Hameln in höchster Potenz: Rattenfänger von London
Autor: Emil Baschnonga
Heute nennen sich die Rattenfänger “pest control technicians“. Ratten sind seit eh und je in London der Feind Nummer 1, gefolgt von Küchenschaben. Das begann mit den schwarzen Ratten, die anno 1665 die Pest verbreiteten. Die schwarzen Ratten wurden von den braunen (rattus norvegicus) verdrängt. Es soll ihrer 60 Millionen in England geben. Jede Stunde würden in London 4000 Ratten geboren, heisst es. Wer hat sie gezählt? Anders ausgedrückt: Wir sind immer bloss wenige Schritte von einer Ratte entfernt. Doch die Ratten sind scheu, und wir sehen sie selten.
Warte ich zum Beispiel in „Earls Court“ auf die „District Line“, sehe ich sie zwischen den Geleisen hin und her huschen. Sie werden fortlaufend mit Speiseresten gefüttert. Viel Abfall von McDonald’s, Sandwich-Überbleibsel und Mars-Bar-Folien enden dort, achtlos von den Leuten weggeworfen. Die Abfallkübel sind meistens überfüllt. Ein Luftzug weht immer wieder Papierfetzen mit Speiseresten den Ratten förmlich vor die Nase.
London ist das Rattenparadies. Rund 1500 Rattenfänger verdanken diesen Nagetieren ihren krisensicheren Lebensunterhalt. Sie verdienen zwischen £ 17 000 und £ 21 000 pro Jahr. Ein qualifizierter Rattenfänger hat etwa in der Warwick University die Prüfung, Teil 1 der „British Pest Control Association“, bestanden oder die entsprechende Qualifikation beim Arbeitgeber, wie etwa „Beaver House Services“, erworben. Er kennt die Lebensgewohnheiten der Ratten und weiss, wo er das Rattengift Warfarin streuen muss. Es gehört natürlich zu seinen Pflichten, die toten Ratten einzusammeln.
In der sauberen Schweiz leben wohl die Ratten wie arme Kirchenmäuse. In London hingegen werden spätabends die Speisereste der Restaurants in schwarzen Kehrichtsäcken schlicht und einfach auf dem Trottoir gestapelt. Die Ratten haben einen Festschmaus, ehe der Abfall viele Stunden später eingesammelt wird.
Einen Stock tiefer gedeihen die so genannten „sewer rats“ in der überalterten Kanalisation aus der viktorianischen Zeit. Von dort aus verschaffen sie sich durch Backsteinritzen Zugang zu den Häusern. Die Bewohner alarmieren den Rattenfänger. Dieser muss zuerst feststellen, ob es Ratten oder Mäuse sind, die den Schrecken ausgelöst haben.
Im Winter beliebte meine Frau grosszügig Brot oder Vogelfutter für unsere gefiederten Freunde zu streuen. Bald stellte ich fest, dass die Mäuse mithielten. Jetzt wird das Futter auf abgesicherte Gestelle gestreut. Die Vögel haben mehr davon, und die Mäuse ziehen um.
Nun gibt es Erwachsene und viele Kinder, die sich Ratten als Haustierchen halten – auch die Enkelin eines Rattenfängers gehört zu ihnen. Er darf sie nicht anfassen und gibt selbst zu, dass er nicht wisse, was er ihr sonst antäte. Was es nicht alles gibt – siehe www.rattenwelt.de.
Mir sind die Ratten in der Literatur am liebsten: „Der Rattenfänger von Hameln.“
Hinweis auf weitere Blogs von Baschnonga Emil
Mai-Aphorismen
April-Aphorismen
Der Träumer
Der vermeintliche Obdachlose
März-Aphorismen
Februar-Aphorismen
Januar-Aphorismen
Dezember-Aphorismen
November-Aphorismen
Oktober-Aphorismen
September-Aphorismen
Die verlorene Handtasche
August-Aphorismen
Juni-Aphorismen