Die „Willkommenskultur“, die Freuden und die Aussichten
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland
Die Fremden strömen ins Land. Die meisten von ihnen sind geflüchtet, haben ihr Eigentum, ihren Wohnort, ihr Land verlassen. Der Krieg, die Terrororganisationen, die Gewalt, die tägliche Lebensgefahr haben ihr Leben ungewiss gemacht, nie wussten sie weniger als jetzt, ob sie am kommenden Abend noch leben würden, ob sie erschossen, gefoltert, vergewaltigt, geschlagen, erschlagen würden. Sie wählten die Flucht, aus einer ungewissen Zukunft in eine ungewisse Zukunft, mit der Hoffnung, wenigstens ihr Leben retten zu können, und das Leben ihrer Kinder. Sie machten sich keine Gedanken darüber, ob sie überhaupt willkommen sind, ob ein fremdes Land sie aufnimmt, ihnen zu essen und zu trinken, ihnen ein Dach über dem Kopf gewährt. Sie waren voller Hoffnung, sie vertrauten den Schleppern, die Gutes versprachen. So kratzten sie ihr letztes Geld zusammen, verkauften, wenn es noch möglich war, ihre Habe, gaben es denen, die sie ins gelobte Land leiten wollten, vertrauten ihnen, hofften auf einen guten Ausgang.
Hatte man ihnen doch gesagt, in Deutschland habe die Frau an der Spitze des Landes, dieser „Engel Angela“ gesagt, sie könnten kommen, man wolle sie aufnehmen.
Nicht alle kamen an. Sie ertranken in den Fluten des Meeres, weil die Boote übervoll und nicht seetüchtig waren. Ihre Leichen wurden wieder dort angespült, woher sie kamen. Andere erstickten in Lastwagen, in die sie gepfercht worden waren mit dem Versprechen, bald würden sie dort sein, im Land, in dem Milch und Honig fliesst, in dem es sich zu leben lohne und in dem es sich leben lasse. Von vielen Schicksalen werden wir erst in der Zukunft erfahren, wenn man die Leichen findet, eingescharrt irgendwo am Wegesrand, angeschwemmt von den Wellen des Meeres.
Aber viele schafften es doch, überwanden Grenzen, wehrten sich dagegen, in ein Lager interniert zu werden, liefen Kilometer um Kilometer, gaben nicht auf, zeigten ihren festen Willen, in dieses Land, nach Deutschland, gelangen zu wollen. Zuerst waren es einige hundert Menschen, doch dann wurden es Tausende. Völker aus den Kriegsgebieten wanderten in einer grossen Völkerwanderung aus, im Herzen die Sehnsucht nach Frieden und Sicherheit und Zuversicht, irgendwie wird es schon gehen.
Waren da nicht braune Banden, die die für die Fremden vorgesehenen Unterkünfte anzündeten, die gegen sie waren, die „Deutschland für Deutsche“ grölten? Sie sind in der Minderheit, kämpfen einen Kampf, mit schändlichen Mitteln, der für das Ansehen des Landes schädlich ist. Sie wollen nicht einsehen, dass die Fremden Menschen sind mit Wünschen und Sehnsüchten, wie wir alle sie haben. Die Ideologie eines reinen Volkstums vernagelt ihr Gehirn, lässt sie nicht erkennen, dass ihr Widerstand zwecklos ist.
Denn Deutschland war und ist schon viele Jahre lang ein Einwanderungsland, auch wenn es die Politiker nicht öffentlich zugaben. Schon lange wird nicht nur deutsch auf den Strassen gesprochen, arabisch, spanisch, türkisch, albanisch, und noch viele Sprachen mehr, die kaum ein Deutscher den Herkunftsländern zuordnen kann, sind zu hören.
Diese Jahrzehnte, die die deutsche Urbevölkerung schon zusammen mit den Ausländern oder Tür an Tür mit ihnen lebt, haben die Urangst beruhigt, die Fremden würden nur das Schlechte bringen. Viele Deutsche haben erkannt, dass es sich mit ihnen gut leben lässt, dass sie gute Verkäufer, Kellner, Ärzte, Krankenschwestern, Abfallbeseitiger, Friseure, Spargelstecher und Erntehelfer sind, dass man sie braucht und ohne sie nicht mehr auskäme.
Und die Politiker haben der Bevölkerung eingeredet, dass die Deutschen zu wenig Nachwuchs zeugen, dass auf Dauer der Lebensstandard und die Renten gefährdet seien.
Sind die Deutschen auf einem Lebensstandard angekommen, der ihnen Schuldgefühle macht, beim Blick auf die grosse Armut, unter der der Grossteil der Weltbevölkerung lebt? Leben sie mit einem unguten Gefühl in ihrem Wohlstand?
Es scheint so! Wie ist es sonst zu erklären, dass die Fremden, die ins Land strömen, applaudierend begrüsst werden, dass die Hilfsbereitschaft, ihnen Kleidung und Nahrung zu geben, schier überschwappt?
Die Deutschen gehen auf die Bahnhöfe, auf denen die Flüchtlinge ankommen, wollen erleben, dass dort Menschen kommen, denen man helfen kann, die geflohen sind, die Leid erfahren haben. Fühlen sie irgendwie, dass sie vielleicht ein ganz klein wenig auch verantwortlich dafür sind, was ihnen, den Fremden, widerfährt? Meinen sie zu wissen, dass sie seit Jahrzehnten auf Kosten der in Armut lebenden Bevölkerung existieren? Wissen sie, dass Deutschland nicht zuletzt durch seine Waffenverkäufe und durch ihre Exporte die Herkunftsländer der Flüchtlinge schon seit Jahren destabilisiert?
Was macht sie zu Helfern? Weltbürgertum? Menschenliebe? Barmherzigkeit? Es gibt ein schönes Gefühl zu wissen, dass das kleine Flüchtlingskind mit dem Knuddeltier im Arm ruhig einschläft. Dass es und seine Eltern satt sind und der Gefahr entronnen. Dass man helfen kann, einfach nur helfen. Die Hilfe tut nicht weh, macht aber froh und bringt ein Mass an Genugtuung.
Peter Handke schreibt in seinem Buch „Der Grosse Fall“ über die Freuden der letzten paar Jahre:
„Und das rührte daher, dass meine Freude, indem sie sich ausbreiten wollte über mich hinaus, in einem bestimmten Moment unweigerlich an das Unglück der anderen stiess, an mein Bewusstsein vom Unglück, vom Elend und von der Verlassenheit der anderen. Es nützte nichts, mit dem Zeitunglesen aufzuhören. Es war nicht allein das Bewusstsein von den Opfern der Tsunamis, der Hungersnöte, der Kriege in den zweiten bis unendlichen Welten.“
„..das Unglück wurde darin allgegenwärtig, aber es erschien als Teil dieser Freude, und es durchwirkte sie, statt sie zu durchkreuzen. Es war eine Freude durchwirkt von Schmerz, in welcher er dahinpilgerte, und er spürte in ihr, mit ihr und durch sie keinerlei Unrechtsbewusstsein und schlechtes Gewissen: nicht seine persönliche Freude war es, die ihn trug, nichts hatte sie zu schaffen mit ihm allein, sie überstieg ihn.“
Nichts wird mehr sein wie früher! Werden sich die Deutschen wie Weltbürger fühlen, auch dann, wenn ihre Art zu leben eingeschränkt werden sollte? Die Erinnerung an die Freude, den Bedürftigen geholfen zu haben, bleibt. Aber wird das ausreichen?
Deutschland wird die Neubürger, wenn sie einmal eine Aufenthaltsgenehmigung haben, nicht wieder dazu bewegen, zurück zu gehen, in ihrer Heimat neu anzufangen, wenn die Lage sich beruhigt hat. Denn sie haben festgestellt, dass es sich hier in Westeuropa besser leben lässt als zu Hause, trotz der Fremde, trotz der ungewohnten Kälte im Winter, trotz der anderen Kultur. Und sie werden Deutschland umgestalten, langsam zwar, aber stetig. Wird Deutschland immer „interkultureller“?
„Anders gesagt, in einer kulturellen Überschneidungssituation, beispielsweise in einem Gespräch, treffen ‚Eigenkultur’ und ‚Fremdkultur’ aufeinander. Es entsteht dann das Interkulturelle, mithin das Zwischenkulturelle. Unterschiedliche Kulturen sind also nicht so stark voneinander getrennt, dass ein Austausch unmöglich wäre. Es gibt grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen.“ (wikipedia)
„Unter ‚Multikulturalismus’ verstehe ich eine Theorie, nach der völlig unterschiedliche Kulturen in ein und demselben Gemeinwesen friedlich zusammen leben können, ohne dass sie über eine gemeinsame und verbindliche ethische und politische Grundlage verfügen. Diese Position halte ich für hochgradig naiv und fatal. Und in der gemeinsamen ethischen Basis, die von uns nicht zur Disposition gestellt werden darf, sehe ich die Menschenrechte.“ (Prof. Flaig)
Wir in Westeuropa werden mit diesen Konflikten leben müssen. Wie gehen wir alle mit den Spannungen um?
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