Textatelier
BLOG vom: 10.03.2005

Dank Hans Bernoulli: Häuser, Gärten und Freiräume

Autorin: Rita Lorenzetti

Die kleine Noa aus dem Nachbarhaus bezaubert mich. Knapp 3-jährig, ist sie schon eine Persönlichkeit. Ich kann ihr von meinem Küchenfenster her zuschauen, wie sie die Welt entdeckt. Sie lebt mit 3 Geschwistern, 2 Kaninchen und einem Hund. In ihrem Garten tummeln sich auch Katzen aus der Nachbarschaft. Noa ist auf eine Weise eine geheimnisvolle kleine Frau. Sie ist offen für alles, was um sie herum geschieht. Sie schaut einen unergründlich an, spricht nicht viel. Aber sie ruft meinen Namen und winkt mir immer, wenn sie mich sieht.

Oft beobachte ich, wie sie in ihrem Garten herumgeht, ihre Puppe ausführt, neben dem Hund herläuft und ihm die Hand auf den Rücken legt. So sind die Grössenverhältnisse. Ähnlich wie ein Hüterbub, der seine Kuh begleitet. Sie schaut in den Himmel, auf die Erde, auf Pflanzen, Käfer, Vögel und bemerkt immer, wenn sich in ihrer Nähe etwas bewegt.

Und das in Zürich. Auswärtige wundern sich, wenn sie hierher kommen, dass dieser Boden mit so viel Grün, so vielen Bäumen und Sträuchern, noch zur Stadt gehört.

Diese Idylle verdanken wir dem Sozialarchitekten Hans Bernoulli, der in den 20er-Jahren innerhalb von 2 Tramstationen 98 Reihenhäuser baute. Jedes Jahr ziehen zahlreiche Gruppen von Architekturstudenten durch unsere Gartenwege, um diese berühmte und immer noch wohnliche Siedlung, die „Bernoulli-Häuser“, kennen zu lernen.

Bernoulli entwarf kleine Häuser, die sich auch der kleine Mann leisten konnte. In einem Aufsatz für die Zeitschrift „Das Werk“ schrieb er 1924: „Ich habe immer wieder die norddeutsche Ecke aufgesucht, in die sich vor der Springflut der Miethäuser das mittelalterliche Kleinhaus zurückgezogen hatte. Ich habe mich in Belgien herumgetrieben, in den beschaulichen französischen Provinzstädtchen; in Holland habe ich mir die sauberen Puppenhäuser besehen, und vier-, fünfmal bin ich auch nach England hinübergefahren, jedesmal von neuem erstaunt, dass das grossmächtige London aus den allerwinzigsten Häuschen besteht.“

Von diesen Reisen und Eindrücken profitieren wir hier alle. Bernoulli hat uns eine Siedlung mit menschlichen Massen geschaffen, mit Freiräumen für Kinder und Erwachsene. Wir Bewohner und Bewohnerinnen sind uns nahe, haben aber doch unsere eigene Haustür, unseren eigenen kleinen Garten. Und diese Gärten drücken unsere Individualität aus.

Hier finden Kinder, wenn sie laufen gelernt haben, ihren geschützten Raum. Zuerst ist es das verriegelte Gartentor, das ihn begrenzt. Später wird er geöffnet. Das Kind kann weiter auslaufen, zu Nachbarskindern hinüberhuschen und lernt nach und nach, wo die Gefahren sind.

Ganz anders der Lebensraum des Vogels aus Shanghai, den ich nicht vergessen kann. Im Frühjahr 2003 sah ich im hiesigen Völkerkundemuseum in der Ausstellung „In den Strassen von Shanghai, Alltagskultur der Chinesen 1910−1930“ eine Fotografie eines alten Mannes, der seinen Vogel im Käfig ins Freie trägt, um ihm frische Luft zu gönnen.

Das Bild verlor keinen Gedanken an die harte Domestizierung. Kein Gedanke, was ein Gitter ist. Das Bild will ausdrücken, wie gut es der Herr mit ihm meint. Der Vogel ist sein Gefährte und muss ihn unterhalten. Vielleicht lebt der Mann allein. Er wird ihm Zuwendung schenken, aber keine Freiheit, ein Vogel zu sein.

Dieses Bild ist ein Gegenstück zum Bernoullihaus. Es trifft aber auf viele Situationen zu, die auch wir Menschen so erleben. Das Gitter unserer Kultur, in der wir aufwachsen, das Gitter von Schule und Arbeitsplatz, für etliche Menschen auch das Gitter der Verwandtschaft, Familie, Ehe und auch der Religion.

Auch ich bejahe Ordnungen und Grenzen. Aber sie müssen Wachstum ermöglichen, also flexibel sein. Sie sollen eine Zeit lang Schutz bieten, wie ihn Noa erfährt. An diesen Grenzen müssen aber Tore zu finden sein, die den Durchgang ermöglichen. Zur rechten Zeit.

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