Textatelier
BLOG vom: 20.08.2015

Das Lesen und das Gehirn

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


„Wir sind auf absurde Weise an das Wunder geschriebener Zeichen gewöhnt, denen die Fähigkeit innewohnt, unsterbliche Vorstellungen zu beherbergen, Gedankenverwicklungen, neue Welten mit lebendigen Menschen, welche sprechen, weinen, lachen. Und wenn wir eines Tages, jeder von uns, aufwachten und fänden uns allesamt völlig des Lebens unkundig?“ Vladimir Nabokow

In dem Buch von Stanislas DehaeneLesen – Die grösste Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert“ („Les Neurones de la lecture“ 2007) wird ein Rentner beschrieben, der an einem Oktobermorgen 1887 plötzlich verblüfft feststellte, dass er kein einziges Wort mehr lesen konnte. Er litt unter „reiner Wortblindheit“, aufgetreten nach einem Infarkt der hinteren linken Hirnaterie. Dabei konnte der Patient problemlos Gegenstände und Gesichter erkennen, sogar Gemälde beschreiben und sich in der Gegend orientieren. Das entdeckte der französische Neurologe Joseph-Jules Déjerine 1892.

Inzwischen ist die Erforschung unseres Gehirns weiter fortgeschritten. Es wurde erkannt, dass die linke Schläfenregion des Hinterhauptes die visuelle Form der Wörter erkennt und auf viele Bereiche der ganzen linken Hirnhälfte verteilt, „die in unterschiedlichem Ausmass in die Repräsentation der Bedeutung, der Laute und der Aussprache der Wörter einbezogen sind.- Lesen zu lernen besteht also darin, die Sehareale mit den Spracharealen zu verknüpfen.“ (Abb. 2.1 im Buch)

Lesen Sie einmal den folgenden Text. Sie stellen schnell fest, dass bei der 1. Version die Vokale weggelassen sind und bei der 2. die Buchstaben vertauscht sind, die nicht am Anfang oder am Ende des Wortes stehen.

„Vle Mnschn mrkn ncht, ws m s hrm psssrt, wnn s n pckends Bch lsn. S vrgssn m whrsten Snn ds Wrts, w s snd. D Wlt,d n dsm Bch rzgt wrd, st d Wlt, n dr s sch n dsm Mmnt bfndn. D Gschhnss fndn n hrm Kpf sttt nd rzgn fr s Wrklchkt.

Velie Msncheen mkreen nchit, was um sie hurem psairest, wnen sie ein pdnecaeks Bcuh lseen. Sie vseseregn im wtrhsean Snine des Wtreos, wo sie snid. Die Wlet, die in deiesm Bcuh euegzrt wrid, ist die Wlet, in der sie scih in deeism Mmneot bfnieedn. Die Ghhsnicsesee fdenidn in iehrm Kpof sattt und egezerun für sie Wcikhiekrlet.“

Beim Erkennen und Lesen des Textes sind verschiedene Teile des Gehirns involviert: Die vordere, mittlere, hintere und untere Schläfenregion, die innere Frontalregion und der Gyrus angularis und occipitotempolaris lateralis.

Was muss beim Lesen alles vom Gehirn „erkannt“ werden: die Erschliessung von Aussprache und Lautbindung, des Sinnes, die visuelle Form der Wörter über visuelle Eingangssignale und die absteigende Aufmerksamkeit und serielles Lesen. Das geschieht in den genannten unterschiedlichen Regionen des Gehirns. Fällt eine Region aus, betrifft das immer nur einen Teil dieser Fähigkeiten.

Wenn Sie den Text jeweils sofort lesen konnten, funktionieren die Areale bei Ihnen hervorragend. Wenn nicht, wäre es vielleicht angebracht, in Ihrem Gehirn die Regionen untersuchen zu lassen, die die Erschliessung des Sinnes betreffen. Das ist vor allem die untere und die linke Schläfenhirnregion. Die linke hat die kulturellen Konventionen des Lesens verinnerlicht:

„Präsentiert man zwei Mal das gleiche Wort, verringert sie die Aktivität. Das bedeutet, sie erkennt das Wort auch dann, wenn es statt in Kleinbuchstaben in Grossbuchstaben erscheint. Die rechte Schläfenregion dagegen scheint nur auf die visuelle Ähnlichkeit der Buchstaben zu reagieren, nicht aber auf kulturelle Konventionen.“ (Abb. 2.11)

Hatten Sie Probleme mit dem Text, so hat das nichts mit Dummheit zu tun, möglicherweise merken Sie beim täglichen Lesen gar nichts davon. Die Erforschung des Gehirns ist längst nicht abgeschlossen. So ist es auch möglich, dass bei Schädigungen bestimmter Hirnregionen deren Aufgaben teilweise oder ganz von anderen übernommen werden könnten.

„Jeder Sektor der Grosshirnrinde reagiert vorzugsweise auf eine bestimmte Objektkategorie. Die Zuordnung dieser Reaktionen von Häusern bis hin zu Gesichtern, Wörtern und Gegenständen ist bei allen Menschen gleich. Somit aktiviert das Lesen ein reproduzierbares seitliches Hinterhauptareal, das stets zwischen den Reaktionen auf Gesichter und den Reaktionen auf Objekte liegt. (nach Ishai et al., 2000, und Puce et al., 1996)“ (Abbildung 2.5)

Das Gehirn hat bei der obigen Textbearbeitung eine zusätzliche Arbeit zu leisten. Deshalb ist es, um in den Genuss des Geschriebenen zu kommen, einfacher, die gewohnte Darstellungsweise zu konsumieren:

„Viele Menschen merken nicht, was um sie herum passiert, wenn sie ein packendes Buch lesen. Sie vergessen im wahrsten Sinne des Wortes, wo sie sind. Die Welt, die in diesem Buch erzeugt wird, ist die Welt, in der sie sich in diesem Moment befinden. Die Geschehnisse finden in ihrem Kopf statt und erzeugen für sie Wirklichkeit.“

Es ist erstaunlich, wie wenig es uns bewusst wird, was das Gehirn leistet, während wir lesen!

Und nicht zu vergessen: das geschieht ausschliesslich bei Ihnen, es sei denn Sie lesen laut oder gemeinsam. Dabei sind dann wiederum weitere Gehirnfunktionen in Aktion.

Sollte ich Sie mit diesem Blog ein wenig aus Ihrem täglichen Dasein gerissen und fasziniert haben, würde mich das freuen!

 
Quellen:

Dehaene, Stanislaus, Lesen – Die grösste Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, btb Taschenbuchausgabe Oktober 2012, München.

http://www.akrue.privat.t-online.de/dumm61.htm

 
 

 


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