein schweizerische, sondern auch deutsche und italienische Lastwagen anrollten und sich in der SMDK erleichterten. Der Bevölkerung schwante Übles, und eine Welle des Protests türmte sich so hoch auf, dass das Aargauische Gewässerschutzamt (unter der Leitung von Dr. Erwin Märki unter dem Verharmloser-Regierungsrat Dr. Jörg Ursprung) einsehen musste, dass die Kölliker keine fremdländischen Lastwagen mehr sehen wollten. Statt diesen internationalen Sondermülltourismus abzustoppen, wurde in Aarau eine besonders schlaue Lösung ausgeheckt. Laut Gerhard Vogel organisierte „der Kanton“ eine Umladestation ennet des Juras, in Herznach im Oberfricktal, oder aber die Gifte kamen während der Nacht an. Im Übrigen wurden die Giftabfälle aus dem Ausland, mit denen Kölliken beglückt werden sollte, jetzt auf Lastwagen mit dem CH-Kennzeichen umgeladen und auf diese Weise in einem Schnellverfahren eingebürgert.
 
Die Entsorgungsmanie uferte aus. 1978 wurde im Kölliker Grubenareal ein Ölschlammbecken errichtet, ob schon im Pflichtenheft festgehalten war, dass keine flüssigen Abfälle eingelagert werden dürften. Der Gemeinderat drohte die Schliessung an, wenn keine Abhilfe geschaffen werden sollte. Das Becken wurde deshalb wieder entfernt.
 
Industrieabfälle müssten im Prinzip von den Produzenten bewältigt werden; sie kennen das Material genau und haben dementsprechend die besten Voraussetzungen für einen umweltschonenden Umgang. Der unbeholfene Staat, der sich bei verwedelten Verantwortlichkeiten mit irgendwelchen Tricks durchwurstelt, ist in solchen Fragen ein Dilettant, denn die Beamteten und ihre Vorgesetzten sind nicht immer nach ihren Fähigkeiten, ihrem Wissen, auserwählt worden.
 
Ein ähnliches Trauerspiel wie in Kölliken, auch was das Ausmass anbelangt, zeichnet sich im nahen Walterswil SO ab, wo unter einem hanglagigen Jungwald im Gebiet Rothacker, an grundwassergefährdeter Lage also, eine Riesendeponie ihre geheimnisvollen Reaktionen vollzieht. Zuerst wird einmal weggeschaut, eine Alibimassnahme vollzogen (Mauer hangseits vor dem Schöpflerbächli), und gehofft, dass diese Sache nicht auffliegen wird.
 
Unsere nachfolgenden Generationen, denen wir nach einem schmutzigen Wachstum nach neoliberalen Grundsätzen Schulden und eine lädierte Biosphäre hinterlassen, werden viel zu tun haben. Es ist gut, wenn sie sich, wie die erwähnten Kantischülerinnen, frühzeitig damit auseinandersetzen, um all den Unfug, den eine unkontrollierte Fortschrittseuphorie im Schlepptau hat, zu erkennen und Notbremsen zu ziehen, wo die Vernunft durch Tricksereien ausgeschaltet werden konnte.
 
 
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Beschreibung der Sondermülldeponie
 
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